Krötenarchiv
2015
Kröte im Dezember 2015
Aus dem Engl. v. Peter Baumann. Lappan 2015
32 S., € 13,40.
Anthony Browne: Abenteuer mit Willi
Willi ist ein Weltenbummler der besonderen Art: Er bummelt durch die Welt der Kunst und bewegt sich dabei eigentlich nicht von seinem Arbeitstisch oder von seinem Sofa weg. Waren es in „Willi der Träumer“ (1997) die Bilderwelten von Literatur, Film und Malerei, die er erkundete, machte er sich in „Willi der Maler“ (2000) selbst ans Werk und ließ mit Lust am Zitat und Liebe zum Detail bekannte Werke der Kunstgeschichte aufeinander folgen, wobei oft nur Ausschnitte oder Bildideen aus dem Original übernommen wurden.
In diesem großformatigen Bilderbuch betritt nun Anthony Brownes mittlerweile über dreißig Jahre alte Lieblings-figur wortwörtlich literarisches Terrain. Mit jedem Umblättern breitet er ein neues, verblüffendes Abenteuer vor den Leser*innen aus und stellt auch stets die ganz konkrete Frage, in welcher Roman-Welt er sich wohl befindet. Ein zielgruppenspezifi-sches Zugeständnis? Oder eine Möglichkeit, die Geschichte auch abseits jedes Wieder-Erkennens des Szenarios eigenständig weiterzuspinnen und in einer ganz anderen Version neu zu erzählen? Willi jedenfalls ficht (im Blätterkleid) Kämpfe mit einem Kapitän aus, der einen Eisenhaken statt einer Hand trägt; er wird samt seinem Häuschen von einem Wirbelsturm davon getragen; er klettert entlang eines goldhaarigen Zopfes einen Turm hinauf. Anthony Browne, der Meister des Bild-Zitates, lässt den kleinen Gorilla also durch das Kaninchenloch der Kinderbuch-Klassiker stürzen und greift statt des Töpfchens mit Orangenmarmelade Erzähl-Szenen aus dessen Regalen. Ein gestrandeter Willi entdeckt an einem Freitag einen Fußabdruck im Sand und ein mit Pfeil und Bogen durch die Wälder ziehender Willi wird von einem heiligen Bruder über den Fluss gebracht.
Diese dieserart durchschrittene Welt der Bücher zeichnet sich auch in der Bildkomposition ab: Egal ob der Wind durch geheim-nisvoll verknorpelte Weiden in moosartigem Grün weht oder die Wellen Willis holzpuppenhafte Glieder vor dem Riesenmaul eines Haifisches aufschwappen lassen – immer bleiben Bücher integrativer Bestandteil der Bildwelten. Um diese aufzuspüren, braucht es jedoch einen durchaus genauen Blick. Auch die „Grundlage“ jedes literarischen Werkes, der Schreibstift, ist in den Bildern variantenreich versteckt. Wer braucht da noch umfangreiche theoretische Einführungen in die Kinderliteratur, wenn er einfach dem kleinen Gorilla mit den verschiedenfarbigen Socken folgen kann?
Heidi Lexe
Für das Kennenlernen der hier neu-inszenierten Kinderbuch-Klassiker ist das Vorlesen ein wesentliches Moment – umfangreiche Informationen dazu finden sich in der Broschüre „Faszination Vorlesen. Geschichten und Sprache gemeinsam erleben“, die das Österreichische Bibliothekswerk gerade herausgegeben hat. Passend dazu finden Sie hier
>>> eine Liste von Büchern, in denen das Vorlesen eine zentrale Rolle spielt – oder die sich gut zum Vorlesen eignen.
Zeitgerecht zur vorweihnachtlichen Büchersuche erscheint eine weitere Buchliste, die die schönsten >>>Kinderbuch-Klassiker zusammenführt. Dann können Sie sich auf Willis Spuren begeben und Alice, Pinocchio und Co. neu kennenlernen.
Kröte im November 2015
Heimat bist du großer Töchter ...
- Elisabeth Steinkellner: Rabensommer. Beltz & Gelberg 2015.
Verena Hochleitner / Thomas Rosenlöcher: Das Gänseblümchen, die Katze und der Zaun. Tyrolia 2015.
Kathrin Steinberger: Manchmal dreht das Leben einfach um. Jungbrunnen 2015.
Lilly Axster: Atalanta Läufer*in. zaglossus 2014.
Kurz nach dem Österreichischen Nationalfeiertag ist ein guter Zeitpunkt, um einen Blick auf die heimische kinder- und jugendliterarische Produktion zu werfen, die in diesem Jahr besonders reich an herausragenden Büchern ist.
Deshalb geht die Kröte des Monats November an gleich vier Bücher, die wir diesmal nicht einfach besprechen, sondern verrätseln. Mit einem Klick auf >>> Memory kommen Sie zu unserem "Heimat bist du großer Töchter ..."-Special:
Ausdrucken, ausschneiden, assoziieren (oder wissen!), jeweils vier richtige Kärtchen passend zu einem Buch zusammenlegen und ein Foto Ihres Ergebnisses an stube@stube.at schicken.
Verlosung
Aus allen richtigen Einsendungen, die bis Freitag, 6. November 2015 bei uns eingegangen sind, verlosen wir eines der vier Bücher nach Wahl - signiert von der jeweiligen Künstlerin.
Kröte im Oktober 2015
Gelesen von Stefan Kaminski
Musik von
Ulrich Maske
Jumbo Goya libre 2014 - 2015
jeweils 3 CDs
Die gleichnamigen Bücher, aus dem amerikanischen Englisch
von Ilse Rothfuss, sind im Ravensburger Buchverlag erschienen.
Kathryn Lasky: Der Clan der Wölfe I - V
Kann ein Instrument alleine ein ganzes Orchester imitieren? Oder genauer gefragt: Kann ein Mensch allein ein ganzes Orchester imitieren, wenn man die Tonspuren der einzelnen Instrumente digital übereinander legt? Warum nicht. Man kann auch mit der Fähigkeit zur Stimm-Modulation ein Hör-Erlebnis schaffen, für das üblicherweise ein umfassender Cast an Schauspieler*innen notwendig wäre. Es gibt Hörbücher, nach deren Genuss man erwartungsvoll naschschlägt, wer hier aller stimmlich mitgearbeitet hat. Und bemerkt erstaunt: Gelesen von Stefan Kaminski.
Er ist seit 2001 am Deutschen Theater in Berlin beschäftigt und war an diesem Haus auch für eine der genialsten Theaterproduktionen des 21. Jahrhunderts maßgebend: Im Alleingang wurde von ihm Wagners Ring der Nibelungen zur Aufführung gebracht. (Die Inszenierung war an drei aufeinanderfolgenden Tagen auch im Wiener Rabenhof zu sehen.) Buch, Regie und alle Rollen, hieß es, wenn Sprach-Wunder Stefan Kaminski den Opern-Zyklus (mit Unterstützung von Sebastian Hilken und Hella von Ploetz (Musik) in eine Sprech-Inszenierung übersetzt hat, die ihresgleichen sucht. Das jeweilige Making-Of zu
zu Rheingold, Walküre, Siegfried und Götterdämmerung lässt sich auf auf YouTube bestaunen.
Im Angesicht dieser Produktion wirken Synchronisationen (er ist Kermit der Frosch) oder Hörbücher wie Fingerspiele. Die Stefan Kaminski dennoch allesamt mit Totaleinsatz präsentiert – von Kevin Hearnes „Chroniken des Eisernen Druiden“ bis hin zu Kathryn Laskys „Die Legende der Wächter“. Der Welt dieser Eulen-Saga entspringt auch Kathryn Laskys neue Serie „Der Clan der Wölfe“ zu deren Bänden im Ravensburger Verlag stets zeitgleich auch Hörbuch-Versionen erscheinen.
