Krötenarchiv
2009
Kröte des Monats Dezember 2009

Wiener Dom-Verlag 2009
26 S., € 14,90
Heinz Janisch / Linda Wolfsgruber: Wie war das am Anfang
Wie weit zurück kann der Mensch von sich denken, woran kann er sich erinnern? Und gibt es auch ein Davor? Eine Zeit, als der Mensch nur ein Gedanke war? Und wer hat diesen Gedanken von mir als Menschen gedacht? Das Ich dieses ganz reduziert gearbeiteten Bilderbuches stellt diese Frage nach sich selbst als Frage nach dem Vorstellungswillen Gottes: "Wie war das am Anfang, als Gott mich gedacht hat?" Es entspinnt sich die Vorstellung eines göttlichen Gedankenspiels, das illustratorisch als Spiel aus dem Nichts heraus komponiert ist. Denn wie schon Bart Moeyaert und Wolf Erlbruch in ihrem Schöpfungsbuch „Am Anfang" festgehalten haben: "Am Anfang war das Nichts. Das kannst Du dir schwer vorstellen. Du musst alles, was es jetzt gibt, weglassen." In Linda Wolfsgrubers doppelseitigen, farblich stark zurückgenommenen Illustrationen, zeigt sich dieses Nichts weniger als Leere, denn als entleerte Welt. Mit Magie und Zärtlichkeit werden jene Vorstellungen, die Gott sich vom Ich gemacht haben könnte in Szenerien gesetzt, die ihrerseits sehr vorsichtig Bild-Vorstellungen erproben. Landschaften und Körper werden aus scheinbar hauchdünnem Papier und fragilen Konturen geformt, Bewegungen zaghaft erprobt; selbst der Tiger im Sprung irritiert dabei nicht die Schnecke mit einem zerbrechlichen Haus. Schichten der Vorstellungskraft werden in den durchscheinenden, linierten, gerissenen, in ihrer Übermalung noch brüchig erscheinenden Papieren aufeinander, aneinander und gegeneinander gesetzt; darauf zeichnen sich "archaische Figuren" ab, wie Jens Thiele sie in seiner Rezension des Buches in der Kinder- und Jugendbuchbeilage der ZEIT benennt: Immer neu wird also im göttlichen Gedankenspiel auf die Frühzeitlichkeit der Erde zurückgegangen – immer neu wird der Mensch aus dem Anfang schlechthin gedacht. Scheinbar unbelastet von der Biographie der Erde und der Biographie seiner selbst. "Wollte er, dass ich ein Vogel werde, hoch in der Luft? Ein Hund an der Leine? Ein Apfel, der den Hügel hinabrollt?" Das Gedankenspiel dynamisiert sich – bis Gott letztlich spricht und alles nicht nur gut, sondern mehr noch: spannend wird. Mit einem neuen Menschen – in diesem Fall Lilli.
Heidi Lexe
Kröte des Monats November 2009
Aus dem Engl. v.
Sabine Ludwig.
rororo 2009
160 S., € 13,30
Holly-Jane Rahlens: Mauerblümchen
Das Berliner U-Bahn-Netz, das wissen wir spätestens seit Andreas Steinhöfels "Der mechanische Prinz", ist ein durchaus geeignetes Setting für einen Roman. Doch während bei Steinhöfel die Fahrt mit der U-Bahn als Übergang in eine phantastische Welt fungierte, lässt Holly-Jane Rahlens, die "gelernte Berlinerin aus Brooklyn" (FAZ), ihren neuen Roman fast ausschließlich in Berliner S- und U-Bahnen spielen. Die Ich-Erzählerin Molly Beth Lenzfeld ist ein zurückhaltendes, schüchternes Mädchen, die am Tod ihrer Mutter leidet – nachdem sie mit ihrem Vater, einem theoretischen Chemiker, während dessen Gastprofessur ein Jahr in Berlin-Charlottenburg gelebt hat, steht ihre ersehnte Rückkehr nach New York bevor. Als kurz davor plötzlich die Mauer geöffnet wird (Molly verschläft dieses denkwürdige historische Ereignis), bleibt für sie noch eine letzte Sache in Berlin zu tun: Das Geburtshaus ihrer Mutter in Ostberlin zu besuchen. Doch in der S 3 lernt sie Mick kennen, den sie mit seiner Lederjacke zunächst für einen Italiener hält – und diese Begegnung, die zunächst etwas unglücklich mit dem Absturz von tausenden Legosteinen beginnt, die Mick aus rätselhaften Gründen in einem Karton mit