Kröte im September 2023
Tyrolia 2023.
120 S.
Linda Wolfsgruber: sieben. die schöpfung
Die Schöpfung. Eine Bibelerzählung, die wohl zu den am häufigsten bebilderten zählt. Man könnte meinen, dass es bei der Fülle der Inszenierungen keine Überraschungen mehr geben kann. Und doch gelingt es Linda Wolfsgruber in ihrer 120 Seiten starken Realisierung neue Wege zu gehen und die Lesenden beziehungsweise Betrachtenden Seite für Seite ins Staunen zu versetzen.
Aber alles der Reihe nach.
Am Anfang erschuf
Gott Himmel und Erden
Der Ordnung folgend und immer stark am Text der Einheitsübersetzung von Genesis 1,1 bis 2,1 orientiert wird die Schöpfung hier in Szene gesetzt. Tag für Tag. Stück für Stück. Lebewesen für Lebewesen. Doch es beginnt nicht bei Tag eins: Linda Wolfsgruber nutzt die erste Doppelseite, die den Leser*innen sonnengelb entgegenstrahlt als Vorwort, Widmung und Appell.
Weil sie uns anvertraut ist …
Sie, die Erde. Ein Plädoyer vorweg, das aktueller nicht sein könnte. Die Schöpfungsverantwortung oder – um diesen christlichen Terminus nicht zu bemühen – der Klimaschutz.
Und dann ist es an der Zeit, die Welt zu erschaffen: In sieben Tagen. Genauer gesagt in 7x7 Seiten. Denn so durchdacht wie die Schöpfungserzählung selbst ist auch der Aufbau dieses Kunstbuches. Mit der Zahl sieben ist selbstverständlich auf die besondere Numerologie verwiesen, die dem Christentum innewohnt. Dort steht die 7 auch für die Zusammensetzung von 3 und 4. Während 3 für die Dreifaltigkeit des Göttlichen steht, symbolisiert die 4 das Weltliche, die Himmelsrichtungen und die Elemente und verweist damit auf das Neben- und Miteinander von Religion und Wissenschaft. Eine Beziehung, die auch im Verlauf von Wolfgrubers „sieben“ immer wieder sichtbar wird.
Aber damit nicht genug der Ordnung, die mit jedem Umblättern und mit bildgewaltigen Illustrationen auch zunehmend auf die Erde gebracht wird: Die je erste der sieben Doppelseiten zeigt den Tag an. Eine schwarze Doppelseite, in die wie ein Scherenschnitt Tag 1-4 eingeschrieben ist und einem Fenster gleich den Blick auf die Entstehungen des nächsten Tages freigibt. Es folgen je sechs Doppelseiten mit verknappten Sätzen, die stark an den Versen der Einheitsübersetzung orientiert sind, in weiße Marginalspalten gesetzt. An allen ungeraden Tagen finden sich die Marginalspalte am linken und an den geraden Tagen am rechten Rand, wodurch eine gewisse Dynamik erzeugt wird. Eine Dynamik, die der Schöpfung selbst immanent ist und durch die expressiven Bilder eine zusätzliche Dimension erfahren. Seite für Seite eröffnet Lina Wolfsgruber eine Leinwand, auf die ein Moment der Schöpfung gebannt wird. Das da etwas Neues entsteht und entstehen wird, zeigt sich von der ersten Illustration an. Jeder Seite wohnt Bewegung inne, die durch verschiedenen Techniken realisiert wird: Feine Kratzer, grobe Pinselstriche, ein Miteinander von hell und dunkel, große Flächen gepaart mit wohl eingesetzten Akzenten wirken neben dem schlichten Text umso beeindruckender und spiegeln das Werden.
So wird Gegensätzliches an einem Tag geschaffen: Wo Finsternis war, wurde Licht, wo das Wasser herrschte, erscheinen Landmassen. Inhalte, die bekannt sind, werden durch die grafische Aufbereitung neu ausgedeutet und durch das Wechselspiel von linker und rechter Marginalspalte in ein Gegenüber gebracht. Dazwischen eine Bildgewalt, in die nach und nach Ordnung und Leben einkehrt, wo keinen Moment das Staunen und die Neugierde nachlässt, was denn auf der nächsten Seite, am nächsten Tag geschehen wird.