Stefan Kaminski zeichnet darin nicht nur die einzelnen Tier-Figuren sprachlich individuell nach, sondern übersetzt auch die Sprache der Wolfs-Clans in Mündliche – vom Byrrgis bis zum Tummfraw, vom Hwlyn bis zum Lochinvyrr. Kathryn Laskys Saga entspringt der Tradition des klassischen Tierromans und nutzt dabei sprachliche Anleihen ans Irische oder Gälische gleichermaßen wie an keltische Traditionen. Westlich der Hoole-Königreiche (der Eulen-Saga) etabliert sie eine in sich geschlossene sekundäre Welt, in der unterschiedliche Wolfsrudel leben, die durch ein strenges Gesetz und jahrhundertelang überlieferte Rituale miteinander verbunden sind. Diese Gesetze beinhalten auch das grausame Ritual, deformierte Wölf*innen, so genannte als verflucht geltende Malcadhe, sofort nach ihrer Geburt jenseits der Hinterlande auszusetzen. Mit unsicherer Stimme folgt Stefan Kaminski dem neugeborenen Faolan, der tapsig und noch blind sein Leben auf einer Eisscholle zu retten versucht. Geborgen wird er von einer Bärin, die soeben ihr Junges verloren hat, und die Faolan seine zweite Milchmutter nennen wird. Noch bevor er sie richtig erkennen kann, gibt er ihr den titelgebenden Namen „Donnerherz“. Von ihr aufgezogen ist Faolan nicht nur gut genährt, sondern vermag auch auf seinen Hinterläufen zu stehen und setzt so das Moment des Außergewöhnlichen / Auserwählten fort, das sich bereits in einer Markierung seiner gespaltenen Pfote mit einer Spirale zeigt. Träume und Flash-Backs, aber auch Faolans besondere Beziehung zur Maskenschleiereule Gwyneth oder zur alten Sumpfhexe Sarg unterstützen diese besondere Rolle, die Faolan wohl in der Geschichte des Clans der Wölfe spielten wird. Bereits mit der festen Stimme eines ausgewachsenen Wolfes vermag Faolan nach dem Tod von Donnerherz in den Clan der McDuncans zurückzukehren, deren stimmlich gleichermaßen stark wie altersschwach intonierter Anführer Duncan McDuncan Faolan dem Gesetz entsprechend an unterster Stelle der Clan-Hierarchie aufnimmt: als Knochennager. Faolan jedoch erweist sich als besonders talentiert in dieser prototypischen Profession wölfischer Geschichtsschreibung. Mit viel Häme lassen sich hier neiderfüllte andere Knochennager wie Heep, oder aber gleichermaßen Ausgegrenzte wie der ton-lose Pfeifer sprachlich in Szene setzen. In „Schattenkrieger“ jedoch zeigt sich, dass in Faolans Kraft, Mut und Jagdtalent das Potential zum raschen Aufstieg innerhalb des Rudels schlummert – auch wenn sein Drang zur Grenzüberschreitung rasch ruchbar wird. Doch seine Loyalität und Bereitschaft, für die Überzeugungen der Wölfe einzustehen, machen ihn zu einem der „Feuerwächter“, einem Mitglied der Garde, die am so genannten Kreis der heiligen Vulkane dient. Gemeinsam mit der einäugigen, samtstimmigen Wölfin Edme deckt er in „Eiskönig“ die Machenschaften einer Wolfs-Sekte auf und rettet ein Bärenjunges, mit dessen Entführung die Wolfsgemeinschaft erpresst wird. Der bisher letzte vorliegende Band setzt mit einem gewaltigen Erdbeben ein. Die durchaus an Island erinnernde Insel-Geologie im Reich der Wölfe wird dabei ebenso umfassend durcheinander gebracht wie das soziale Gefüge der Wolfs-Clans – auch weil sich an dieser Stelle die magischen Erzählmomente verdichten. Wird der „Knochenmagier“ sich weiterhin bewähren?
Es ist eine Welt voller Pathos, in die Kathryn Lasky führt; eine Welt voller fremder Rituale und Gesetzmäßigkeiten, die Stefan Kaminski über die Bände hinweg zu immer vertrauteren Formeln einer animalischen Miniaturwelt umdeutet. Es liegt an ihm, dass jeder neue Band im Sinne des wölfischen Gaddergladders begrüßt wird – dem Palaver, das der Großwildjagd vorausgeht.
Heidi Lexe
Wer im stürmischen Herbst noch mehr Stunden mit den Kopfhörern auf den Ohren verbringen will, dem sei unsere neue >>> Buchliste ans Herz gelegt: Zahlreiche Hörbücher und Hörspiele, geliebt und empfohlen vom STUBE-Team, sind dort zusammengestellt.
Eine Sprecherin, die sich auf der Empfehlungsliste immer wieder findet ist (neben Stefan Kaminski) Maria Koschny: Die Hörbuch- und Synchronsprecherin war auf der Fernkurs-Tagung "Wilde Hühner – Zahme Nerds
Neue Rollenbilder in der Kinder- und Jugendliteratur" zu Gast und erzählte von ihrer Arbeit. Einen umfassenden Rückblick auf die Tagung gibt es >>> hier
Kröte im September 2015
Illustrationen von Julia Friese
Beltz&Gelberg 2015
160 S., € 13,40
Christian Duda: Elke
Elke, jetzt werde ich deinen Kuchen gemunden!
Kasimir hatte Elke am Weg zum Kindergarten kennengelernt, sie hätte ihn beinahe niedergerannt, wenn er sich nicht im letzten Moment unter dem Kuchenblech bemerkbar gemacht hätte. Keine fünf Minuten später saßen die beiden schon im Café über einem Stück Russischen Zupfkuchen. Dass man den Cafébesitzer nicht fragt, warum der Kaffee hier eigentlich so teuer ist, hätte man Kasimir mal lieber gesagt bevor Uwes Schimpftiraden losgingen. Uwe ist nämlich der Café-Eigentümer. Außerdem ist er ein Liebespaar. Mit Tom, seiner besseren Hälfte. Und dann ist da natürlich noch Serge, Elkes Kind. Das heißt, eigentlich ist Elke gar nicht seine richtige Mama, sondern seine Betreuerin, denn seine richtige Familie kümmert sich nicht um ihn, darum passt Elke auf ihn auf. Serge ist zwar nicht gut in der Schule, schon gar nicht im Lesen, aber im Café ist er dafür umso besser, denn mit Zahlen hat er kein Problem.
Christian Duda bringt mit Elke nicht nur ein schmales Buch über die Wirkung von Kuchen auf den deutschsprachigen Buchmarkt, es ist ein Buch über einen alleinerziehenden Witwer, dem alles etwas zu viel wird, ein Buch über einen Jungunternehmer, der sein ganzes Vermögen in ein Kaffeehaus investiert hat, ein Buch über einen Jungen, der zum ersten Mal im Leben gelobt wird, über einen Säufer, der seiner Frau zuliebe in Vaterschaftskarenz ging, über eine Frau, die sich um alle und jeden kümmert, nur nicht um sich selbst und um einen Jungen, der gerne Kuchen isst.
Wie das alles (inklusive Russischem Zupfkuchenrezept) auf 160 Seiten passt? Einfach, harmonisch und ganz unaufdringlich. Mit einer Sprache, die geprägt ist von kindlicher Unschuld, aber auch Neugierde und Raffinesse wird der Leser/die Leserin durch Kasimirs scheinbar kontroversen und doch so lebensnahen Alltag geführt. Die meist kindliche Perspektive ermöglicht es umstrittene Themen wie Alkoholismus, Analphabetismus, Armut oder Adipositas zwar widerzuspiegeln, diese aber ohne Wertung stehen zu lassen. Kurzum: es mundet.
Veronika Wandl
Kein Kinderroman würde besser zum Thema Alterität passen, als "Elke". Um kinder- und jugendliterarische Varianten von Verschiedenheit und Differenzierung wird es auch in der Fernkurs-Tagung Wilde Hühner - Zahme Nerds. Neue Rollenbilder in der Kinder- und Jugendliteratur in Würzburg gehen, die die STUBE gemeinsam mit dem Borromäusverein veranstaltet.