sich führt, entwickelt sich innerhalb kürzester Zeit zu einer wunderbaren Liebesgeschichte, in der wie en passant allerlei Unterschiede zwischen dem Leben in Ost- und Westberlin zur Sprache kommen: Wie Ketwurst schmeckt, was LPG bedeutet und was genau der Beruf einer Besamungstechnikerin mit sich bringt. Rahlens widersteht der Versuchung, für ihren Wende-Roman eine Konstruktion zu erfinden, warum sich heutige Jugendliche plötzlich mit dem Mauerfall beschäftigen, und lässt ihre Handlung kurzerhand im November 1989 spielen – das verleiht dem Text eine erfrischende Ungekünsteltheit, die sich wohltuend von der Fülle an medialen Auseinandersetzungen anlässlich des 20. Jahrestages des Mauerfalls abhebt. Der Weg der Figuren durch das U- und S-Bahn-Netz kann anhand von Ausschnitten aus dem Plan, die jedem Kapitel vorangestellt sind, nachvollzogen werden. Dennoch kein verkapptes Sachbuch, getarnt als Roman, sondern eine unterhaltsame Geschichte voller Witz und Gefühl – an deren Ende selbst die verkopfte Molly sagen kann: "Aber das ist später. Viel später. Und jetzt ist jetzt".
Kathrin Wexberg
Kröte des Monats Oktober 2009
Jacoby & Stuart 2009
128 S., € 13,40
Rotraut Susanne Berner: Buchtagebuch
Der Herbst ist für Buchmenschen nicht in erster Linie jene Zeit, in der die Blätter von den Bäumen fallen – sondern vor allem jene, in der neue Bücher erscheinen, Buchmessen von Frankfurt bis Wien besucht werden und die neuen Veranstaltungsprogramme der verschiedenen Literaturinstitutionen veröffentlicht werden. Um in dieser Büchermenge nicht den Überblick zu verlieren, gibt es verschiedenste Strategien, vom vollgekritzelten Post-it bis zur professionellen Excel-Tabelle. Eine andere Möglichkeit bietet das Verlagshaus Jacoby & Stuart (gegründet im März 2008 von zwei Buchmenschen, dem Verlegerehepaar Nicola Stuart und Edmund Jacoby), an: Ein so genanntes Buchtagebuch. Linierte Seiten, gruppiert nach unterschiedlichen Themen, bieten viel Platz für buchspezifische Notizen: Wem man welches Buch geschenkt hat, welche literarischen Geschenkideen man nicht vergessen möchte, wer sich welches Buch ausgeborgt hat, welche Bücher man gelesen hat oder gerne lesen würde und nicht zuletzt die Adressen der Lieblingsbuchhandlungen. Zum visuellen Vergnügen wird das rote Bändchen durch Rotraut Susanne Berners Illustrationen, die auf den Zwischenblättern ungewöhnliche Lesesituationen in gewohnt witziger Art darstellt, aber auch den noch auszufüllenden Seiten durch liebevolle Vignetten einen ganz besonderen Reiz verleiht. Komplettiert wird das bibliophile Vergnügen durch ein "Kleines Buchlexikon", das mit Fachbegriffen wie Frontispiz oder Ligaturen vertraut macht.
Kathrin Wexberg
Kröte des Monats September 2009
Beltz & Gelberg 2009
176 S., € 10,20
Labor Ateliergemeinschaft: Kinder Künstler Kritzelbuch. Anmalen, Weitermalen, Selbermalen
Innovativ, also neuartig, kreativ, originell. In vielfacher Hinsicht passt diese Bezeichnung auf das erste Gemeinschaftswerk der Ateliergemeinschaft LABOR. Dazu schlossen sich in Frankfurt neun Künstler*innen zusammen, die sich in den Bereichen Illustration, Grafik und Text betätigen. Und so ist das „Kinder Künstler Kritzelbuch“ alles andere als ein einheitlich, linear konstruiertes Malbuch für Kinder. In den 86 doppelseitigen Beiträgen von Künstler*innen wie Jörg Mühle, Anke Kuhl oder Philip Waechter spiegelt sich der jeweilige Mal- und Zeichenstil deutlich wider und auch die gebotenen Anregungen zum „Anmalen Weitermalen Selbermalen“ unterscheiden sich je nach Zugangsweise deutlich voneinander, so dass die eigene Kreativität mit jeder umgeblätterten Seite vor eine neue Aufgabe gestellt wird.