Dabei nutzt Linda Wolfsgruber das repetitive Moment des Es wurde Abend und es wurde Morgen und verbindet damit einen illustratorischen Kniff. Sind die Entstehungsmomente in eine rechteckige, den Falz überlaufende Form gebracht, präsentieren sich jene Seiten, die den Abend wie Morgen darstellen in einer kreisrunden Form und erinnern ihrerseits an „Sternenbote“ (2019 bei Tyrolia erschienen und >>> Kröte im Dezember 2019). Zugleich könnte man diese auch als die Form der Gestirne deuten. Kreisrund wie Mond und Sonne, die für den naturwissenschaftlichen Lauf der Zeit stehen können und als Verbindungsstück zwischen Schöpfungsgeschichte und Evolution fungieren. Und damit wird symbolhaft das vorweggenommen, was gemäß der Bibel erst an Tag 4 am Himmelszelt entstehen wird: Licht. Ein Licht, das sich auch auf der je ersten Seite eines neuen Tages wiederspiegelt, die fortan auf sonnengelben Hintergrund beginnt und die Zeit der Lebewesen auf der Erde einläutet, die zahlreich in Szene gesetzt werden. Und mit dem Beginn von Leben auf der Erde erweitern sich die Illustrationen in ihrer farblichen Ausgestaltung: Wo zunächst Schwarz- und Weißtöne die Anfänge dominieren und mithilfe von Blau-und Grüntönen die Erschaffung von Wasser und Land signalisiert wird, schöpft die Künstlerin die Farbpalette nun an voll aus und verweist dieserart auf die Vielfalt der Pflanzen und Lebewesen, die unseren Planeten bewohnen (werden).
Beim genauen Hinschauen, beim Vor- und Zurückblättern entdeckt man immer neue Wesen, die sich im Wasser und in den Lüften tummeln. Und darin zeigt sich die Sorgfalt der Ausgestaltung, die Linda Wolfsgruber an den Tag legt. Die Kombination aus Monotypien und einer Kratztechnik bietet die Möglichkeit, Fische bis hin zur kleinsten Schuppe und Vögel bis in die winzigste Schwanzfeder akkurat abzubilden. Gepaart mit der anatomischen Sorgfalt entsteht so ein regelrechtes Kaleidoskop an Wasser- und Tierwesen, das jede Arche Noah vor Neid erblassen ließe. Und damit schafft die Künstlerin einmal mehr die Brücke zwischen Glaube und Naturwissenschaft und wie diese gemeinsam gedacht werden können und sollen.
Und dann fehlt noch die scheinbare Krone der Schöpfung: der Mensch.
Lasst uns Menschen machen – als unser Bild, uns ähnlich. Sie sollen walten über die ganze Erde und über alle Tiere.
Die künstlerische Freiheit macht sich Linda Wolfsgruber zunutze und ändert den Text in feinen Nuancen ab: Die Erde soll vom Menschen nun an verwaltet, nicht aber unterworfen werden, wie es in der Einheitsübersetzung heißt. Darin zeigt sich, dass der Mensch nicht über die Erde siegen wird, vielmehr braucht es diese, um das Mensch-sein als jenes, das wir kennen, zu realisieren. Und so ergibt sich ein Bogen zu dem eingangs erwähnten und vorangestellten anvertraut. Die Erde, die dem Menschen im Vertrauen übergeben wurde. Die dem Menschen anvertraut wurde, sie zu achten und zu (be-)hüten. Und damit verleiht Linda Wolfsgruber einem Stück Glaubens- und Kulturerbe eine Bedeutungsebene, die die Schöpfungsgeschichte im Jetzt verortet und mit der Lebensrealität der Lesenden verbindet. Die Erde als etwas anzusehen, was den Menschen nicht gehört, sondern die es zu umsorgen gilt.
Und dann, am Ende und nachdem der Mensch im Paradies platziert wurde, segnet Gott den 7. Tag. Den Tag, an dem man ruhen sollte wie die Faultiere im Geäst oder die Löwinnen im Schatten, die mit friedlicher Mimik vor sich hindösen.
Ein rundum gelungenes (Bilder-)Buch-Kunstwerk, das unaufdringlich den Beginn des Alten Testaments auslotet und es durch feine Nuancen mit einer zusätzlichen Bedeutungsebene anreichert. Und am Ende bleibt man als Lesende*r zurück: Staunend. Staunend über die Schöpfung, in der wir leben, gleichermaßen wir über die Kunst-Schöpfungen in diesem Buch.
Alexandra Hofer
Und weil sich dieses Buch so hervorragend als Kröte und als >>> Religiöses Buch des Monats eignet, werden diese beiden Buchtippkategorien im September gemeinsam bespielt.
Für all jene, die sich vertiefend mit Religion in der Kinder- und Jugendliteratur auseinandersetzen möchten, sei das Modul „Religiöse Kinder- und Jugendliteratur“ wärmstens empfohlen. Inhaltsverzeichnisse, Leseproben und das Bestellformular zur Schriftenreihe der STUBE finden Sie >>> hier.
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