Das Programm der Tagung finden Sie >>>hier
Mit Hilfe eines Zupfkuchen zu kommunizieren, mag manchen wie ein Gespräch in einer fremden oder gar fiktionalen Sprache vorkommen. Um solche Sprachbarrieren und andere ungewöhnliche Sprachvarietäten wird sich alles im ersten STUBE-Freitag im Herbst drehen: Klingonisch, Zamonisch und andere Spielarten fiktionaler Sprache in Kinder- und Jugendmedien heißt es am 25. 9. 2015 in den Büchereien Wien.
Das Detail-Programm des Studientages finden Sie >>>hier
Um Kraft für die wunderbaren und vielfältigen Angebote der STUBE im Herbst zu tanken, holt das STUBE-Team im September Urlaub nach. Die STUBE ist daher bis 15. 9. geschlossen. Über ein Wiedersehen danach freut sich Ihr
STUBE-Team
Kröte im Sommer 2015
Gerstenberg 2015
40 S., € 15,40
Aaron Becker: Die Reise
Wie eröffnen sich für Kinder Phantasieräume?
Wer Kinder beim Spiel beobachtet, wird bemerken, dass sich das (für den Erwachsenen sichtbare) Alltägliche längst in abenteuerliche Szenerien und magische Requisiten verwandelt hat; die kindliche Realität wird dabei spielerisch verdoppelt (und damit aufbereitet), oder schlicht verlassen. Wie die vorgestellten Räume aussehen, ist für den beobachtenden Erwachsenen nicht erkennbar.
Aaron Becker jedoch gibt einen Eindruck davon und nutzt dabei die Möglichkeit entgrenzter Bildwelten, die ineinander übergehen. Aus dem gezeichneten Kreidestrich entsteht ein Portal, das hinüberführt; aus diesem Kreidestrich entstehen aber auch ein Bott, ein Ballon oder ein fliegender Teppich, mit deren Hilfe die Schwerkraft zunehmend aufgehoben und die Weiten zwischen Himmel und Erde geöffnet werden. In sich verschachtelte Städte mit blauen Dächern und goldenen Kuppeln gehen über in eine Steam-Punk-Welt der Luftfahrt; Pagogendächer gehen über in den Sternenhimmel der Wüste, vor deren Horizont sich Minarette abzeichnen. Ganz dem Motiv der Fantasiereise entsprechend löst der Raum sich auf und weicht der wundersamen Schau-Welt in der Tradition der Abenteuerliteratur.
Ihren Ausgangspunkt nimmt diese Reise dennoch im kindlichen Alltag: Dort, wo eigentlich noch Widmung und Impressum des Bilderbuches stehen, fällt der Blick auf eine Straßenschlucht, die im New York von heute gleichermaßen verortet sein könnte wie in anderen Großstädten. Und die in Farbgebung und Arrangement der Requisiten ein wenig aus der Zeit fällt.
Dort, in dieser Straßenschlucht, hockt ein Mädchen vor einem Haus und blickt unglücklich ob der um sie herum „statt“findenden Ereignislosigkeit. Ihr roter Roller lehnt am Geländer, die Mitglieder ihrer Familie sind mit anderen Dingen beschäftigt und ignorieren die implizite Spielaufforderung des Mädchens nicht einmal. Mit dem Kinderzimmer, in das sich das Mädchen zurückzieht, schrumpft der Aktionsraum plötzlich auf den Zimmerrahmen eines Puppenhauses. Die Begrenzung des Raumes entsteht weniger aus dessen Komposition, als vielmehr durch die mangelnde Bewegung der Figuren im Raum. Einzig die mit roter Farbe in die Sepia-Familienwelt gesetzten Spiel-Utensilien des Mädchens (Roller, Drachen und Ball) deuten die Möglichkeit von Bewegung an. Doch niemand reagiert.
Erst der rote Stift befreit das Mädchen aus diesem familiären Guckkasten-Bild und öffnet die phantastische Schwelle in einen Wald voller Weite, Licht und Wasser, in dem der Raum sich ins Unendliche zu dehnen scheint. Jeweils im Weißraum einer neuen Seite platziert Aaron Becker dann auch weitere kleine Bild-Folgen, in denen sich das Mädchen mit ihrem roten Stift neue Fortbewegungsmöglichkeiten kreiert und in den jeweils doppelseitig ausgebreiteten Aktions- und Anschauungsraum hinübergleitet.
Die eigentliche Geschichte entsteht durch die Eroberung dieser Bildwelten durch das Mädchen gleichermaßen wie durch den Blick der Betrachter*innen. Denn das textlose Bilderbuch erzählt nur entlang der Reise des Mädchens durch den Raum – und flicht darin eine kleine Verfolgungsjagd ein, in die auch ein lila Vogel mit langen Schwanzfedern involviert ist. Der Vogel und das Mädchen befreien einander und finden gemeinsam zurück zu einem Weltenportal. Doch siehe da: Diesmal ist die kleine Tür, die jener im Kaninchenbau durchaus ähnelt, lila. Und nicht rot. Dennoch führt sie wieder zurück in jene Straßenschlucht, in der die Geschichte ihren Ausgang genommen hat. Sie war übrigens bereits am ersten Bild zu sehen – dort, wo ein Junge mit dem lila Stift in der Hand steht. Zu Beginn wird ihm natürlich keine Beachtung geschenkt, doch nun liegt in der Begegnung mit ihm der Ausgangspunkt einer neuen Geschichte …
Die besondere Kraft von Aaron Beckers Bilderbuch liegt in dessen Langsamkeit; in dessen Stil-Prinzip, Welten illustratorisch detailliert zu durchstreifen ohne in ihnen zu verharren. Die Reise, die daraus resultiert, spielt sich fern von All-inclusive-Angeboten ab und führt zurück in eine vorgestellte Welt, für die wir mit dem und im Sommer Platz in unseren Köpfen schaffen sollten.
Heidi Lexe
Wer in diesem Sommer nicht in die Ferne reisen möchte, sondern lieber ganz gemütlich im Garten abhängen will, dem sei auch unsere inoffizielle 2. Kröte des Sommers ans Herz gelegt. Rezension von Sofia Lexe:
Ill. v. Eva Muszynski
mixtvision 2015
96 S., € 13,30
Saskia Hula: Elvis im Einsatz
„Im Sommer hatte Elvis viel Zeit.“
Also überlegt Elvis, ein Fundbüro aufzumachen. Das tut er auch. Er benutzt das kleine Gartenhaus. Doch genau in diesem Moment will niemand etwas finden. Also bummelt Elvis die Straße entlang. Elvis schaut über den Nachbarszaun und sieht das nette Nachbarsmädchen Annarita. Die beiden Kinder beschließen, dass sie das Fundbüro ab nun gemeinsam führen. Doch sie müssen sich die verlorenen Sachen erst selbst klauen. Dabei finden sie eine Geldtasche, die anscheinend niemanden gehört. Die Kinder beschließen in die Geldtasche hinein zu schauen. Darin finden sie einige Ausweise und auf jedem dieser Ausweise ist ein Foto zu sehen. Kann damit der Besitzer der Geldtasche gefunden werden? Nach langem hin und her beschließen die beiden zur Polizei zu gehen. Dort ruft ein netter Polizist den Besitzer an und ein gewisser Herr Singelmann holt seine Brieftasche ab. Als Belohnung bekommen die Kinder 10 Euro. Eine gute Grundlage, um im Sommer ein Eis zu essen, und neue Pläne zu schmieden. Zum Beispiel, Polizeieinsatz zu spielen. Auch dabei gibt es wieder einen spannenden Fall zu lösen …
Ich würde dieses Buch als spannende und lustige Sommergeschichte empfehlen.
Sofia Lexe ist 10 Jahre alt und lebt in Villach. Am 14. Juli hat sie erstmals ein STUBE-Praktikum absolviert.
Kröte des Monats Juni 2015
Hinstorff 2015
32 S., € 15,50
Karsten Teich: Suchst du Streit?