So umreißt Natascha Vlahović mit schwarzer Ölkreide eine wortwörtlich wüste, leere Landschaft mit einer Horizontlinie, wenigen Bäumen und einem angedeuteten Buckelrind. Darüber steht: „Nach dem Regen blüht die Wüste …“. Hier wird stellvertretend für das gesamte Buch die Leere der Landschaft und Bildfläche zum kreativen Prinzip gemacht: Der Freiraum soll ausgehend vom, den Malanlass gebenden Einleitungssatz mit eigenen Ideen gestalterisch gefüllt werden. Auf diese Weise verwandelt sich die Wüste durch den eigenen künstlerischen Einsatz in eine blühende Landschaft – wie genau diese aussehen soll, bestimmen allein Phantasie und Gestaltungswille. Neben der Erschaffung groß angelegter, narrativer Szenerien wie der versunkenen Stadt Atlantis, der Bevölkerung eines Piratenschiffs durch eine Mannschaft oder der Ausstaffierung des Querschnittplans einer unterirdischen Wohnung mit Inventar und Bewohner*innen werden zahlreiche weitere Ansatzmöglichkeiten geboten, die eigenen Mal- und Zeichenkünste zum Einsatz zu bringen: Mal geht es darum, ein Zimmer mit neuen Tapeten- und Stoffmustern auszustatten oder „das Treffen der wild gemusterten Fische“ aus seiner Eintönigkeit zu erlösen, mal sollen einzelne konkrete Elemente in unterschiedlichen Variationen in den Bildern ergänzt werden, wie die namensgebende Gesichtsbehaarung der Mitglieder des Clubs der Schnurrbarträger oder die passenden Pflanzen zu den Fotografien fünf leerer Blumentöpfe. Fotoelemente bilden gemeinsam mit den ausschließlich in Schwarz-weiß gehaltenen Zeichnungen die Grundlage, von der aus der eigene illustratorische Erfindungsreichtum zum Einsatz gebracht wird.
Neben den Vorgaben zur Erfindung abenteuerlicher Szenerien und eigener Geschichten wird auch Anlass zur Selbstreflexion der eigenen (Künstler-)Persönlichkeit geboten. So wird auf den ersten beiden Doppelseiten in Form der zeichnerischen Variante eines Freunde-Buches nach dem eigenen Aussehen, der Vision für ein zukünftiges Ich, der Lieblingsfarbe, dem Lieblingstier, -buch oder dem Fingerabdruck gefragt. Diese Malanlässe setzen sich im weiteren Verlauf des Buches unter anderem mit Fragen nach dem liebsten Kuscheltier oder Butterbrotbelag fort.
Die große ästhetische Vielfalt und die betont unverbindlich gehaltenen Malanlässe machen dieses aus 176 Seiten Künstlerpapier bestehende Buch nicht nur zu einem Gewinn für Kinder. Das „Kinder Künstler Kritzelbuch“ richtet sich mit seinem altersübergreifenden Bildwitz und den durch nur wenige Linien evozierten Geschichten an Künstler*innen aller Altersstufen.
Auf der Homepage des Verlags Beltz & Gelberg finden sich vier Beispieldoppelseiten zum Herunterladen und Probemalen.
Lukas Bärwald
Kröte des Monats August 2009
Aus dem Niederländ.
v. Verena Kiefer.
Dressler 2009
240 S., € 14,30
Truus Matti: Bitte umsteigen!
