Krötenarchiv
2014

Die langjährige Jugendbuchlektorin im Verlag Carlsen, Barbara König, hat in diesem Herbst erstmals ein eigenes Programm präsentiert. Jedes Buch ist in edler Aufmachung in einem je eigenen Format gestaltet – dem neuen Verlagsnamen "Königskinder" entsprechend mit viel Ornament und Golddruck.
Im Folgenden heißt das STUBE-Team diese Königskinder willkommen und stellt einige von Ihnen vor:
Ill. v. Peter Schössow.
Königskinder 2014.
200 S., € 17,40.
Andras Steinhöfel: Anders
Nach dem schier unglaublichen Erfolg der Kinderromane rund um Rico und Oskar, der mit der ersten (in diesen Tagen auch auf DVD erscheinenden) Verfilmung einen weiteren Höhepunkt erlangt hat, stellt ein erster „Nachfolgeroman“ für Andreas Steinhöfel natürlich eine besondere Herausforderung dar. Doch der 2013 für sein Lebenswerk mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnete Autor meistert sie souverän, indem er von Sujet, Topografie und Erzählton der Rico-Serie deutlich abweicht und auf Erzähltraditionen seiner frühen Kinderromane zurückgreift: Mit viel Lust an kleinen Bösartigkeiten wirft er den Blick auf das bürgerliche, kleingeistige Milieu jener Ulmenstraße, die einst von den Schröders aufgemischt wurde. Paul (Vier), so erfahren wir, ist nun allerdings erwachsen und lebt in Berlin. Dafür rückt Felix in den Mittelpunkt, ein von seinen Helikoptereltern umkreistes Kind mit ausbaufähigem Selbstwertgefühl. Sein Schicksal teilt den Roman in ein Davor und ein Danach – wobei die in den jeweiligen Zeiträumen stattfindenden Ereignisse einander bedingen. Denn nachdem Felix von seinen überfürsorglichen Eltern ins Koma befördert wurde, wacht er Monate später als völlig verändertes Kind auf: Das Farbfernsehen schmerzt in seinen Augen; dafür kann er in seiner nunmehrigen Hypersensibilität an anderen Menschen nicht nur Farben, sondern auch deren emotionalen und sogar gesundheitlichen Zustand erkennen. Andreas Steinhöfel etabliert eine fast klassisch-tragisch wirkenden Einheit von Ort, Zeit und Figuren, wenn er unterschiedlichen (erwachsenen) Perspektiven folgt – dabei aber immer (den kindlichen) Anders selbst in den Mittelpunkt stellt. Dem Vater zum Beispiel erscheint der wieder erwachte Sohn wie eine Festung, die es zu knacken gilt – sogar wortwörtlich, denn eine passwortgeschützte Datei könnte Aufklärung über jenes Geheimnis geben, dass vor dem Unfall zu veritablen Irritationen geführt hat. Eine Fülle an Textsorten greifen dabei ineinander, eine Fülle an Motiven sorgen für zeichenhaft angereichertes Geschehen, das einer aus Zeit und Raum gefallenen Figur bei ihrem Versuch der Neuverortung zeigt.
Heidi Lexe
Aus dem Engl. v. Herzke, Ingo.
Illustriert von O'Brien, Gregory.
Königskinder 2014.
136 S., € 14,30.
Kate de Goldi: Die Anarchie der Buchstaben
Die wöchentlichen Besuche der 9-jährigen Perry bei ihrer Oma sind immer eine Überraschung – diese leidet nämlich an Demenz und erkennt ihre Enkelin zumeist nicht. Perry weiß allerdings, das nicht persönlich zu nehmen, und startet ein ACB-Buch-Projekt, in das nur Worte kommen, die in Verbindung mit dem Altersheim stehen und auch das dort vorherrschende Durcheinander widerspiegeln. Die Selbstverständlichkeit, mit der das kleine Mädchen mit den Eigenheiten der Bewohner*innen umgeht, – auch im Kontrast zu den Schwierigkeiten, denen es ihren Eltern bereitet – ist erfrischend und es zeichnet Charaktere nicht als Pflegefälle, sondern Menschen mit individuellen Stärken. Mit charmanten, zum ACB versehenen Illustrationen ist der Roman eine kurzweilige und wichtige Lektüre, die ganz nebenbei auch noch den Wortschatz fördert.
Katharina Portugal
Aus dem Engl. Birgit Schmitz.
Königskinder 2014.