“You talkin' to me?“
Als Robert De Niro in Martin Scorseses „Taxi Driver“ sein eigenes Spiegelbild provoziert, fällt eines der wohl populärsten Zitate der Filmgeschichte: „You talkin' to me? Then who the hell else are you talkin' to? You talkin' to me? Well I'm the only one here.“
Eine fiktive Konfrontation, die der Figur die Chance gibt, die Waffe zu ziehen und auf das vermeintlich aufstachelnde Gegenüber zu zielen. Ein Moment, der viel über menschliche Streitkultur verrät und wortwörtlich selbstreflexiv ist. Die vierte Wand durchbricht Robert De Niro dabei allerdings nie, schaut er doch immer haarscharf an der Kamera vorbei. Karsten Teich, der – ob willentlich oder nicht – eine wunderbare Hommage an jene populäre Szene geschaffen hat, ist dabei schon direkter: „Suchst du Streit?“ ist als Buchtitel über den stierenden Augen eines Cowboys gesetzt, der die Betrachter*innen äußerst unmittelbar anblickt; der UNS anblickt?
Folgt man der Einladung oder eher Reizung des Haudegens erwartet einen im Buch die Kulisse einer kleinen Westernstadt. Erbarmungslos brennt die Sonne nieder, die Straße vor dem Saloon ist menschenleer – bis auf einen Unbeugsamen. „He, du!“ ruft er seinem Duellpartner zu … Moment, wer? Hier ist doch niemand! Niemand außer – „Ich?“ fragt eine unidentifizierbare Stimme im Buch, die entsprechende Schrift fast verloren auf einer ansonsten leeren Seite. „Ja, du!“ ist die zornige Antwort auf der anderen Seite. Nicht die Kamera, sondern die Bilderbuchseite wird hier zur Vierten Wand, die munter durchbrochen wird, als unser Antagonist immer näher kommt und uns bei einem Blick aus dem Buch bei der Lektüre ertappt: „Ich mag nicht, wenn man mich anguckt!“ Er möchte nicht angeschaut werden, sagt er, schließlich sei er kein Buch, sondern ein Cowboy! – Ein Cowboy in einem Buch, gibt die betrachtende Stimme zu bedenken. Die Leser*innen hätten ein Recht, das Buch anzusehen, wenn sie es wollen – und damit auch den wütenden Cowboy, der sich seiner Fiktionalität nicht bewusst zu sein scheint. Er ist fest entschlossen, seine gezeichnete Welt gegen jeden Eindringling (lies: Seitenumblätterer) zu verteidigen.
Karsten Teich lässt seine Figur und sein Publikum aufeinander zugehen und setzt den Dialog auf beiden Seiten: Auf der einen Seite ist jeweils unsere Antwort zu lesen, auf der anderen die Stichelei des Großmauls. Der Cowboy begibt sich als Provokateur als erster auf die Metaebene und spricht den Menschen außerhalb der Buchwelt an. Und dem Leser/der Leserin wird unfreiwillig die Rolle des Gegners/der Gegnerin zugeteilt. Beschwichtigungsversuche durch die körperlose Stimme (die auch durch ihr klares, kühles Schriftbild einen starken Kontrast zur aufbrausenden Stimmung des Cowboys bildet) schlagen fehl.
Auch von scheinbarer Gedankenmanipulation durch die Leser*innen – so hält der Cowboy plötzlich statt einer Pistole eine Banane in der Hand – lässt er sich nicht von seinem Plan abbringen: „Einen Schlaumeier wie dich puste ich auch so weg!“ Nur: Pusten kann eine reale Person auch, und zwar besser als jede Buchfigur. Vom ganz konkreten Atemstrom erfasst (beim Vorlesen gerne auch doppelt), wird der Cowboy hoch in die Luft gehoben und immer weiter getragen. Seinen Sheriffstern hat er dabei zwar verloren, ein kleines Lächeln aber gewonnen – soll doch wer anderer nach dem Rechten in seiner Diegese schauen.
Die Leser*innen haben den Kampf um das Buch gewonnen und den Protagonisten aus seinem Erzählumfeld verbannt verbannt. Im Buch sitzt er aber immer noch. Und setzt wohl – ganz wie bei Peter Handke – zu den nächsten, höchst amüsanten Publikumsbeschimpfungen an.
Ein Bilderbuch, das von der Metaebene aus ebenso lustig anzuschauen ist wie von der Bettkante. Und das einen sympathischen Ungustl schafft, der zwar nicht im Duell gegen UNS Leser*innen gewinnt, aber mindestens gegen Robert De Niro.
Simone Weiss und Christina Ulm
Streiten, Pusten, Wischen, Sprechen, Schütteln – Wer braucht da schon Apps? Inspiriert von „Suchst du Streit?“ hat die STUBE eine neue Buchliste zusammengestellt, die Bücher präsentiert, bei denen allerhand zu tun ist.
>>> Zum Mitmachen
Kröte des Monats Mai 2015
Aus dem Engl. v. Ulrike Wasel und
Klaus Timmermann
15,50 Euro
320 S.
rororo 2014.
Holly-Jane Rahlens: Blätterrauschen
Die Zeitreise ist ein alter Menschheitstraum und in Literatur und Populärkultur mit ihren Möglichkeiten, unter Umständen den Verlauf des eigenen Lebens, aber auch den der Geschichte zu verändern, variantenreich vertreten. 2015 ist für das Motiv der Zeitreise in mehrerer Hinsicht ein „Jubiläums-„ beziehungsweise bedeutsames Jahr: Bekanntlich reiste Marty McFly 1985 in die Zukunft des 21. Oktober 2015, 1895 wiederum veröffentlichte H.G. Wells mit „Die Zeitmaschine“ die erste literarische Beschreibung einer Zeitreise in die Zukunft, gattungsprägend und einer der ersten Texte mit einem deutlichen dystopischen Akzent.
Holly-Jane Rahlens, Berliner Autorin mit amerikanischen Wurzeln, hat sich bereits 2012 mit „Everlasting. Der Mann, der aus der Zeit fiel“, ihrem ersten Buch mit phantastischen Elementen, als Meisterin des Zeitreise-Romans gezeigt und mit ausgeklügelten Perspektivenwechseln, sprachlichem Ideenreichtum und vor allem ungemein sympathischen Figuren eine Brücke zwischen Gegenwart, dem dystopischen Szenario eines Dark Winter und dem Jahr 2264 geschlagen. In ihrem neuesten Roman arbeitet sie nun ein weiteres Mal mit jener futuristischen Welt voller Brain Buttons, Swuttle Xs und Plinkblinks, setzt diese jedoch für ein deutlich jüngeres Zielpublikum ab etwa 10 Jahren um.
Ausgangspunkt ist diesmal die Gegenwart der Lesenden, genauer gesagt eine Buchhandlung namens „Blätterrauschen“, in der drei sehr unterschiedliche (und einander nicht besonders sympathische) Kinder, Oliver, Iris und Rosa, auf den Beginn ihres Leseclubs warten. Plötzlich taucht Colin auf, ein Bub aus der Zukunft, der zunächst meint, inmitten eines Virtual-Reality-Spiels mit totaler Immersion zu sein. Doch bald wird klar, dass hier etwas gewaltig schiefgegangen ist – und Cornelia, die Inhaberin der Buchhandlung, eine Rolle dabei spielt. Die Kinder landen in einer noch etwas ferneren Zukunft des Jahres 2273. Doch während Finn, der erwachsene Protagonist von „Everlasting“, seine Zeitreisen aus freiem Willen und im Laufe der wachsenden Zuneigung zu seiner Eliana, auch mit gutem Grund, antrat, sind die Kinder hin- und hergerissen zwischen Faszination und Angst, Neugierde und Heimweh – und müssen bald feststellen, dass sie in eine durchaus gefährliche Situation geraten sind.
