Aus d. Ukrain. v. Claudia Dathe / Aus d. Russ. v. Lorenz Hoffmann und Thomas Weiler.
Gerstenberg 2023.
64 / 48 S.

Romana Romanyschyn / Andrij Lessiw: Hierhin, dahin. Immer in Bewegung.
Alexandra Litwina / Anna Desnitskaya: Alle einsteigen! Die Geschichte der U-Bahn

Ein Format, ein Verlag, zwei Bücher – die sich irgendwie ähneln und in ihrer Ähnlichkeit doch unterschiedlicher nicht sein könnten. Beide bei Gerstenberg erschienene Sachbücher beschäftigen sich aus verschiedenen Perspektiven mit der Geschichte und Gegenwart (nicht nur) menschlicher Mobilität und nehmen dabei auch größere Zusammenhänge in den Blick. Die beiden Allround-Künstler*innen Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw spüren in „Hierhin, dahin“ raffiniert und umsichtig der Bewegung durch den Raum in all ihren Facetten nach. Die Autorin Alexandra Litwina und die Illustratorin Anna Desnitskaya hingegen begeben sich vielmehr auf eine Reise durch die Zeit und richten ihr Interesse in „Alle einsteigen!“ ganz konkret auf die Geschichte der U-Bahn – die wiederum exemplarisch zeigt, wie wissenschaftlicher Fortschritt und kultureller Wandel menschlichem Zusammenleben seine bewegte Form geben.

Von links nach rechts eilt die namenlose Figur, die die Leser*innen von „Hierhin, dahin“ durch das Buch begleitet, über die Doppelseiten. Ein*e Reisegefährt*in, der*die sich in Bewegungslinien hüllt wie in einen schützenden Mantel – obwohl es gerade diese auslaufenden Linien sind, die die Konturen der Figur nach außen hin öffnen. Dort, an den Rändern, verliert sich die klare Abgrenzung zum Weißraum, auf dem Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw ihre eindrucksvollen Schaubilder gestalten. In leuchtenden Farben und klaren, geometrischen Formen bewegen sich Lebewesen, Gegenstände, Materie und Ideen über thematisch je in sich geschlossene Doppelseiten. Miteinander verbunden sind sie dennoch; durch die Buchgestaltung, richtungsweisende Schraffierungen, Pfeile und vor allem eine Linie in leuchtendem Korall-Rot, die unter den Füßen des*der Reisebegleiter*in zum Weg wird. Die Seiten widmen sich dabei ganz unterschiedlichen Themenkomplexen, von tierischen Bewegungsapparaten über Verkehrsmittel, Kartografie und Pilgerreise bis hin zum Weltraum. Die knappen Textblöcke versuchen sich nicht an einer Erklärung bis ins kleinste Detail, sondern machen immer weitere Denkräume auf, indem sie auswählen, anknüpfen und assoziieren.

Anders, nämlich von oben nach unten, wurden in London die weltweit ersten U-Bahn-Schächte in die Erde gegraben. Doch obwohl die Fortbewegung im Untergrund klar im Fokus von „Alle einsteigen!“ steht, schauen auch Alexandra Litwina und Anna Desnitskaya in mehrere Richtungen. Sie geben einerseits Einblick in die historische Entwicklung und kulturelle Bedeutung des durch diverse Hilfsmittel erweiterten menschlichen Bewegungsradius von der Erfindung des Rads bis in die Gegenwart; andererseits richten sie ihr Interesse auf die physikalischen und technischen Vorgänge, die diese Erweiterungen erst möglich machen. Mit charmantem Bildwitz und einem angemessenen Maß an inhaltlicher Detailverliebtheit werden so exemplarisch (etwa anhand der Berliner U-Bahn, der Transsibirischen Eisenbahn oder des Eurotunnels) Zusammenhänge erklärt, die fest in unseren Alltag integriert sind und trotzdem oft im Verborgenen bleiben. Querschnitte, Fahrplannetze oder auch großflächige Landschaftsillustrationen bieten dafür die illustratorische Spielwiese.

„Alle einsteigen!“ und „Hierhin, dahin“ sind zwei Sachbücher, die in jeweils einzigartiger Weise große Themen aufbereiten, einmal mit historisch-wissenschaftlichem Grundinteresse und einmal auf abstrakt-assoziativere Weise – in beiden Fällen aber mit großem Mehrwert für die Leser*innen. Dabei werden überraschende Verknüpfungen gemacht und durchaus auch Fragen gestellt, die nicht sofort beantwortet werden können. Und gerade dieses angestoßene Weiterdenken macht den Lektüreprozess auch so bereichernd. Oder, wie es auf der ersten Seite von „Hierhin, dahin“ heißt: Jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt

LESEN – SPRECHEN – TUN

Lesen – An die Dosierung von Sachinformationen für die Leser*innen gehen die zwei Bücher sehr unterschiedlich und doch in jedem Fall stimmig heran. „Alle einsteigen!“ ist nicht nur optisch ein Fest, sondern behält trotz hoher Informationsdichte durch Ton und Platzierung gekonnt seine Zielgruppe im Blick. Die zugänglichen Texte liefern dabei nicht nur historisches Hintergrundwissen, sondern erklären mitunter auch komplexe technische und physikalische Vorgänge, ohne dabei zu überfordern. „Hierhin, dahin“ lässt mit seinen knappen und oft assoziativ miteinander in Austausch tretenden Textblöcken hingegen für die ungewöhnlichen Zusammenhänge isoliert scheinender Einzelphänomene hellhörig werden; und ermöglicht so neue kognitive Verknüpfungen.

Sprechen – Beide Texte sind zum stillen Stöbern ebenso wie zum gemeinsamen Lesen und Besprechen bestens geeignet. Bei aller Unterschiedlichkeit verbindet sie eine in der Aufmachung ganz deutlich transportierte Lust an der visuellen Gestaltung, die innehalten und fragen lässt: Wie werden die im Zentrum stehenden Bewegungen eigentlich auf die Bild- und Buchebene transportiert? Thematisch passende Doppelseiten eignen sich außerdem zur Verwendung in unterschiedlichen Kontexten der Anschlusskommunikation, sei es zu biologischen (Zugvögel und unterschiedliche Bewegungsapparate), kulturgeschichtlichen (die Erfindung verschiedener Verkehrsmittel), physikalischen (Dampfmaschine und Verbrennungsmotor) oder religiösen (die Pilgerreise) Themen.

Tun – Was also weiter tun mit diesen Büchern? „Alle einsteigen!“ streut zwischen informative Sachseiten auch immer wieder Möglichkeiten zum Mitmachen im und am Buch – etwa in Form eines Brettspiels auf dem Berliner U-Bahn-Plan, als Suchrätsel auf belebten Wimmelseiten oder durch eigenes Entwerfen der Verkehrsmittel der Zukunft. Und obwohl das Mitmachen in „Hierhin, dahin“ nicht schon in dieser Weise ins Buch eingeschrieben ist, bietet es sich doch in vielen Alltagssituationen an. Es gibt eben ständig eine Vielzahl an unterschiedlichen Bewegungsmustern von Lebewesen, Maschinen oder Dingen zu beobachten, Verknüpfungen herzustellen und sich nach all dem auch zu fragen: Wo verläuft eigentlich meine rote Linie?

Sarah Auer

 


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