Kröte des Monats November 2009
Aus dem Engl. v.
Sabine Ludwig.
rororo 2009
160 S., € 13,30
Holly-Jane Rahlens: Mauerblümchen
Das Berliner U-Bahn-Netz, das wissen wir spätestens seit Andreas Steinhöfels "Der mechanische Prinz", ist ein durchaus geeignetes Setting für einen Roman. Doch während bei Steinhöfel die Fahrt mit der U-Bahn als Übergang in eine phantastische Welt fungierte, lässt Holly-Jane Rahlens, die "gelernte Berlinerin aus Brooklyn" (FAZ), ihren neuen Roman fast ausschließlich in Berliner S- und U-Bahnen spielen. Die Ich-Erzählerin Molly Beth Lenzfeld ist ein zurückhaltendes, schüchternes Mädchen, die am Tod ihrer Mutter leidet – nachdem sie mit ihrem Vater, einem theoretischen Chemiker, während dessen Gastprofessur ein Jahr in Berlin-Charlottenburg gelebt hat, steht ihre ersehnte Rückkehr nach New York bevor. Als kurz davor plötzlich die Mauer geöffnet wird (Molly verschläft dieses denkwürdige historische Ereignis), bleibt für sie noch eine letzte Sache in Berlin zu tun: Das Geburtshaus ihrer Mutter in Ostberlin zu besuchen. Doch in der S 3 lernt sie Mick kennen, den sie mit seiner Lederjacke zunächst für einen Italiener hält – und diese Begegnung, die zunächst etwas unglücklich mit dem Absturz von tausenden Legosteinen beginnt, die Mick aus rätselhaften Gründen in einem Karton mit sich führt, entwickelt sich innerhalb kürzester Zeit zu einer wunderbaren Liebesgeschichte, in der wie en passant allerlei Unterschiede zwischen dem Leben in Ost- und Westberlin zur Sprache kommen: Wie Ketwurst schmeckt, was LPG bedeutet und was genau der Beruf einer Besamungstechnikerin mit sich bringt. Rahlens widersteht der Versuchung, für ihren Wende-Roman eine Konstruktion zu erfinden, warum sich heutige Jugendliche plötzlich mit dem Mauerfall beschäftigen, und lässt ihre Handlung kurzerhand im November 1989 spielen – das verleiht dem Text eine erfrischende Ungekünsteltheit, die sich wohltuend von der Fülle an medialen Auseinandersetzungen anlässlich des 20. Jahrestages des Mauerfalls abhebt. Der Weg der Figuren durch das U- und S-Bahn-Netz kann anhand von Ausschnitten aus dem Plan, die jedem Kapitel vorangestellt sind, nachvollzogen werden. Dennoch kein verkapptes Sachbuch, getarnt als Roman, sondern eine unterhaltsame Geschichte voller Witz und Gefühl – an deren Ende selbst die verkopfte Molly sagen kann: "Aber das ist später. Viel später. Und jetzt ist jetzt".
Kathrin Wexberg
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