256 S., € 16,40.
Dianne Touchell: Zwischen zwei Fenstern
„Es waren zwei Königskinder / die hatten einander so lieb / sie konnten nicht kommen / das Wasser war viel zu tief.“ Viel Interpretationsleistung braucht es gar nicht, um einen Bezug zwischen der Volksballade „Die Königskinder“ und Dianne Touchells Jugendroman „Zwischen zwei Fenstern“ herzustellen. Ersetzt man den tiefen See mit dem Raum zwischen den beiden Fenstern der Ich-Erzählerin und des Ich-Erzählers, erhält man eine vergleichbare Situation sowie das zentrale Motiv des Romans und der Ballade: die unüberwindbare Distanz zwischen zwei aufeinander bezogenen Figuren. In der Ballade sind am Ende (Achtung: Spoiler) „alle beide tot“. Dass der Roman ebenfalls keine konventionelle „Mädchen-und-Junge-von-nebenan-Geschichte-wird“ erfährt der/die Leser*in bereits auf der ersten Seite. Creepy, so nennt Maud ihren nachbarlichen Antagonisten, beschreibt im ersten Satz, wie sehr das familiäre Gefüge aus dem Ruder läuft: „Dad hat unserem Hund, Dobie Squires, beigebracht, Mum zu beißen.“ Auch die Beziehung zwischen den beiden Jugendlichen beginnt alles andere als romantisch. Er beobachtet sie mit einem Fernrohr, als sie sich die Haare ausreißt ... Die abwechselnden Blickwinkel auf das Leben des anderen und auf sich selbst zeugen davon, dass Maud als auch Creepy das Gegenteil eines Königskindes im wortwörtlichen Sinne repräsentieren: Anstelle von Privilegien treten Schulverweis, Medikamentierung, Selbstverletzung und Identitätskrise.
Ein tristes Bild über das Schlachtfeld Familie und zugleich ein Text über zwei Jugendliche, der jenseits der klassisch gestrickten Dramaturgie komponiert wurde. Auf das austauschbare Wiederholen des Auseinandertriftens und Wiederzueinanderfindens wird in „Zwischen zwei Fenstern“ verzichtet. Dianne Touchell zeichnet eine hervorragend langsame Annäherung, die Maud und Creepys Geschichte in den Status „Königskinder“ erhebt.
Peter Rinnerthaler
Aus dem Engl. v. Annika Ernst.
Königskinder 2014.
320 S., € 16,40.
Tracy Holczer: Löffelglück
In die österreichische Kinderliteratur hat sich die Geschichte von Sadako und ihrem Glauben, gesund werden zu können, wenn ihr gelingt, tausend Kraniche zu falten, durch Karl Bruckners "Sadako will leben" eingeschrieben. Auch im Debutroman der amerikanischen Autorin Tracy Holczer sind diese Origami-Kraniche eines der wichtigen Motive - hier jedoch stehen sie nicht für die erwünschte Zukunft, sondern vielmehr für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die hart erarbeitet werden muss. Die zwölfjährige Ich-Erzählerin Grace hat mit ihrer Mutter, die wegen ihrer Schwangerschaft mit Grace von ihrer eigenen Mutter rausgeschmissen wurde, an vielen verschiedenen Orten gelebt und konnte nirgendwo wirklich Wurzeln schlagen. Als sie nach dem plötzlichen Tod der Mutter plötzlich bei ausgerechnet jener Großmutter, ihrer einzigen lebenden Verwandten, bleiben soll, die an ihrem rastlosen Leben schuld war, ist sie außer sich und setzt alles daran, die Großmutter so ablehnend zu behandeln, wie sie es verdient. Es braucht nicht nur jede Menge Kraniche, sondern ein spezielles Stück Unterwäsche, wärmende Suppe, einen Sarkophag für eine quirlige Mumie und sogar die Geburt eines Fohlens, bis Grace sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinandergesetzt und erkannt hat, dass vielleicht genau dieser Ort endlich jener sein könnte, an dem sie zuhause ist.
Kathrin Wexberg
Aus dem Engl. v. Ingo Herzke.
Königskinder 2014.
