Phantastik-Tipp im Jänner 2025
Aus d. Amerikan. v. Anne Brauner.
arsEdition 2024.
576 S.
Marissa Meyer: Gilded – Die Versuchung des Goldes
Nicht jede Geschichte enthüllt sich auf Anhieb. Einige genieren sich. (129)
Die Müllerstochter Serilda lebt mit ihrem Vater unweit von Märchenfeld. Die 18-jährige Schulhelferin liebt es, den Kindern fantasievolle Geschichten zu erzählen, auch wenn die strenge, griesgrämige Lehrerin Fräulein Sauer das gern unterbinden würde. Serildas Talent als Erzählerin mag daher kommen, dass sie von einem der sieben Gött*innen gesegnet wurde: Der Göttin Wyrdith, Patronen der Geschichten, des Glücks, der Lügen und des Schicksals. Dieser Teil der Familiengeschichte ist an den Augen der Hauptfigur abzulesen, in deren Pupillen golden ihr Zeichen, das Rad des Schicksals, deutlich sichtbar ist. Im Dorf wird Serilda daher mit viel Misstrauen und teilweise Feindseligkeit begegnet. Die Gabe der Geschichten wird als Neigung zu nicht erkennbaren Lügen interpretiert und das gesegnete Kind als verfluchtes Kind behandelt.
Aber bereits am Anfang der aus Serildas Sicht personal erzählten Handlung, macht sich die Gabe doch bezahlt: Während einer Vollmondnacht suchen zwei Moosweiblein Schutz vor der Wilden Jagd bei der Hütte neben der Mühle und die junge Frau kann die beiden verstecken. Sie spinnt gegenüber dem Erlkönig, der sie bezichtigt, die beiden versteckt zu haben, eine Lüge als Begründung, warum sie in dieser gefährlichen Nacht überhaupt im Freien ist: Es sei die beste Zeit, um Stroh von den Feldern aufzulesen, das sie dann zu Gold spinnen könne. Die Räder in ihren Augen werden mit dem Spinnrad der Göttin Hulda verwechselt, was dafür sorgt, dass Serilda Glauben geschenkt wird und die Horde aus Geistern und Finsteren abzieht.
Allerdings, wie man es aus dem Märchen vom Rumpelstilzchen kennt, wird vom Erlkönig in der folgenden Vollmondsnacht verlangt, den Beweis zu erbringen. Hilfe erhält das Mädchen vom Poltergeist der Residenz des Erlkönigs, Gild, der über eben jene Fähigkeit verfügt, sie aber nur gegen Bezahlung einsetzen kann: Drei Mal hilft er ihr, während die beiden einander näher kommen.
Die lange eher dezente Liebesgeschichte wird kontrastiert durch die von Serilda erpresste Einwilligung, den Erlkönig zu heiraten, als dieser erfährt, dass sie schwanger ist; Er möchte das Kind als seines haben.
Die anfangs märchenhaft und einfach wirkende Erzählung gewinnt rasch an Fahrt und verzweigt sich in mehrere Rätsel, denen die Geschichtenerzählerin auf der Spur ist: Kann man die Geister im Schloss des Erlkönigs, die immer wieder ihren Tod durchleben, erlösen? Was wurde aus Serildas Mutter? Wer hat vor dem Erlkönig in der Burg gewohnt und wie kann es sein, dass dieses Adelsgeschlecht aus der Geschichtsschreibung getilgt wurde? Wieso kann Gild sich nicht an seine Vergangenheit erinnern? Wofür braucht eine untote, äußerst mächtige Figur wie der Erlkönig so viel Gold?
Meyer schreckt vor der Grausamkeit nicht zurück, wenn Serildas Schüler*innen von der Wilden Jagd auf üble Weise gemeuchelt werden. Mit Hilfe der Figur des Erlkönig werden Machtmechanismen und Versuche, sich daraus zu befreien, dargestellt.
Die Autorin zeigt einmal mehr ihr Können in der Stoff-Adaption: Ein Fokus in ihrem Gesamtwerk liegt seit ihrem Erstling „Wie Monde so silbern” (dem Start der „Luna-Chroniken”-Serie, orig. 2011-2015) auf der Transformation von Märchen- und Mythenstoffen.
Verknüpfung, Umwandlung und Neustrukturierung von Bekanntem ergeben eine mit intermedialen Bezügen aufgeladene, trotzdem eigenständige Narration. Das Lesen von „Gilded” ist ein Fest der Wiedererkennung und lustvollen Entdeckung des neuen Gesichts, das bekannte Elemente bekommen können. Der ersten Teil der „Gilded”-Serie ist v. a, geprägt von der Figur des Erlkönigs, Anleihen an die Erzählung von König Midas und Rumpelstilzchen. Metafiktional wird über Entstehung von Geschichten, die mögliche Verwandtschaft von Erzählung und Wahrheit und die falsche Vorstellung von Erzählen als Lügen reflektiert.
Ganz im Sinn von Serildas Versicherung Geschichten gehen immer weiter (250) lässt
die Fortsetzung glücklicherweise nicht lange auf sich warten. Denn bereits Ende Februar erscheint mit „Cursed – Der Fluch des Mondes” der zweite und abschließende Teil der Serie.
Sonja Loidl
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