In einem verlassenen und heruntergekommenen Hotel, bewohnt nur von einer dicken weißen Ratte und einem Fuchs, findet ein Mädchen Unterschlupf während eines Gewitters. Es geht ihr ein bisschen wie Alice im Wunderland: Die Gesetzmäßigkeiten dieser in sich geschlossenen Welt sind für sie völlig unnachvollziehbar, sie hat keine Ahnung, woher sie gekommen ist, wie sie heißt und warum es sie an diesen rätselhaften Ort verschlagen hat. Zwischen den einzelnen Abschnitten dieser phantastischen Welt ist in einer anderen Schriftart eine Geschichte aus der real-fiktionalen Welt zu lesen: Die Ich-Erzählerin muss nicht nur mit dem Unfalltod ihres Vaters, eines Orchestermusikers, der viel unterwegs war, zurecht kommen, schlimmer noch: Weil sie ihm aus Wut über seine Abwesenheit an ihrem Geburtstag einen bösen Brief geschrieben hat, fühlt sie sich schuldig an seinem Tod. In ihren Erinnerungen an ihn wird deutlich, dass Geschichten erzählen eine wichtige Rolle in ihrer Beziehung gespielt hat: Oft hat ihr der Vater von seinen Reisen aus Geschichten in Briefen geschrieben. Parallel dazu findet das Mädchen im Hotel der phantastischen Welt kleine Papierschnipsel, deren Sinn sich ihr zunächst nicht erschließt. Nach und nach gehen die beiden Welten ineinander über: Als es dem Mädchen gelungen ist, das Rätsel um ihren Namen zu lösen und die Papierschnipsel zusammen zu fügen, wird klar, dass wir uns in genau jener Geschichte befinden, die der Vater in seinen letzten Briefen als Geschenk für die Tochter geschrieben hat. Diese wiederum stellt fest, dass ihr der Vater noch einen allerletzten Brief geschrieben hat, den er nicht mehr zur Post bringen konnte: Darin stellt er klar, dass er ihre Wut gut verstehen kann und ihr nicht böse war, als er gestorben ist – gleichzeitig legt er das weitere Schicksal der Geschichte in ihre Hände:
"Es ist deine Geschichte. Ich habe nur den Anfang gemacht. Darum schicke ich sie dir mit zurück. Mach damit, was du willst. Verändere, was dir nicht gefällt. Reiße sie in tausend Stücke und fang von vorne an. Oder wirf sie weg, zur Not. Was daraus wird, musst du selbst entscheiden. […] Und heimlich, ohne dass du es weißt, hoffe ich, dass die Geschichte doch noch irgendwann eine Fortsetzung bekommt." (S.230).
So verwirrend der Inhalt klingen mag, so schlüssig fügen sich im Lektüreprozess die einzelnen Puzzleteile dieser verschachtelten Geschichte ineinander, so stimmig entspricht die detektivische Arbeit des Mädchens im Hotel dem Trauerprozess, dem sich die Ich-Erzählerin stellen muss. Auch wenn dieses Buch seinen Leser*innen einiges an Literaturkompetenz abverlangt – die Genugtuung nach dem Lösen aller Rätsel ist es allemal wert.
Kathrin Wexberg

Ravensburger 2009
224 S., € 15,40
Marlene Röder: Zebraland
Zebraland ist abgebrannt: Eine Jugendliche ist tot und vier weitere stehen vor den Scherben ihrer Illusionen. Ein Autounfall, unterlassene Hilfeleistung, Fahrerflucht, Vertuschung. Der im Hintergrund laufende Soundtrack dazu stammt von Bob Marley, denn: Babylon ist überall. "Wir sind darin gefangen und es saugt uns aus wie ein Vampir."
In ihrem nunmehr zweiten Jugendroman bedient sich Marlene Röder einer erfolgreichen dramaturgischen Grundkonstellation: vier Jugendliche schwören einander zu, über den Unfall, den sie verursacht haben, nie wieder zu sprechen. Anders als in "ich weiß, was du letzten Sommer getan hast", holt die vier Jugendlichen jedoch nicht wortwörtlich der Horror jener Nacht ein, in der sie auf dem Rückweg von einem Musikfestival eine Mopedfahrerin angefahren, für tot gehalten und im Straßengraben haben liegen lassen; vielmehr sehen sich die Vier mit einer höheren Instanz konfrontiert, die sie scheinbar erpresst, in Wahrheit aber Gerechtigkeit fordert.
Immer tiefer geraten Ziggy, Phil, Anouk und Judith ins Zebraland – ein Chiffre, das Marlene Röder für jenen Erkenntnisraum nutzt, in dem sich insbesondere die beiden Ich-Erzähler*innen Ziggy und Judith Orientierung zu schaffen versuchen und doch immer mehr verlieren. Judith, Redakteurin der Schülerzeitung, wird von den Brüdern des beim Unfall getöteten Mädchens gebeten. Licht ins Dunkel jener Nacht zu bringen. Sie, die sich in der investigativen Tradition der Reporter ohne Grenzen sieht, ist nicht nur in ein Verbrechen verstrickt, sondern nimmt auch noch an dessen Vertuschung teil, obwohl sie es doch eigentlich aufklären sollte.