320 S., € 17,40.
Vince Vawter: Wörter auf Papier
„Man könnte sagen, Maschine schreiben ist gemogelt, aber ich muss die Wörter auf Papier sehen, damit ich sicher sein kann, alles ist so passiert, wie sich mein Gehirn erinnert. Ich traue Wörtern auf Papier viel mehr als Wörtern in der Luft.“ 1959 in Memphis ist und bleibt es für einen stotternden Jungen schwer, sich zu artikulieren. Zeiten, in denen Logopädie noch in den Kinderschuhen steckte und man nicht wusste, wie mit dem gravierenden Sprechproblem umzugehen ist, ist der elfjährige Ich-Erzähler zwar oft mit Wohlwollen, aber oft auch mit Isolation und einem sehr begrenzten Handlungsraum konfrontiert. Also schreibt er die Geschichte jenes Sommers auf einer Schreibmaschine nieder und skizziert damit auch ein Sittenbild der späten 1950er Jahre in Amerika. Es ist in Figuren präsent, die in das Leben des Jungen treten, als er für einen Monat das Zeitungsaustragen übernimmt. Seine strukturbildende Tour durch die Nachbarschaft ist zugleich eine Tour durch Exempel der gesellschaftlichen Probleme jener Zeit: Veteran Mr Spiro, mit dem jeder Dialog einer Zeremonie gleicht; die traurige Hausfrau Mrs Worthington oder Haushälterin Mam, die zum Opfer des Rassismus wird, begegnen dem weitgehend schweigenden Jungen auf ihre je eigene Weise und fordern ihn zu Handlungen heraus, die wie der Kraftakt der Sprechens nur mit viel Mühe bewältigt werden können. Die Erzählperspektive ist glaubhaft und tiefgründig: Während die Artikulation nach außen schwer fällt, zeigt sich der Junge in seinem Text als reflektierter Beobachter. Wie in seinem Sprechakt fühlt er alle Aktionen vor, wägt sorgfältig ab, probiert Möglichkeiten aus und tritt zögernd aber doch auf die Menschen zu. So wird er zum Souverän dieses Mikrokosmos und findet schlussendlich eine Art Stimme und einen Namen, der im Roman erst genannt wird, als er ihn selbst frei aussprechen kann. Ein zurückhaltender Roman, der eindringlich zeigt, wie sich Stottern anfühlen kann und wie sehr Sprache und Sprachanwendung das Tor zur Welt verschlossen halten oder öffnen können.
Christina Ulm
Die gesammelten Kröten der letzten Monate und Jahre finden Sie im >>> Krötenarchiv
Kröte des Monats November 2014
Hanser 2014.
64 S., € 15,40.
Jutta Richter / Aljoscha Blau: Abends will ich schlafen gehn. Ein Gutenachtbuch für alle, die nicht einschlafen können
Gutenachtbuch – das ist eine Bezeichnung, unter der sich am Buchmarkt eine Menge finden lässt, ein Großteil davon mit Blick auf eine unmittelbare Einsetzbarkeit im Sinne von „Kinder in den Schlaf begleiten“. Hier ist es anders: 14 an Anmut kaum zu übertreffende Engelbilder verleihen der 2003 erstmals erschienenen Geschichte von einem Kind und einem Mann, die nicht schlafen können, einen neuen bildlichen Rahmen. In fragiler Handschrift werden diese Engel am Beginn durch das berühmte und titelgebende Gutenachtgedicht eingeführt, das der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ von Achim von Arnim und Clemens Brentano entstammt. Ihre dortige Positionierung rund um das lyrische Ich wird durch Gedichte von Jutta Richter in 14 konkret benannte Figurationen übergeführt: Der libellenflügelzarte Mitternachtsengel mag das bedrohliche Traumgetier zwar mit seinem Mondfaden zu umspinnen – doch an Schlaf ist ebenso wenig zu denken wie dort, wo die Gespensterengel sich in ihrer eigenen Traurigkeit beinahe auflösen, als würden sie vom Regen weggewaschen. Der martialische Nein-Engel zeigt es noch einmal an: Geschlafen wird hier nicht. In zartgliedriger Sprache werden die Tonalitäten der unterschiedlichen Engel ausgelotet und in den narrativen Kontext rund um die beiden Schlaflosen eingegliedert, die erst Ruhe finden, als sie einander „An einem großen stillen See“ (so der ursprüngliche Titel) die Angst vor der Dunkelheit nehmen. War es vor 11 Jahren Susanne Janssen, die mit ihren expressiven Illustrationen an die Engel herangezoomt hat, so ist es nun Aljoscha Blau, der ätherische Wesen ins Bild setzt – in einmal bestimmter, dann wieder ganz zurückgenommener Farbigkeit, stets aber als scheinbare Abgesandte der feinstofflichen Welt der Märchen und (modernen) Mythen. So nehmen die 14 Engel zwar nicht die Furcht vor der Nacht, aber führen hinein in ganz aus der Zeit gefallene Welt, an die sich zwei außergewöhnliche Künstler*innen sprachlich und illustratorisch annähern.