Voller literarischer („Harriet Topper und der Schrein der Weisen“) und zeitbezogener (Kultgetränk Moca-Mola) Anspielungen nimmt Holly-Jane Rahlens Figureninventar, Erzählstränge und Motive aus „Everlasting“ auf und verknüpft sie mit dem literarischen Interesse ihrer kindlichen Hauptfiguren. So ist es (natürlich!) ausgerechnet ein im Jahr 2273 längst zur Antiquität gewordenes Buch, das die Verknüpfung zwischen den beiden Zeitebenen herstellt … Lesevergnügen ist jedenfalls auch ohne Kenntnis von „Everlasting“ garantiert – wobei natürlich die Möglichkeit besteht, anschließend „Everlasting“ wieder zu lesen, dann wieder „Blätterrauschen“, oder umgekehrt, und sich damit in eine Zeitschleife der etwas anderen Art zu begeben ….
Kathrin Wexberg
Auf Einladung der STUBE war Holly-Jane Rahlens in Österreich zu Gast: Einen umfassenden Rückblick auf die exklusive Lesung in der STUBE in Wien unter dem Motto "Magisches Magenta" und die Fernkurstagung "gorkicht im gemank", bei der die Autorin ebenfalls aufgetreten ist, finden Sie hier:
>>> Lesung in der STUBE mit Holly-Jane Rahlens
>>> Großer Rückblick auf die Fernkurstagung "gorkicht im gemank" in Strobl
Unsere Gratulation zum 50. Geburtstag des Instituts für Jugendliteratur von Michael Roher, gibt es hier zu Bewundern >>> Alles Gute
Kröte des Monats April 2015
45,20 Euro
284 S.
Coppenrath 2014.
Die Bibel. Erzählt von Philippe Lechermeier. Ill. v. Rébecca Dautremer.
Eine Bibel, die nicht aussieht wie eine Bibel, und auch keine sein will.
Nicht aussieht wie eine Bibel
Auf dem Cover ein indianisch wirkendes Mädchen. Die Illustrationen der weltweit anerkannten französischen Künstlerin Rebécca Dautremer sind ganz anders als traditionelle Bibelbilder: nichts Orientalisierendes, nichts Historisierend-Realistisches, nichts Fromm-Didaktisches.
Keine Bibel sein will
Der Autor Philippe Lechermeier sieht die Bibel als Gemeingut, das nicht nur einer Religion vorbehalten ist. Er macht sich an eine Neuerzählung, weil er davon überzeugt ist, das die Bibel aus Geschichten – aus Tausenden von Erzählungen, Mythen, Märchen und Legenden – besteht, die über Jahrtausende von Generation zu Generation weitergegeben und immer neu entdeckt wurden, aus Geschichten, die auch „uns“ etwas angehen, weil sie auch „von uns erzählen“. Egal ob man gläubig ist oder nicht, die biblischen Leitbilder prägen unsere Gesellschaft, kreisen in unserem Unbewussten. „Wie soll man die Welt verstehen, wenn man die Bibel nicht gelesen hat und nicht weiß, wer Abraham ist oder Goliat, die Königin von Saba oder Maria Magdalena. Wie soll man die Kunst entziffern, die Architektur, die Literatur, ohne das mythische Fundament unserer Gesellschaft zu kennen? (S. 7).
Lechermeier schreibt: „Diese Bibel ist nicht die Bibel“ – Damit ist ein Dreifaches gesagt: (a) Es geht nicht um eine Förderung des persönlichen Glaubens im Kontext jüdischer oder christlicher Glaubensgemeinschaften, sondern um die Erschließung einer zentralen kulturellen Wurzel Europas. (b) Lechermeier hält sich nicht an den biblischen Kanon, sondern er wählt aus der Fülle der biblischen Texte aus, schafft durch seine Anordnung neue Zusammenhänge. Am Ende des Alten Testaments steht etwa ein so genanntes „Buch des Exils“, das mit Ijob schließt. Manches ergänzt der Autor aus apokryphen Schriften. Der neutestamentliche Teil setzt sich ausschließlich mit den Evangelien und dem Leben Jesu auseinander, die zu einer chronologischen Erzählung verschmolzen werden. Die – durchaus narrative – Apostelgeschichte, in der es primär um die Kirche geht, fehlt. Die – für Nacherzählung wenig geeignete – Briefliteratur des Neuen Testamentes sowieso. (c) Lechermeier lädt ausdrücklich zur subjektiven Aneignung ein: „Ich wünsche mir, dass jeder Leser sich aus meiner Nacherzählung das mitnehmen kann, was für ihn wichtig ist. (S. 7)
poetische Vielfalt
Es gibt in dieser Bibel Erzählungen, Berichte, Dramen, vielstrophige Gesänge oder schlichte lyrische Texte – immer von starker und faszinierender Ausdruckskraft: Die Entstehung der Welt oder der Bruderkonflikt zwischen Kain und Abel sind als Gedicht gestaltet. Die Geschichte von Adam & Eva als einfühlsame Erzählung – „Sie beobachteten sich erstaunt, denn sie ähnelten sich sehr und waren doch verschieden. Sie ließen ihre Augen über den Körper des anderen wandern. Adam betrachtete die Frau und die Frau betrachtete Adam. Langsam, ohne Scham, ohne Verlegenheit. Und so blieb es lange Zeit.“ (S. 24) Inhaltliche Akzent werden mitunter graphisch deutlich verstärkt. So nehmen die beiden Sätze nach dem Sündenfall „Und wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Die Frau deutete auf Adam.“ eine komplette Seite ein.
Der Turmbau zu Babel ist in Dialogform gehalten; in der Geschichte von Jakob & Rahel wird das rhetorische Stilmitel der Anapher eingesetzt: Jeder der 50 Sätze beginnt mit dem Wort „Und“. Die „Träume des Josef“ werden als Theaterstück in drei Akten mit Chor dargeboten, der Auszug aus Ägypten in Form von sechs „Gesängen der kleinen Mücke“ nahegebracht. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Anzumerken ist aber: Diese Vielfalt der literarischen Gattungen entspricht jener im biblischen Original.
Die Sprache ist durchgängig lebensnah, sie lädt zur Lektüre ein, die Texte sind – sicher auch für Jugendliche – spannend zu lesen. Es sind poetische Texte, die zu Herzen gehen. Man kann sie durchaus als Gesamtkunstwerk bezeichnen, das völlig neue und unerwartete Sichtweisen auf die Heilige Schrift eröffnet. Man sollte aber im Blick haben, dass man durch die Augen der Künstler schaut. Manches ist auch befremdlich, etwa, dass nicht ein „Engel“ die Botschaft an Maria verkündet, sondern ein „Vogelmensch“.
Die Bilder!
Eigenwillig und voller Überraschungen sind auch die Bilder. Sie sind im Grunde ein zweites Gesamtkunstwerk, denn sie illustrieren nicht einfach den Text, sondern begleiten ihn eigenständig. Meist großformatig, eine ganze oder auch zwei Seiten ausfüllend, lässt sich nicht jedes Bild auf dem ersten Blick dem Text zuordnen. Anspruchsvoll und tiefgründig verarbeitet Rebécca Dautremer Aspekte der biblischen Geschichten. Den Garten Eden färbt sie in knalliges Grün, den Nil in blutiges Rot. Mit filigranen Schwarz-weiß-Zeichnungen werden Persönlichkeiten feinfühlig charakterisiert. Dabei verwendet sie immer wieder originelle Ideen und ungewöhnliche Perspektiven. Manches wie der indianisch aussehende Vogelmensch wirkt fremdartig. Nicht wenige Darstellungen sind abgründig und gruselig. Manche prüde Zeitgenossen werden vielleicht an der Nacktheit Adams und Evas Anstoß nehmen (aber im Paradies gab es – per definitionem – noch keine Schamhaare).
Die Bilder machen neugierig. Sie laden ein, in sie einzutauchen, und wer dieser Einladung folgt, wird eine Fülle an Details entdecken. Oft bringen sie die Geschichte drastisch nahe: Das bedrohliche Doppelporträt von Kain und Abel (in Großformat über zwei Seiten), oder die geniale Idee, den Turm zu Babel nicht im Hochformat auf eine Seite zu setzen, sondern im Querformat über zwei Seiten. Dem Betrachter förmlich ins Gesicht springt der – dreimal krähenden – Hahn, dessen blutig roter Kopf und Kamm eine ganze Seite ausfüllt. Beeindruckend ist, dass dem Kreuzestod Jesu acht reine Bildseiten folgen.