Ziggy hingegen hat vom Unfallort die Handtasche des Mädchens mitgenommen; er findet darin deren Tagebuch und beginnt sich in das Leben des Zebramädchens einzulesen und einzuleben. Am Zebragehege, dem Lieblingsort des toten Mädchens kommt es letztlich auch zum Showdown, wenn der Erpresser von den Jugendlichen verlangt, das Töten eines Lebewesens noch einmal in vollem Bewusstsein nachzuvollziehen und damit ihr Handeln zu sühnen.
Erzählen lässt Marlene Röder abwechselnd Judith und Ziggy – wobei der Roman insgesamt als mündliches Geständnis des Rastamans Ziggy angelegt ist und daher ein wenig fraglich bleibt, wie sich die Ich-Erzählerin Judith in den mündlich formulierten Rückblick von Ziggy schleichen konnte. Die deutlich an das (dort sehr gelungene) Erzählkonzept von Marlene Röders erstem Roman „Im Fluss“ angelehnte Form scheint durch die Abweichung der narrativen Instanz der Binnenhandlung von jener der Rahmenhandlung nicht nur unschlüssig, sondern auch deutlich überlastet.
Auch dann, wenn Judith für den Leser/die Leserin sicher die spannendste der vier Hauptfiguren bleibt und mit ihrem alttestamentarischen Namen mitten hinein ins zentrale Erzählmotiv verweist. Der Erpresser nämlich nennt sich Mose und fordert von den Jugendlichen Gerechtigkeit im Sinne der alttestamentarischen Gebote: Du sollst nicht töten. Du sollst nicht lügen. "Mose is watching you" heißt es für Ziggy, Phil, Anouk und Judith. Doch wie herausfinden aus Zebraland?
Heidi Lexe

Bibliothek der Provinz
2009
32 S., € 12,00
Vera Ferra-Mikura / Renate Habinger / Linda Wolfsgruber: 1, 2, 3 dann reite ich durch den ganzen Himmel. Erzählungen und Gedichte
Die Verbundenheit mit der literarischen Tradition Österreichs wird von Seiten der Wissenschaft häufig als eine der zentralen Charakteristika von Vera Ferra-Mikura genannt. Dass nun in der Bibliothek der Provinz fünf erzählende Gedichte mit Bildern von zwei der renommiertesten österreichischen Illustratorinnen der Gegenwart erschienen, fügt sich nahtlos in dieses Bild ein. Renate Habinger und Linda Wolfsgruber erweitern durch ihre in Grau- und hellen Rottönen gehaltenen Zeichnungen, Fotografien, Drucke und Collagen den Interpretationsrahmen der Texte der 1997 verstorbenen Künstlerin.
"Phantasie mobilisieren, die Welt verbessern, Illusionen erzeugen, Träume realisieren, der menschlichen Gesellschaft einen Spiegel vorhalten." Dies nannte Ferra-Mikura in einem Interview als mögliche Gründe dafür, schriftstellerisch tätig werden zu wollen. Und so bilden das Changieren zwischen Wirklichkeit und Traum sowie das konfliktbehaftete Aufeinandertreffen der ursprünglichen Natur und der im ständigen Wandel begriffenen Kultur des Menschen die inhaltlichen Eckpfeiler, zwischen denen sich Text und Bild bewegen. Der Wunsch, durch das eigene Schaffen Veränderung in der Welt in Gang zu setzen, findet sich in der Themenwahl und Erzählperspektive widergespiegelt: Es geht darin unter anderem um existenzielle Fragen nach dem Beginn des Lebens und der Verbundenheit aller Menschen durch ihre Unvollkommenheit und die daraus resultierenden Ängste, Wünsche und Träume. Das Motiv der ständigen Abhängigkeit, Beeinflussung und Gemeinschaft zieht sich dabei als roter Faden durch die Gedichte und ihre Illustrationen. Ferra-Mikura verwebt zum Beispiel im abschließenden "Elfen, das hab ich gelesen," die Ebenen von Phantasie-, Tier- und Menschenwelt und baut mit besonderer Rücksicht auf die akustische Qualität ihrer Sprache bei den Leser*innen zuerst ein Gefühl der Eintracht und Harmonie auf (zwischen Elfe und Elefant), nur um es umso effektvoller auf inhaltlicher und klanglicher Ebene in der letzten Strophe in sein Gegenteil zu verkehren:
„Wie kann der Mensch es erwerben? [das Elfenbein]
Er lässt die Dickhäuter sterben.