Heidi Lexe
Vier der im Buch gezeigten Engel werden im Folgenden genauer in den Blick genommen.
Die Taubenengel
Neben der Auseinandersetzung mit dem Tod (vgl. Kröte des Monats Oktober) hat auch die ambivalente Haltung der Wienerin/des Wieners zur Taube im öffentlichen Raum traditionelle Formen angenommen: Das Lied „Tauben vergiften im Park“, das von Franz Kreisler (1958) salonfähig gemacht wurde, aber aus der Feder von Gerhard Bronner stammen soll, schildert eine krude Frühlingsimpression: „der Frühling, der dringt bis ins innerste Mark - / beim Taubenvergiften im Park“. Das Musikprojekt Gustav bricht im Lied „Rettet die Wale“ (2004) fast 50 Jahre später eine Lanze für die „fliegenden Ratten“, wie sie pejorativ genannt werden: „Bittet selten um Verzeihung /und füttert Tauben im Park, [...]“ Wie man auch zur Familie der Columbidae (lat. für Taube) stehen mag, das Gurren als auch das tapsende Geräusch am Blechdach wird uns wohl ein Leben lang begleiten. Aljoscha Blaus Taubenillustration, die dem Gedicht „Die Taubenengel“ anbei gestellt wird, scheint diese tragende, lebensüberdauernde Rolle der Taube in Szene zu setzen: Zwei Stadttauben flankieren die Vorder- und die Rückseite des kleinen gelben Hauses, in dem das schlaflose Kind wohnt, und die Tiere überragen das Gebäude um ein Vielfaches. Eindringlich blickt die dominante Taube der Betrachterin/dem Betrachterin entgegen und bildet einen entschlossenen Kontrapunkt zum Kehrreim des Gedichts: „Dann trippeln sie hin, dann trippeln sie her / und rucken und gurren und machen / so lange Faxen, bis du sie siehst, / und dann musst du lachen!“ Aber auch Jutta Richter greift textimmanent das ambivalente Wesen der Taube auf. Dem lächerlich wirkenden Trippeln der Vögel, das deren Lebensberechtigung in Frage zu stellen scheint, steht das (sprachlich realisierte) Bild der weisen Taube gegenüber, die den Menschen (trotz Vergiftungsversuchen) überdauern wird: „Die Taubenengel sind immer zu zweit, / der Himmel möge sie schützen. / Sie trinken die Tränen, sie picken die Zeit, / sie wissen im Winter, es ist bald soweit, / der Frühling wohnt unter den Mützen.“
Peter Rinnerthaler
Der Engel der Langsamkeit
Jeder der vierzehn Engel hat seine ganz eigene Farb-Welt: Beim Engel der Langsamkeit eine eigenwillige, kaum einzuordnende Schattierung zwischen grau, braun und grün. Er fliegt nicht, dieser Engel, sondern sitzt ganz geruhsam auf einem Ast, traut vereint mit den Wesen, die er besonders beschützt, ist er doch „der Hüter der Hühner, Beschützer der Schnecken.“ Von seinem spitzen, tief ins Gesicht gezogenen Hut hängen Gegenstände, die Assoziationen wecken: Eine Muschel, ähnlich jener der Pilger am Jakobsweg, ein Schneckenhaus, eine Taschenuhr, die jene des immer gehetzten Hasen aus „Alice im Wunderland“ sein könnte – ob sie überhaupt funktioniert? Er ist übrigens der einzige der vierzehn Engel, der eine Doppelseite ganz für sich hat: Zuerst sehen wir das Bild, erst auf der nächsten Doppelseite folgt der Text (wie alle Gedichte ganz in jener Farbe gesetzt, die auch das dazu gehörende Bild dominiert). Der schmale Baum ganz am Seitenrand wirkt fast wie eine Vignette, erst bei längerer Betrachtung kommt man auf die Idee, dass auch er noch ein gleichsam nachgereichter Teil des Engel-Bildes sein könnte – und also auch beim Entschlüsseln von Bildern und Texten die Gabe der Langsamkeit gefragt ist.
