Phantastik-Tipp der STUBE
Aus d. Engl. v. Nadine Mannchen.
Loewe 2024.
384 S.
Annaliese Avery: Die Spiele der Unsterblichen
Zu jedem Blutmond wählen alle Gottheiten des griechischen Pantheon einen menschlichen Spielstein, der in den unsterblichen Spielen als Repräsentant*in antritt. Wer gewinnt, kann einen Wunsch an die Gött*innen richten. Wer überlebt, wird als geehrte*r Mitspieler*in wieder in sein/ihr Heimatgebiet auf den (antiken) griechischen Inseln geschickt. Wer stirbt, dessen Körper wird in genau jenem Zustand zu seiner Familie zurückgeschickt.
So ist es auch Aras Schwester mehrere Jahre vor Beginn der Handlung ergangen: Ihr gezeichneter Leichnam wurde von Ara beim Aufwachen im gemeinsamen Bett aufgefunden. Dieses Trauma hat die 16-jährige Ich-Erzählerin in den folgenden Jahren im Training befeuert: Nur in den Spielen kann sie Zeus, der ihre Schwester erwählt hat, nahe genug kommen, um Rache zu nehmen.
Allerdings kann sie diesen Plan mit niemandem teilen, da Spielfigur zu werden, üblicherweise als Ehre angesehen wird – so auch von ihrem Trainingspartner Theron. Kurz vor dem kommenden Blutmond eröffnet dieser ihr, er könne spüren, von Zeus erwählt worden sein wird. Wenn es stimmt, hätte sie eine weitere Gelegenheit verpasst … Aber schließlich sorgt ein Un- und Zufall (oder die Schicksalsgöttinen?) dafür, dass beide teilnehmen.
Die eine Erzählebene begleitet die Protagonistin in den Spielen, die zweite hingegen die Gött*innen, die in einem speziellen Saal mit magischer Karte von Griechenland und kleinen Figürchen a lá Gesellschafts-Rollenspiel verfolgen, was geschieht. Diese Sequenzen werden personal aus Hades-Sicht erzählt. Die Vorgänge in den Spielen werden somit unmittelbarer geschildert, und die naturgemäß distanziertere Perspektive für Vorgänge im Olymp reserviert.
Die Spieler*innen werden auf eine Kampagne geschickt und ihre göttlichen ‚Pat*innen’ würfeln um Vorteil, Nachteil, Angriffsposition oder Verteidigungshaltung gegenüber den Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert werden. Diese wurden vom jeweiligen Spielleiter – in „Die Spiele der Unsterblichen” ist es Hermes – akribisch und lang vorbereitet; etwa Monster unterschiedlicher Art, ein Sumpf, ein Sturm auf See oder Ähnliches. Diese Parallelen zu Tabletop-Spielen sind unverkennbar und bieten einen innovativen Rahmen für die gefahrvolle phantastische Reise der Figuren.
Vom Verlag und in den sozialen Medien werden im Zusammenhang mit Averys Text klare Referenzen aufgerufen: „Die Tribute von Panem” trifft auf „Percy Jackson”. Solche Beschreibung helfen auf der einen Seite interessierten Leser*innen abzuwägen, ob dieses Buch ihren Geschmack treffen könnte, kann auf der anderen Seite auch deutlich in die Irre führen. Denn bereits zu Beginn der titelgebenden Spiele der Unsterblichen erfolgt Abgrenzung vom Wettbewerb, der fordert zu Mord zu greifen:
Den teilnehmenden Sterblichen ist es verboten, sich gegenseitig absichtlich zu verwunden – ein Verstoß hat sofortige Disqualifikation zur Folge, sowohl von Mensch als auch zugehöriger Gottheit, außerdem eine harte Bestrafung. (S.114)
Dennoch sind intermediale Verweise unverkennbar, etwa erinnern die griechischen Götter an die Spielemacher in „Die Tribute von Panem”.
Beim Überwinden der Hindernisse hin zum Ziel, beschließt die Gruppe der Spieler*innen zusammenzuarbeiten: Aus der Geschichte der Spiele wissen sie, dass so am meisten von ihnen überleben können, selbst wenn nur eine Person gewinnen kann. Aber neben Unfällen und Tod im Zuge der Stationen der Reise steigt mindestens einer*m von ihnen Ehrgeiz und das Auserwählt-sein dermaßen zu Kopf, dass er zunehmend zum Antagonisten aufgebaut wird.
Die Figur, von der man das eigentlich erwarten könnte, ist Hades. Dieser ist als charismatischer und erstaunlich geerdeter Herr der Unterwelt charakterisiert, der der Machtkämpfe der göttlichen Geschwister müde geworden ist. Er ist auch der einzige, der seiner Spielfigur Respekt entgegenbringt. Im konkreten Fall wird das deutlich gesteigert, da sich Liebesgefühle zwischen ihm und Ara entwickeln. Die Plötzlichkeit ist im Genre durchaus nicht ungewöhnlich; die langsame Entfaltung, dezente Schilderung und das Zusammenfinden ohne Aufgeben der eigenen Identität ist sehr gelungen umgesetzt.
Hades’ Frust mit den egoistischen und kleinlichen Zänkereien im Olymp macht umso erstaunlicher, dass er sich in bereits vor den Spielen und somit dem Kennenlernen Aras in eine Wette drängen lässt: Wenn eine der Spielfiguren von Zeus, Poseidon oder Hades gewinnt, soll dieser Gott die Gebiete der anderen übernehmen. So wird der Bedeutung dieser konkreten Spiele eine weitere Dimension verliehen.
Insgesamt werden die Gött*innen großteils als launische, oberflächliche Figuren gezeichnet, was nicht unbedingt von den klassischen griechischen Sagen abweicht. Bezüge zur Griechischen Mythologie sind dominant im Text. Dieses Vorwissen ist nützlich, aber nicht zwingend für Textverständnis, da zumindest einige Basisinformation im Anhang des Romans aufgelistet sind.
Sehr interessant am Aufbau der phantastischen Welt ist auch der Umgang mit dem altgriechischen Glaubenssystem, das mit Tartaros und Elysium sehr konkrete physische Vorstellungen vom Leben nach dem Tod enthält. Aras Theorie, Hades allein würde sich aus den Intrigen des Pantheon zurückziehen, weil er als Herrscher der Unterwelt unmittelbar mit den Folgen der Handlungen der Gött*innen für die Menschen dauerhaft konfrontiert ist, ist eine spannende Zugangsweise zur Gestaltung der Figur.
„Die Spiele der Unsterblichen” ist ein Einzelband ohne geplante Fortsetzungen. Klassische Topoi der Phantastik und Fantasy wie Dreiecksbeziehung, Reise, Wettkampf und Liebe zwischen Sterblichen und Unsterblichen bestimmen die intertextuell geprägte Erzählung. Interessante Figuren- und Weltgestaltung sorgen für ein genussvolles Leseerlebnis.
Sonja Loidl
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