Im Laufe der Zeit hat er unverdrossen
Tausende Bullen abgeschossen.“
Die weichen und harmonischen Laute und speziell Reime der ersten beiden Strophen werden hier durch einen dunklen und scharfen Sprachklang kontrastiert, der Text wird an seinen dramatischen Höhepunkt geführt.
Für die thematische Vermischung von Natur und Kultur wirkt die Wahl der beiden Illustratorinnen mit ihren typischen Stilmerkmalen optimal: Während Renate Habinger Großteile ihrer Bilder aus Pflanzenteilen gestaltet und eine Vielzahl gezeichneter Tiere ihren Bildraum bevölkern lässt – der für sie fast schon zum Markenzeichen gewordene Ziegenbock (unter anderem auf dem Cover der Erzählsammlung „Björn, Laura, Thomas und Kathrin“ oder zuletzt im gemeinsamen Liederbuch mit Gerda Anger-Schmidt und Susanna Heilmayr zu sehen) hat einen weiteren Auftritt –, bringt Linda Wolfsgruber in ihren collagierten Illustrationen immer wieder bearbeitete Papier- und Fotoausschnitte zum Einsatz.
Dieser Lyrikband vereint drei herausragende österreichische Künstlerinnen, deren individuelles Schaffen in einer faszinierenden Symbiose vereint wird. "Alles hat einmal begonnen", lautet der Titel des ersten Gedichts, und die Vielfalt der gebotenen Lektüreanreize scheint beinahe endlos.
Lukas Bärwald
"Rotstift trifft Zauberstift" – seit langem haben die Kontrollstelle der Erzdiözese Wien und die STUBE, so unterschiedlich ihre Aufgabengebiete auf den ersten Blick sein mögen, eine besondere Verbindung. Im Sinne dieser Kooperation haben wir nun eine >>> Buchliste zum Thema Zahlen zusammengestellt.

Carlsen
2009
274 S., € 13,30
Andreas Steinhöfel / Peter Schössow: Rico, Oskar und das Herzgebreche
"Was du den Weisen und Klugen verborgen hast, hast du den Kleinen und Unmündigen geoffenbart" (Mt 11,25) – mit diesem Bibelzitat verwies die Jury des Katholischen Kinderbuchpreises 2009, mit dem "Rico, Oskar und die Tieferschatten"ausgezeichnet wird, auf das christliche Menschenbild, das der Figurengestaltung von Andreas Steinhöfel unausgesprochen innewohnt. Im sehnsüchtig erwarteten Fortsetzungsband "Rico, Oskar und das Herzgebreche" ist es hingegen der tiefbegabte Protagonist Rico selbst, der in einer seiner Notizen auf die Bibel verweist: "TOHUWABOHU: Ein hebräischer Ausdruck aus der Bibel, von ganz am Anfang. Die Erde war wüst und wirr, also total durcheinander. Deshalb beschloss der liebe Gott, da gleich am ersten Tag ein bisschen Ordnung reinzubringen. Man könnte auch wie Kraut und Rüben sagen, aber das Gemüse erfand Gott erst zwei Tage später."
Es ist tatsächlich ein gehöriges Tohuwabohu, in das Rico und sein Freund Oskar (der mittlerweile seinen Schutzhelm abgelegt hat, dafür aber mit Sonnenbrille ausgerüstet ist) ein zweites Mal geraten – und das, obwohl die erzählte Zeit nicht einmal eine Woche umfasst: Denn diesmal gilt es nicht ein Geheimnis rund um einen fremden Bösewicht aufzulösen, im Zentrum der Ermittlungen steht vielmehr Ricos Mutter, die offensichtlich erpresst wird. Unterstützt werden die beiden dabei von Erwachsenen wie der rührigen Frau Dahling, die so leckere Müffelchen macht, und Herrn van Scherten vom Bingoabend, die den beiden kindlichen Helden an Skurrilität um nichts nachstehen… Nachdem die ganze Truppe ein weiteres Mal im Krankenhaus landet, kommt es schließlich zu einem Happy End, das kaum Wünsche offen lässt: Nicht nur, dass der Liebe zwischen Ricos Mutter und dem sympathischen Polizisten Bühl nach Auflösung aller dunklen Geheimnisse endlich nichts mehr im Wege steht, bekommt der vom Schicksal ordentlich gebeutelte Rico sogar den langerträumten Hund. Dennoch: Es bleiben viele Gründe, sich melankomisch zu fühlen, neben einer Fülle an witzigen Situationen (einige davon in bester Tradition der Screwball-Comedy: So ist die Champagnertussi, Bühls mutmaßliche neue Liebe, in Wahrheit seine Schwester), wird diesmal der Traurigkeit der beiden Kinder mehr Raum gegeben.
