Phantastik-Tipp der STUBE
Aus d. Amerikan. v. Sylke Hachmeister und Peter Klöss.
Oetinger 2025.
464 S.
Suzanne Collins: die Tribute von Panem L. der Tag bricht an
‘Meine Hilfe?’, sage ich [Haymitch] ungläubig. ‘Ich bin der lebende Beweis dafür, dass das Kapitol immer gewinnt. Ich hab alles versucht, damit kein neuer Tag der Ernte anbricht [...]’.
‘Doch, wir brauchen dich. Mit dem Erdbeben hast du das Kapitol aufgerüttelt, wortwörtlich. Du konntest dir eine andere Zukunft vorstellen. Eine Zukunft, die vielleicht nicht heute Wirklichkeit wird, und vielleicht werden wir sie auch gar nicht mehr erleben. Womöglich wird es Generationen dauern.’
Das neueste Werk der “Die Tribute von Panem”-Serie ist ein großartiges Beispiel dafür, dass das Ende zu kennen, keinen negativen Einfluss auf die Qualität einer Erzählung hat - “Wie” und “Wie kommt die Handlung an diesen Punkt an” sind das künstlerisch entscheidende.
Die Serie hat Ihren Ausgang mit Katniss’ personal erzählten Erlebnissen rund um die 74. Hungerspiele genommen. Sie ist eine der beiden ‘Tribute’, die zu dieser medial inszenierten jährlichen Machtdemonstration des Kapitols gegenüber den 12 Distrikten im Staatenverbund Panems im postapokalyptischen Nordamerika, zwangsverpflichtet werden. Auf Haymitch, die Hauptfigur von “Die Tribute von Panem L. Der Tag bricht an”, trifft man in der Trilogie als ihren alkoholsüchtigen Mentor, der in den 24 Jahren nach dem eigenen Sieg in den 50. Hungerspiele keinen Tribut zum Sieg verhelfen konnte.
Haymitchs schwarzer Humor, die Position als (Mit)Versorger der Familie und die Art, wie die kreisenden Gedanken während der Spiele um die Wirkung des Handelns in der Arena für Spielemacher und Publikum gezeigt werden, sind Gemeinsamkeiten die ihn und Katniss verbinden. Katniss Love-Interest Peeta erwähnt die Ähnlichkeiten in der Trilogie mehrfach, die nun in “Der Tag bricht an” deutlich hervortreten. Auch sind Katiss und Haymitch beide schon in der Jugend in illegalen Geschäftszweigen tätig - Katniss jagt und Haymitch wirkt in einer Schwarzbrennerei mit. Beide Tätigkeiten sind massiv prägend und vorausweisend für die Darstellung der Figuren.
Das glamouröse Festival, das in “Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele” (Bd. 1) sorgt dafür, dass Katniss eine Weile braucht, um den Grad an Desillusionierung und Verzweiflung zu erreichen, die Haymitchs Charakter von Anfang an auszeichnen. Es wird ein Kontrast aufgebaut, indem die Maschinerie der Hungerspiele im vorliegenden Band von Beginn an auch für den Protagonisten offenkundig ist. Die Manipulation der medialen Berichterstattung ist bereits am Anfang ungeschönt Thema, wenn eine Exekution auf offener Straße ohne Probleme ‘wegretuschiert’ werden kann. Das Publikum nicht erst in die erzählte Welt einführen zu müssen, hat somit massiven dramaturgischen Einfluss auf das Prequel.
Diese Direktheit sorgt auch dafür, dass man beim Lesen der Versuchung erliegen mag, einen Blick in die Trilogie - ob in Buchform oder Filmadaption - zu werfen, um sich zu überzeugen, dass Haymitch tatsächlich überlebt. Denn die Chancen sind definitiv nicht auf seiner Seite. Markant sind in diesem Zusammenhang Auftritt und Charakterisierung von Präsident Snow. Während der Beginn seines Werdegangs mit 18 in “Das Lied von Vogel und Schlange” gezeigt wird, begegnet man ihm hier als lang etabliertem Präsidenten, Ende 50. Explizit sadistische Züge heben sich vom pragmatischen, aber auch zurückhaltenedem Kalkül der jüngeren Figur ab, während die Selbstinszenierung gegenüber Tributen als potenziell einflussreichen Rebellen aus der Trilogie bereits deutlich zu tage tritt. Das Bild der Figur ist zwar nicht völlig konsistent, passt allerdings sehr gut zu einem langjährig amtierenden Gewaltherrscher.
Intertextuelle Bezüge zu den anderen Teilen der Serie sind zahlreich und fließend in die Erzählung integriert. Ein Pfeiler dieser Erzählstrategie ist es, ‘alte Bekannte’ wiederzutreffen; etwa spielen Wiress, bevor sie vom Drogenkonsum völlig ausgehöhlt ist, und Beetee, bereits als Technikgenie eingeführt, aber durch seine Vaterrolle mit neuen Dimensionen ausgestattet, eine zentrale Rolle. Der Figurenkonstellation der früheren Sieger*innen rund um Katniss als Spottölpel und Gallionsfigur der Rebellion wird damit rückwirkend nochmals mehr Tiefe verliehen.
Der literarische Soundtrack, der in der Trilogie mit Hanging Tree/ Der Henkersbaum seinen Ausgang nimmt und in “Das Lied von Vogel und Schlange” über die fahrenden Spielleute der Covay-Familie zu einem dominierenden Gestaltungsmittel wird, findet auch hier seinen Platz. Haymitchs romantische Beziehung mit einer Covey unterstreicht dieses Mittel. Neben der Wiederaufnahme einiger Lieder wird das Repertoire durch (auf Handlungsebene) vertonte Lyrik von Wilhelm Blake und Edgar Allan Poe erweitert, die neben dem Stimmungsaufbau
der (Vorau)Deutung von Handlungselementen dient.
Die brennende Frage, wie es sein konnte, dass es noch 25 Jahre dauert, um die Revolution tatsächlich einzuleiten, bleibt offen. Dass dieser Gedankengang aber durchaus bei der Konzeption mitgedacht ist, zeigt die eingangs zitierte Aussage von Plutarch Havenbee. Auch wie Haymitchs Leber und Effis wenig reflektierte Einstellung zum Kapitol diese 25 Jahre durchgestanden haben, wirft Fragen auf.
Eine Balance zwischen individuellen, tragischen Schicksalen und gesamt politischer Dimension ist ein bedeutendes Charakteristikum von Collins Erzählungen, die auch in ihrem neuesten Werk zentral ist. Ihre Werke haben das Gesicht der aktuellen Medienlandschaft nachhaltig geprägt: Für das Future Fiction Genre im Jugendliteraturbereich hatte sie eine Vorreiterrolle. Dass die Besetzung des schon vor der Buchveröffentlichung angekündigten Films durch die Produktionsfirma Lionsgate kurze Zeit nach der Publikation des Textes veröffentlicht wurde, ist hinsichtlich einer marktbestimmend starken Tendenz zum transmedialen Erzählen überaus spannend.
Sonja Loidl
Die gesammelten Phantastik-Tipps der letzten Monate und Jahre finden Sie im >>> Phantastik-Archiv