Kröte im Sommer 2025
Peter Hammer 2025.
56 S.
Will Gmehling und Jens Rassmus: Der Sternsee
„Es war Hochsommer, die Stadt schwitzte sogar in der Nacht. Die Stadtwerke fuhren durch die Gegend und spritzten die Bäume nass. Wenn man ein Eis aß, musste man aufpassen, dass es einem nicht wegtropfte.
Doch der Sternsee war pures Eis, das nicht schmolz.“
Unter einer Anomalie versteht man eine Abweichung. Eine Abweichung vom Regelhaften – basierend auf dem altgriechischen anómalos. Gemeint ist damit ursprünglich das nicht glatte oder nicht ebene. Eine solche Anomalie kennt auch das Wasser – dort nämlich, wo es um seine Dichte geht. Ist das wichtig? Für jene Fische, die unter der Eisfläche des Wassers überleben, auf alle Fälle …
Für ein Ich, das in der Schule „nie richtig durch[blickt]“ liegt das Faszinosum dieser Anomalie wohl nicht im Physikalischen begründet. Und Hand aufs Herz: Wer blickt bei der Anomalie des Wassers schon physikalisch durch? Viel spannender an einer Anomalie ist ja die Möglichkeit, durch sie einen ganz neuen Blick auf das Bekannte zu werfen – denn ein anómalos braucht das nómalos, um als Abweichung überhaupt sichtbar zu werden.
Genau dieser Idee folgen Will Gmehling und Jens Rassmus in einem Kinderroman, der nicht nur von einer Anomalie erzählt, sondern auch per se eine wunderbare Abweichung vom Üblichen darstellt. Gmehling wählt ein topografisches Sujet und knüpft daran die Biografien von vier Protagonist*innen, die sich in jenem kinderliterarisch so ergiebigen Niemandsland zwischen Kindheit und Jugend befinden. Die aber auch in einer Art Niemandsland wohnen – im „gelben Wohnblock mit den grünen Streifen“. Der Stadtrand, der sich schon im Adoleszenzroman als Schwellenraum bewährt hat, wird auch hier zum Mikrokosmos. In dessen Zentrum steht/liegt der Sternsee. Kein großer See, aber einer, der die Gegend belebt und der mit seinen kurzen und langen Zacken ein wunderbares Bild für das kindliche Erleben abgibt, das an seinem Ufer stattfindet. Ganz beiläufig führt Will Gmehling seine Protagonist*innen entlang dieser ausufernden Wasserlinie ein:
Auch wenn wir am Nachmittag heimkamen, gingen wir einfach so an ihm vorbei. Wir dachten an alles, was passiert war am Tag: Mo hatte sich auf dem Schulhof geprügelt, Sissis Trinkflasche war ausgelaufen, Anastasia hatte ihre Gummistiefel verloren, ich war wütend auf Herrn Plump, meinen Klassenlehrer.
Am Abend lässt sich vom Hochhaus aus hinunterblicken auf den See; und wenn Jens Rassmus das erzählende Ich im klein-, aber hochformatigen Buch auch tatsächlich auf den farblich monochromen See samt Mondspiegelung hinunterblicken lässt, ist damit das Zentrum etabliert, rund um das sich das Erzählen dreht. Der See. Einerseits. Andererseits aber auch die Kinderclique, in der Stärken, Schwächen und Mentalitäten zueinander finden. Die vier agieren auf ebenso selbstverständliche Weise miteinander, wie Will Gmehling und Jens Rassmus die Charakteristika ihrer Figuren hier und dort einfließen lassen. Weder Bild noch Text schreien hier: Achtung! Kinderclique, divers!! Race, Class und Gender zeichnen sich hier erst im Miteinander von Bild und Text ab – und zwar in jener beinahe nebensächlichen Selbstverständlichkeit, wie sie eben gegeben ist, wenn (unaufgeregt) vom Leben in der Stadtrandsiedlung erzählt wird.
Denn Aufregung gibt es schon genug, als der See zufriert. Vorerst handelt es sich um ein heute klimabedingt nicht eben alltägliches Ereignis: es ist Winter und nun können auch jene ihre Spuren in Eis und Schnee ziehen, die sich den Eintritt in die Eishalle nicht leisten können. Dann aber wird es Sommer. Der See aber bleibt zugefroren. Und während der Verweis auf anrückende Reporter*innen und Verschwörungstheorien („Es kommt alles von Gott. […] Oder vielleicht wohnt ein Eismonster tief unten im See“) mit Situationskomik im Erzählen verwoben werden, gibt die Anomalie den Anlass, um auch für das eigene Leben größer zu denken: Man könnte von hier auch einmal weggehen. Nach Indien oder Bottrop.
Wir wussten nicht, wie es da war: in Indien und in Bottrop.
„Das ist unvergleichlich“, sagte Sissi. „In Indien gibt es Inderinnen. In Bottrop wohnt meine eine Tante.“
„Mein einer Onkel wohnt in Senegal“, sagte Mo.
„Mein einer Onkel wohnt in einem Wolkenkratzer in Amerika“, behauptete ich, weil ich wissen wollte, wie es sich anhört, wenn man so etwas sagt.
Jens Rassmus zeigt die vier Protagonist*innen sommerträge am Ufer des zugefrorenen Sternsees lungern – die Gedanken, Ideen und Wünsche aber schwirren lebhaft umher. Sie gleichen dem Kranich, der alt und zerrupft auf der Insel im See gelebt hat; jetzt aber taucht er an ganz unterschiedlichen und neuen Orten auf. Auch er ist durch die Anomalie in Bewegung gekommen und kehrt am Ende verändert auf den See zurück. „Majestätisch“ lässt Jens Rassmus ihn dort landen. Er arbeitet analog, mit vitalem Pinselstrich, setzt seine Figuren leichtfüßig in den Weißraum (des zugefrorenen Sees). Die Schmuckfarbe Blau nutzt er, um zu akzentuieren, um Grenzen zu ziehen und wieder aufzuheben. Den Moment, in dem sich das rückerinnerte Damals und das noch unklare Später im Jetzt verdichten, inszeniert er als stille und gleichermaßen aufregende, nächtliche Doppelseite: Das Eis bricht. „Niemand hat je verstanden, was hier geschah, auch später nicht.“
Man könnte es als ein Wunder bezeichnen. Als Anomalie. Oder einfach als Erwachsenwerden. Denn auch das Ich wagt nun den Versuch, Grenzen zu überschreiten – topografische gleichermaßen wie jene der Freundschaft. Es ist weder eine große Bewegung, noch wird sie mit großer Geste erzählt. Denn die Besonderheit des Kinderromans von Will Gmehling und Jens Rassmus liegt in der Modulation der leisen Töne. Sie liegt in den Anomalien dessen, was alltäglich erscheint und dennoch nicht alltäglich ist: eine Bank, auf der vier Freund*innen sitzen und einfach nur miteinander reden; das fiese Dividieren; ein Mädchen in türkiser Jacke; der kulinarische Wechsel von Gummischlangen zu Äpfeln; ein See in einer Hochhaussiedlung. Der Sternsee.
Heidi Lexe
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