Die Bilder suggerieren nicht, dass es sich um vertraute Geschichten handelt. Trotz aller existentiellen Anknüpfungspunkte wahren sie die Distanz und die Fremdheit der biblischen Inhalte.
Eine Bibel für Jugendliche und kulturell interessierte Erwachsene, die Freude an literarischer Vielfalt und abwechslungsreichen, phantasievollen und tiefgründigen Bildern haben. Ein Buch, das vielleicht auch auf das Original neugierig macht.
Erhard Lesacher, THEOLOGISCHE KURSE
Mag. Erhard Lesacher ist Leiter der Theologischen Kurse, einer Partnereinrichtung der STUBE innerhalb der Erzdiözese Wien und der Bischofskonferenz. Alle Mitarbeiter*innen der STUBE haben bei ihm und seinem Team ihre theologische Ausbildung absolviert. Und sich dabei von jenem Leitsatz anstecken lassen, den Erhard Lesacher auf der Homepage der Theologischen Kurse formuliert:
Ich möchte bei den Theologischen Kursen mit meiner Begeisterung an (systematischer) Theologie anstecken und möglichst vielen Menschen eine Begegnung mit den „Glutkernen" des christlichen Glaubens ermöglichen.
Eine Begegnung, die auch durch Bücher wie jenes von Philippe Lechermeier und Rébecca Dautremer gestärkt wird. Die Rezension ist der erste Gastbeitrag, den Erhard Lesacher für die STUBE verfasst hat.
Mit dieser besonderen Buchempfehlung wünscht das Team der STUBE gesegnete Ostern!
Kröte des Monats März 2015
Aus dem Dänischen von Maike Dörries.
Gerstenberg 2014
Kim Fupz Aakeson/ Julie Völk: Das Löwenmädchen.
„Louise hat einen eigenen Löwen.“ – „Wie bitte?“ Ungläubig hakt eine Stimme im Buch nach, tritt in Dialog mit dem Erzähler. Ein Dialog, wie Louise ihn schon lange nicht mehr führt: Seit sie Löwe hat, spricht sie mit niemandem mehr, und sie wird auch selbst nicht mehr angesprochen und geärgert. Nach einiger Zeit ist zu dieser äußeren Sprachlosigkeit noch eine innere getreten – Louise kennt die Namen der Menschen um sie herum nicht mehr, nennt sie einfach „Kinder“ und „Lehrer“. Auch Löwe hat keinen Eigennamen, er heißt einfach „Löwe.“ In seiner Gestalt ist Louises ganze Vorstellungskraft und emotionale Energie zentriert. Löwe ist immer bei ihr, beschützt sie, hört ihr zu. Er kümmert sich um Louise wie sie sich um ihn. Wenn er traurig ist und seine Familie daheim in Afrika vermisst (so wie Louise wohl ihre Mutter, die keine Zeit für sie hat, und den Vater, der generell abwesend ist), dann kann nur sie ihn trösten.
Wo Löwe ist, wird das Leben strahlend für das einsame Mädchen. Bis ein Eindringling die Realität ihre Fantasiewelt bedroht. Der neue Nachbar – ein Großwildjäger, ohne Zweifel – zwingt Löwe in den Schrank. Louise, scheinbar ganz auf sich allein gestellt, ist wieder der Welt ausgesetzt, vor der sie sich so lange versteckt hat ...
Überdimensional groß und bedrohlich lässt Illustratorin Julie Völk die Menschen aussehen, wenn Löwe im Schrank sitzt. Bis der große Großwildjäger auch optisch ein harmloser Mann (der neue Freund der Mutter? Da seine Freundlichkeit Löwe verschwinden lässt, war Louises Vater vielleicht der Grund für Löwes Auftreten?) wird, dauert es mehrere Seiten.
Die warme, schützende Kraft des imaginierten Freundes zeigt Julie Völk durch helles Gelb, das den ganzen – ebenfalls überdimensional großen – Tierkörper ausfüllt und über seine Umrisse hinaus auch Louise umfließt. Farblich dominiert Bleistiftgrau, durchsetzt durch die roten Wangen, die Louise sichtbar noch mit den anderen Menschen verbinden. Aufmunternd wirkt die Farbe aber nicht, ebenso wenig wie das kalte Blau von Louises Haus. Denn gegen das kräftige Gelb des Löwenfells wirken die anderen Farben blass. Löwe ist mehr als nur ein Farbtupfer in der überwiegend grauen Welt, er ist ihr Zentrum. Automatisch wandert der Blick zu dem strahlenden Licht, sodass man nicht sofort bemerkt, was die Illustratorin in ihrem Erstlingswerk noch alles geschaffen hat: Da ist zum Beispiel die (realgroße) Katze, die sich auf jeder Seite herumtreibt und am Ende des Buches auf dem Balkongelände neben Louise steht. Oder der Drache, der freundlich und unbeachtet neben einem ängstlich wirkenden Jungen in der Schule hervorschaut und sich vermutlich gut mit Löwe vertragen würde … Ist man erst nicht mehr vom Löwengelb geblendet, sieht der Alltag bei allem Grau doch sehr faszinierend aus.
Simone Weiss
Passend zur Kröte des Monats findet am 20. März 2015 ein STUBE-Freitag mit der Künstlerin Julie Völk statt, zu dem wir herzlich einladen: Unter dem Motto "Go-Go Gelb" präsentiert das Team der STUBE Kinder- und Jugendliteratur zur leuchtendsten aller Farben und bittet im Anschluss die Illustratorin zum Werkstattgespräch.
Nähere Informationen und das gesamte Veranstaltungsprogramm der STUBE für den Frühling finden Sie >>> hier
Kröte des Monats Februar 2015
Residenz 2014.
256 S.,
€ 26,00.
Ich bin ich. Mira Lobe und Susi Weigel.
Ausstellungskatalog. Hrsg. v. Ernst Seibert, Georg Huemer, Lisa Noggler-Gürtler.
Ich war ich. Als ich klein war. Oder anders herum: Als ich klein war, war ich das kleine Ich bin ich. Wir haben Mira Lobe und Susi Weigels Bilderbuch 1986 im Kindergarten aufgeführt, nur für uns, ganz ohne elterliches Publikum, aber immerhin: Ich durfte Flatterohren und einen langen, bunten Schwanz aus Wollfäden tragen und – auf Schweizerdeutsch! – rufen: „Sicher git’s mich: Ich bi ich!“
Solcherart sind wir also auch über die Landesgrenzen hinaus von dem berühmtesten Buch des „erfolgreichsten Duos der jüngeren österreichischen Kinder- und Jugendliteraturgeschichte“ ermutigt und ermächtigt worden: Von jenem „Jahrhundertwerk“ (Renate Welsh), das sich als titelgebendes Motto und als buntkarierter Faden durch die aktuelle Sonderausstellung des Wien Museums und durch den dazu publizierten Katalog zieht.
45 gemeinsame Bücher haben Mira Lobe und Susi Weigel geschaffen, zahlreiche Arbeiten in der vom kommunistischen Wiener Globus-Verlag herausgegebenen Kinderzeitschrift „Unsere Zeitung“ kommen dazu. Doch während sich „Das kleine Ich bin ich“ im kollektiven Gedächtnis mehrerer Generationen auch über die Landesgrenzen hinaus gehalten hat, wurden und werden die anderen „Mira-Susi-Bücher“ vorwiegend in Österreich rezipiert. Und auch dort gerät der Name der Künstlerin Weigel gegenüber demjenigen der Autorin Lobe offenbar allzu oft in Vergessenheit. Ausstellung und Katalog bieten nun eine Bühne für das Werk beider Frauen – einzeln und im Verbund können sie (neu) entdeckt und in ihrer ganzen Schaffensvielfalt erkundet werden.