Kathrin Wexberg
Kröte des Monats April 2009
Aus dem Niederländ. v.
Bettina Bach.
Hanser 2009
208 S., € 15,40
Stan van Elderen: Warum Charlie Wallace?
Er scheint eine männliche Variante von Jerry Spinellis „Stargirl“ zu sein, dieser Charlie Wallace – mit der gleichen Unbekümmertheit wie sie geht er auf andere Menschen zu, ignoriert die ungeschriebenen Gesetze einer amerikanischen Highschool und lockt die anderen aus der Reserve. Jonathan, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt ist, beneidet Charlie um diese Gabe. Er selbst hingegen ist unsicher und zurückgezogen, er trägt schwer an dem, was ihm in einer anderen Schule zugestoßen ist. Erst nach und nach, in knappen Andeutungen zwischen den Zeilen, erschließt sich den Leser*innen, was es mit Jonathans Problemen auf sich hat. Die beiden Burschen freunden sich rasch an, streifen miteinander durch New York und zwischen Central Park, Ground Zero und dem kleinen Zoo, in dem Jonathan in seiner Freizeit arbeitet, erschließt sich ihm in den Gesprächen mit Charlie eine völlig andere, selbstverständliche und lebensbejahende Art, die Welt zu sehen. Doch diese neue Freundschaft dauert kaum eine Woche – so plötzlich wie einst Stargirl verschwindet auch Charlie Wallace unvermittelt wieder aus Jonathans Leben. Die Großstadt New York mit ihrer Lebenslust, aber auch der großen Leerstelle des Ground Zero wird gleichermaßen zum Schauplatz der Geschichte wie auch zur Metapher für Jonathans beschädigtes Seelenleben – aber auch seine durch Charlie (wieder)gewonnene Kraft, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ab 14 Jahren.
Kathrin Wexberg
Kröte des Monats März 2009
Aus dem Französ. v.
Markus Weber.
Moritz 2009
116 S., € 13,30
Soledad Bravi: Piep, piep, piep. Das Buch der Töne und Geräusche
Kleine Kinder machen Lärm, so eine gängige Zuschreibung aus der Erwachsenenwelt. Das Bilden und Zuordnen von einfachen Lauten ist ein wichtiger Schritt bei der Erwerbung von Sprach-, und damit in weiterer Folge auch von Literaturkompetenz, ist wiederum eine Erkenntnis der Kleinkindforschung. Was also könnte geeigneter sein, um die frühe Lust am Buch zu wecken, als ein „Lärmbuch“, wie man „Le livre des bruits“, den Originaltitel dieses französischen Bilderbuches für die Allerkleinsten, übersetzen könnte? Das Grundprinzip ist so einfach wie bekannt: Auf der linken Seite findet sich in großer schwarzer Schrift auf weißem Grund ein einfacher Satz, wer welches Geräusch macht, auf der gegenüberliegenden Seite ist in comicartigem Stil mit dicken schwarzen Konturen auf buntem Hintergrund das entsprechende Tier bzw. der entsprechende Gegenstand dargestellt. Variantenreich und ungewöhnlich ist hingegen sowohl die breite Auswahl an krachmachenden Dingen, die hier getroffen wird, als auch die Zuordnung der Geräusche: Denn wer hätte gedacht, dass Weihnachten „O Tannenbaum“ oder der Schmerz „aua“ macht? Als besonderes Goodie für die vorlesenden und mitschauenden Erwachsenen (die ja bekanntlich bei der Begleitung der Bucherfahrungen der Allerkleinsten durch eine hohe Anzahl an Wiederholungen besonders herausgefordert sind), sind zwischendurch einige Geräusche versteckt, deren Humor sich nur den Größeren erschließt – wie die Schnecke, die gar nichts macht, aber dafür elegant ihre Fühler bewegt.
Kathrin Wexberg
Kröte des Monats Februar 2009
Aus dem Span. v.
Helga Preugschat.