Die Zusammenstellung ihrer Bildwelten und Sprachbilder ist, wie Georg Huemer vom Kurator*innenteam im Vorwort schreibt, zu einem „Erinnerungslabyrinth“ geworden, durch das sich jedeR einen eigenen Weg suchen darf, suchen muss: Denn die Geographie des 256 Seiten schweren, großformatigen Bandes wird durch magische Schwellen, fluide Landschaften und unscharfe Grenzen in der Schwebe gehalten, von kleinen Geschichten mehr denn von großen Narrativen durchzogen und von Wegweisern abgesteckt, die keine Anweisungen geben, sondern Einladungen aussprechen. Im "Ich bin ich" zu verweilen, etwa, und dort die bewegten, durchaus auch konfliktreichen Biografien der beiden Frauen nachzuvollziehen, die in Wort und Bild mit der Zeit-, Literatur-, Verlags- und Kulturgeschichte verwoben werden. Dann vorzublättern und jene "Sehnsuchtsorte" zu besuchen, an denen Utopie und Alltag Hand in Hand gehen, um die Selbstermächtigung des Kindes voranzutreiben; voranzuschreiten und jene "Freiräume" einzufordern, in denen Solidarität und Selbstbehauptung keine Widersprüche bleiben müssen. Dann, vielleicht, einen Schritt zurückzutreten und den "Gemeindebau" auszuloten, in dem die Verhältnisse oft allzu beengt sind, der aber auch Nähe verspricht und an dem es passieren kann, dass zwei „nach Raufen und Schupsen / zärtlich die Nasen zusammenstupsen.“ (Lobe/Weigel, Die Geggis, Kapitelmotto) Und nicht zuletzt lädt der wunderschön gestaltete Band dazu ein, einzutauchen in jenes „Umspannwerk“, mit dem Mira Lobe und Susi Weigel die Brücke und den Bogen zwischen "Alten, Mittleren und Jungen" schlagen.
Orte für alle gibt es in dieser Landschaft auf jeden Fall genug, um mehr als einen Winntersonntag zu verträumen: Warum sich nicht verlieren in Winfried Opgenoorths Wimmelbildern, mit denen er etwa in Lobes "Es ging ein Schneemann durch das Land" (1980) dem ganz normalen Winterchaos eine fantastische Note und zugleich eine in der ganz konkreten Not des Außenseiters verankerte Erfahrungsdimension verleiht? Warum nicht verweilen bei einem der vielen Entwürfe, die Susi Weigel und Mira Lobes "gemeinsame Elternschaft" bei der Genese eines Werkes ganz plastisch vor Augen führen? Gerade als Schweizer*in mag man sich auch der Verlockung einer österreichischen "Fortbildung in der Disziplin Kreatives Schimpfen"(Wolfgang Kos) hingeben, die mit Kreationen wie "Gatschler" und "Schluchtenhaxler" aufwartet. Vor allem aber besticht der Band nebst aller Bild- und Klangfülle durch 18 kurze, prägnante Analysen, die sich dem Werk und dem zeitlichen und politischen Hintergrund der beiden Künstler*innen widmen. So fragt etwa Karl Müller danach, ob in Lobes aufklärerischem, demokratisierendem Werk spezifisch weibliche und jüdische Lebenserfahrungen sichtbar werden und kommt zum Schluss, dass ihre für ein erwachsenes Lesepublikum verfasste Erzählung "Die Lüge" (1972) gewissermaßen die tragische, dunkel-abgründige Fassung von Anliegen darstelle, die in ihren Kinder- und Jugendbüchern "ins Helle, ins Optimistische, ins für die Leser und Leserinnen psychisch Stärkende gewendet" werden: „Mira Lobes literarische Welt ist eine unsichere, gefährliche, eine durch Standes- und Klassenunterschiede, durch geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten, eine durch Leistungsfetischismus entsolidarisierte und nicht zuletzt durch Rassismus bedrohte und auch zerstörte Welt“, schreibt Müller. Ihr Erzählen sei deshalb stets ein "Dennoch-Erzählen"; ein Erzählen, in dem sich autoritätskritische mit utopischen Zügen mischen und Vorurteile als Ausdruck kollektiver Ängste entlarvt werden. Letzterem Phänomen nähert sich Heidi Lexe von einer anderen Seite: Sie deutet die Monster-Figuren in Lobes Werk als Projektionsflächen von Ängsten und Albträumen, als "soziale Herausforderung", die für "Irritationen im sozialen Gefüge" sorgen und dadurch gesellschaftliche Bruchstellen und Herrschaftsgefüge zutage treten lassen. Sylvia Zwettler-Otte schließlich liefert neben ihrer psychoanalytischen Interpretation von Lobes Roman „Die Räuberbraut“ auch eine interessante – und rare – Kritik am "Ich bin ich": Die dort behauptete Identitätsbildung könne auf diese Weise nicht stattfinden; es bedürfe immer "eines anderen, der die schrittweise Entdeckung des kindlichen Ichs bestärkt, anerkennt und verbal bestätigt" – die Beliebtheit der Geschichte sei wohl mehr dem "Lustgewinn der Erwachsenen zu verdanken, für die der narzisstische Rückzug, sich alles selbst geben zu können, eine trostvolle Illusion sein kann im frustrierenden Alltag“.
Der Ausstellungskatalog "Ich bin ich" ermöglicht sowohl einen sinnlichen und emotionalen als auch einen analytischen Zugang zum Werk zweier Künstlerinnen, die hier ganz stark auch als politisch geprägte und engagierte Figuren zum Vorschein treten. Immer wieder wirft er Fragen nach der Position künstlerisch tätiger und spezifisch mit Kinderliteratur beschäftigter Frauen auf. Er idealisiert und verklärt weder Werk noch Zusammenarbeit der beiden Frauen, verweist auf Mira Lobes privilegierte Stellung und die fehlende Würdigung Susi Weigels, deutet „Auflösungserscheinungen“ in ihrer Teamarbeit und Vorwürfe fehlender politischer Korrektheit in Bezug auf ihre Darstellung schwarzer Figuren (wenn auch nur am Rande) an und macht auf die politischen Spannungen aufmerksam, vor deren Hintergrund vor allem Lobe agierte. Und begeistert, ganz nebenbei, mit einer Fülle an entzückenden, wenig bekannten Details. Oder wussten Sie bereits, dass das Bimbulli früher „das Fetzerl“ hiess?
Manuela Kalbermatten
Bis 1. März 2015 ist im Wien Museum die empfehlenswerte Ausstellung „ICH BIN ICH. Mira Lobe und Susi Weigel“ zu sehen.
Am Dienstag, 17. Februar um 16:30 Uhr wird es für STUBE-Interessent*innen eine Spezialführung mit Co-Kurator Dr. Georg Huemer geben. Bei Interesse bitten wir um baldige Anmeldung an folgende Mail-Adresse stube@stube.at
Treffpunkt ist am 17. Februar 2015, um 16:00 Uhr im Foyer des Wien Museums, der Eintritt inklusive Führung kostet ermäßigt 6 Euro pro Person. Wir freuen uns darauf, gemeinsam durch die Text- und Bildwelten von Mira Lobe und Susi Weigel zu wandern.
Die Autorin der Rezension, Manuela Kalbermatten, war im Jänner in der STUBE zu Gast. Einen Rückblick auf die Veranstaltung zum Thema "Dystopien" finden sie
>>> hier
Kröte des Monats Jänner 2015
Loewe 2012
bis 2014.