Fischer Schatzinsel 2008
24 S., € 17,40
Menena Cottin / Rosana Faría: Das schwarze Buch der Farben
Bunt zu sein ist ein Klischee, gegen das die moderne Kinderliteratur sich immer noch behaupten muss. Umso ungewöhnlicher, wenn ein Kinderbuch ausschließlich mit der Farbe Schwarz auskommt – und sich doch mit dem ganzen Spektrum der Farben beschäftigt: Auf der linken Seite wird aus der Perspektive des offensichtlich blinden Buben Thomas jeweils eine Farbe in ihrer ganzen sinnlichen Dimension beschrieben, wonach sie schmeckt, wie sie sich anfühlt, wie sie riecht. Dieser Satz ist jeweils in „normaler Schrift“ und in Braille-Schrift abgedruckt. Auf der gegenüberliegenden Seite sind die beschriebenen Dinge in speziellem Reliefdruck aus schwarzem Lack abgebildet und so mit den Fingerspitzen ertastbar. Auf der letzten Seite findet sich schließlich das gesamte Braille-Alphabet. Besonders an diesem Bilderbuch ist neben der edlen bibliophilen Buchgestaltung die Perspektive auf das Thema Behinderung: Denn hier wird nicht das Defizit des Blindseins betont, sondern vielmehr der Reichtum der Sinneswahrnehmungen, die dennoch möglich sind: „Thomas mag alle Farben, weil er sie hören, riechen, fühlen und schmecken kann.“
Kathrin Wexberg
Kröte des Monats Jänner 2009
Aus dem Franz. von Bernadette Ott
dtv 2008
192 S., € 7,20
Valérie Zenatti: Leihst du mir deinen Blick? Eine Freundschaft zwischen Jerusalem und Gaza
Weltpolitisch gesehen, hat das Jahr 2009 nicht friedlich begonnen, sondern mit dem Wieder-Aufflammen des Nahostkonflikts in neuer Brutalität. Anlass für die STUBE, ein Buch zur Kröte des Monats zu machen, das diesen in seiner Vehemenz und scheinbaren Unlösbarkeit für uns so schwer begreifbaren Konflikt auf anschauliche Weise in Form eines E-Mail Romans beleuchtet: „Leihst du mir deinen Blick?“ ist 2006 im Verlag Dressler erschienen, im Herbst 2008 kam bei dtv eine Taschenbuchausgabe heraus.
Das Buch beginnt aus der Sicht von Tal: Sie ist siebzehn, ein ganz normales junges Mädchen mit allen entsprechenden Freuden und Sorgen – doch Tal lebt in Jerusalem und ist immer wieder mit den ganz konkreten Auswirkungen des Nahostkonflikts auf ihren Alltag konfrontiert. Ein Selbstmordattentat in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft erschüttert sie so sehr, dass sie endlich etwas tun möchte, irgendein Zeichen setzen, um die Kluft zwischen Israelis und Palästinenser*innen zu überwinden. Sie schreibt einen Brief, den ihr Bruder, der als Soldat im Gazastreifen stationiert ist, ins Meer werfen soll und hofft auf eine Antwort von einem palästinensischen Mädchen, die in eine Freundschaft und damit eine Annäherung zwischen den verfeindeten Völkern münden könnte. Soweit das Ausgangsszenario, das durchaus Potential zu Kitsch und Pathos hat. Doch durch das E-Mail, das sie als Antwort erhält, wird dieses Szenario radikal gebrochen: Denn die Antwort stammt nicht von einem Mädchen, sondern von einem jungen Mann, der sich „Gazaman“ nennt. Er verbittet sich durchaus aggressiv ihre etwas naiven Vorstellungen einer völkerübergreifenden Freundschaft, für ihn ist klar, dass von israelischer Seite nichts Gutes kommen kann und ein verwöhntes israelisches Mädchen nie verstehen wird, was er erlebt. Aber Tal möchte verstehen. Sie lässt nicht locker, und in vielen E-Mails nähern sich die beiden langsam einander an. Der erzählerische Wechsel zwischen E-Mails und inneren Monologen der beiden macht den Kontrast zwischen dem, was sie bereit sind, einander preiszugeben und ihren tatsächlichen Gedanken und Gefühlen sichtbar. Es ist keine Liebesgeschichte á la Romeo und Julia, die sich schließlich zwischen den beiden entwickelt, eigentlich nicht einmal eine Freundschaft – und doch entwickelt sich etwas, das vielleicht ein kleiner Beitrag zum Frieden sein könnte.
Kathrin Wexberg