Ursula Poznanski:
Die Verratenen / Die Verschworenen / Die Vernichteten
Willkommen im neuen Jahr! Für kurze Zeit um den Jahreswechsel hat der Winter Ernst gemacht und uns wenige wunderschön eisige Tage und in manchen Gebieten reichlich Schnee beschert. Die idealen meteorologischen Rahmenbedingungen also, um sich auf eine dystopische Welt im ewigen Eis einzulassen: Zum Beispiel auf eine Welt nach einer Klimakatastrophe (als „Ausbruch“ benannt), in der eine kleine Gruppe der ehemaligen mitteleuropäischen Bevölkerung das ultimative Pendant zur Erderwärmung in so genannte Sphären überlebt hat – futuristische, kuppelartige Gebilde, die in ihrer Ausstattung ein wenig an George Orwell gemahnen und denen auch ein ähnliches Überwachungssystem etabliert wird. Man trägt so genannte Salvatoren am Handgelenk, die sowohl Angaben zur Nahrungszufuhr machen, als auch der Kommunikation dienen (respektive der Überwachung, wie sich nach und nach herausstellt). Ria lebt in einer dieser Sphären (Neu-Berlin) als Eliteschülerin der Borwin-Akademie, benannt nach dem Gründer der Sphären. Einst soll sie zur Elite des Sphärenbundes gehören und wird dafür – wie andere Elite-Schüler*innen auch – in einem Spezialgebiet geschult. In Rias Fall ist es die Kommunikation, die sowohl Vielsprachigkeit als auch die Fähigkeit umfasst, Sprache im Sinne von Körpersprache zu begreifen und zu beeinflussen. (In jener Welt, die durch den Ausbruch zerstört wurde, wäre Dr. Carl Lightman durchaus bereit gewesen, Ria in sein „Lie to me“-Team aufzunehmen.) Ein im Rahmen der Lebensbedingungen – und Ria kennt keine anderen – unbeschwertes Leben also, das sich dramatisch ändert, als plötzlich von einem Verrat gesprochen wird. Respektive geflüstert – hinter den Planen einer Baustelle in der Nähe der Bibliothek, in die Ria soeben (natürlich auf den letzten Drücker) ein Buch zurück gebracht hat.
Diesen Verrat macht Ursula Poznanski zum Ausgangsmotiv einer Future-Fiction-Trilogie, die mit dem im Herbst 2014 erschienenen Band „Die Vernichteten“ abgeschlossen ist. Und bereits die Steigerung vom titelgebenden Verrat des ersten zur Verschwörung des zweiten und Vernichtung des dritten Bandes zeigt die spannungsgeladene Erweiterung dieses Grundmotivs. Mit jedem Band wird der Fokus vergrößert, wird mit dem Handlungsraum und den Figurenkonstellationen auch der Blick auf und das Wissen um das einstige Grundmotiv erweitert. Mit jedem neuen Band wird eine neue Erkenntnis hinzugefügt – und war man am Ende des zweiten Bandes der Meinung, die Verschwörung bereits durchschaut zu haben, so werden im dritten Band die Karten nochmals neu gemischt und ein elitärer Männer-Zirkel etabliert, mit dem Dan Brown seine wahre Freude hätte.
Der Ich-Erzählerin Ria folgend glaubt man vorerst, bei dem Verrat, dessen Ria und 5 andere Elite-Schüler*innen bezichtigt werden, handelt es sich um einen Irrtum (oder eine Verschwörung). In Band zwei jedoch muss man bemerken, dass Ria sehr wohl – und zwar unwissend Teil – selbst Teil einer solchen Verschwörung ist, die im Zwei-Welten-System der dystopischen Welt gründet: Nicht nur in den Sphären, sondern auch außerhalb haben Menschen (in unterirdischen Verstecken) die Klimakatastrophe überlebt und versuchen nun, die Erde unter radikalen Umweltbedingungen wieder bewohnbar zu machen. Durch entsprechende literarische Zeichensetzung erinnern sie an indigene Völker und werden von den hochtechnisierten Sphären-Bewohner*innen dem als Primitive (Prims genannt) bezeichnet. Ria wächst im Glauben auf, dass es zu einer Versöhnung und Re-Integration der Prims kommen soll (an der sie auf Grund ihrer Elite-Fähigkeiten mitwirken soll); auch wenn die Prims ein angeblich oft grausames Leben führen und ihre Kinder aussetzen, die dann von den Sphären-Bewohner*innen gerne gerettet werden.
Der Perspektivenwechsel, der einsetzt, als Ria gemeinsam mit den anderen „Verrätern“ flüchtet und auf Prims stößt, ist genreimmanent: Sie wird von einem Clan aufgegriffen, der nahe der Sphäre Vienna II siedelt (und in Ruinen zu überleben sucht, die an das uns bekannte Wien gemahnen). Antipathien, Vorurteile und Sympathien werden dabei auf die Clan-Mitglieder ebenso wie auf die geflüchteten Elite-Schüler*innen verteilt. Und obwohl mit dem ebenfalls geflohenen Aurelio liiert, verliebt Ria sich wenig überraschend in den wilden, gut aussehenden Sandor, der wenig später selbst zum Clan-Führer wird und feststellen muss, das die Geheimnisse des Clans weit grausamer erscheinen, als Sphärenbewohner*innen sie je utopiert haben.
Hier weicht Ursula Poznanski von etablierten Erzählmustern ab und lässt das Motiv der Verschwörung mehrmals unter neuen Voraussetzungen wirksam werden. Durch ihre Arbeit für den Bewahrer des Clans – Quirin – vermag Ria die Bruchstücke einer überraschenden Wahrheit nach und nach zusammenzusetzen. Wesentlicher Bestandteil des Puzzles ist „Jordans Chronik“, die bereits in den Sphären (im Flüsterton hinter der Bibliothek) als maßgeblich für Verrat und Verschwörung angesehen wurde. Durch ihre Arbeit für Quirin stößt Ria auf überlieferte Papierfetzen dieser Chronik und kann sie nach und nach in all das einordnen, was sie beobachtet, erfragt oder recherchiert.
Zunehmend verschwimmen Täter und Opfer und von Band zu Band werden die jeweiligen Rollen neu verteilt – auch jene, die Ria selbst einnimmt. Dazu gehört auch die Wahrheit um ihre eigene Biografie und Zugehörigkeit, die sich nach und nach ganz anders darstellt als geglaubt. Ist es Ria, die Verstoßene der Sphären, die letztlich das Überleben dieser Sphären sichern kann? Und gleichzeitig eine Vernichtung der Prims durch die Sphären verhindern kann? Ist der Notwendigkeit, eine neue Welt nach dem Ausbruch aufzubauen, vielleicht sogar eine viel größere Verschwörung, ein viel umfassenderer Vernichtungsschlag vorausgegangen?
Ursula Poznanski schreibt sich mit einer zügig erzählten und spannend zu lesenden Trilogie nicht nur in das In-Genre der Dystopie ein, sondern schärft deren politische Fragen mit Hilfe eines Erzählkonzeptes, das Einzelbilder gleichermaßen bestätigt und befragt – und immer neu als Teile eines Gesamtbildes ausweisen.
Also rein in die winterwarme STUBE und lesen, lesen, lesen. Oder raus in den Schnee, sich bewegen und dabei das Hörbuch hören, in dem Julia Nachtmann mit angenehm abgedunkelter Stimme der Ich-Erzählerin Ria folgt.
Heidi Lexe
Mit diesem besonderen Buchtipp lädt das Team der STUBE zu einem besonderen STUBE-Freitag mit Manuela Kalbermatten:
Das Spiel ist aus. Filmgespräch zu aktuellen Dystopien
STUBE-Freitag (am Mittwoch)
Zu Gast: Manuela Kalbermatten
Mittwoch, 14. Jänner 2015
18-21 Uhr
STUBE, Stephansplatz 3/II, 1010 Wien
"Die Tribute von Panem", "Divergent" oder "The Maze Runner" nehmen filmisch jenen Trend auf, der seit einigen Jahren auch die Jugendliteratur bestimmt: Anhand ausführlicher Filmausschnitte soll der Visualisierung von post-apoklyptischen und dystopischen Szenarien in der Diskussion nachgegangen werden.
Begleitet wird das Filmgespräch von lic. phil. Manuela Kalbermatten, Lehrbeauftrage am Institut für Populäre Kulturen in Zürich und Expertin für Genderfragen in der Phantastischen Literatur und Science Fiction.
Das Filmgespräch findet im Anschluss an die Lehrveranstaltungseinheit zu Genderaspekten in Dystopien im Rahmen des Proseminars „Phantastische Welten in der Jugendliteratur“ (Leitung Dr. Sonja Loidl) in der STUBE statt.
Teilnahme an der Proseminareinheit gerne auf Anfrage.
Das Filmgespräch ist für alle STUBE-Interessierten öffentlich zugänglich.