Kathrin Wexberg
Der Brennesselengel
„Der Brennesselengel geht immer voran, / wenn wir den Weg uns brechen / durch Disteln und Brombeerrankengestrüpp. / Er biegt mit den Händen die Nesseln zurück, / damit sie nicht brennen und stechen.“ Wenn der Brennesselengel die Hand einladend ausstreckt, damit das Kind seinen Weg durch die spätsommerliche Wildnis geht, dann scheint er einer jener Engel zu sein, denen Gott in Psalm 91,11 befiehlt, „dich zu behüten auf all deinen Wegen.“ Während der Weg im biblischen Text aber über Steine führt, über Löwen und Nattern und Drachen, wählt Jutta Richter einen deutlich an den kindlichen Erfahrungshorizont angelehnten Raum: Es sind Bienen und Hornissen, Scherben und Spinnen, die der im grünen Laub aufgehende Engel fernhält, um die im Text als so notwendig beschworene Erfahrung von Natur zu erleichtern. Dabei zeigen Jutta Richter und Aljoscha Blau zwei Seiten der Wildnis: Zwischen dem rauen Gestrüpp warten Lupinen und Himbeeren, Kissen aus Moos und lauer Wind. Ebenso ist auch der Engel selbst doppelseitig: Im Bild entwächst er ausgerechnet aus jenen beißenden Blättern, vor denen er schützt, er ist Verlockung, Herausforderung, Lohn und Preis zugleich. „Der Brennesselengel geht immer voran.“ Er führt ins Dickicht und auch wieder heraus. Und spätestens wenn er im Abendrot den Weg zurück in die Zivilisation zeigt, hat der Text die Sehnsucht nach der Wildnis neu geweckt.
Christina Ulm
Der Neinengel
Ein (weiterer) besonderer Engel ist der Neinengel – kein schützender Engel, der im Hintergrund aufwartet, sondern ein aktiver, einer, der auffordert, einer, der Mut spendet – ein Kämpferengel. „Das muss ein starker Engel sein, / der uns Mut macht für ein Nein.“ Entsprechend stark und manifest wird dieser Engel auch auf der Bildebene inszeniert. Umgeben von felsgrauen Baumsilhouetten wirkt er beinahe wie ein klassischer steinerner Friedhofsengel: auf einem Sockel mit großen Flügeln. Dass dieser Engel aber kein versteinerter ist, der fernab über den Menschen thront, zeigt sich in den Details – trägt er doch Boxerhose und -handschuhe und am Kopf eine leuchtend rote (Wrestling?) Maske. Dadurch wird er menschlich und zugänglich. Zeigt seine kämpferische Natur, seine Bereitwilligkeit für uns oder mit uns in den Ring zu steigen. Die Textebene beschreibt diesen Kampfschauplatz: nicht um einen Faustkampf soll es sich handeln, wahre Kämpfe trägt man mit „offenen Worten“ aus. Das Wagnis liegt im Nein sagen. Nicht mit dem Strom zu schwimmen, sondern sich von der Masse abzuheben. Das sprachlich reduziert gehaltene Gedicht liest sich als eingängiges Plädoyer für (Zivil-) Courage – und macht Mut eben diese an den Tag zu legen!
Elisabeth von Leon
Die gesammelten Kröten der letzten Monate und Jahre finden Sie im >>> Krötenarchiv
Kröte des Monats Oktober 2014
Aus dem Franz. v. Tobias Scheffel.
Moritz 2014.
48 S., € 18,50.
Chen Jianghong: Der kleine Fischer Tong
Ein Bilderbuch – Vier Lesarten
Der kleine Fischer Tong und ein Toter
von Heidi Lexe
In beinahe allen seinen Bilderbüchern lässt der aus China stammende, und seit vielen Jahren in Paris lebende Illustrator Chen Jianghong den Charakter alter Erzählungen mitschwingen, den Charakter von – wenn man so will – alten Mythen. So auch hier, wenn er den kleinen Fischer auf große Fahrt und damit in eine Welt jenseits des Realen schickt; oder sogar wortwörtlich ins Jenseits?
Aber der Reihe nach: Chen Jianghong führt vorerst bildlich in eine von Hochhäusern bestimmte Stadt und lässt nur an deren Peripherie eine Bambushütte erkennen. Hier, an der Schwelle zum Meer – und auch mit dem und durch das Meer – lebt der kleine Tong. Der eines Tages zum Fischen aufbricht, obwohl gewaltige Wolken sich am Horizont ballen.
Tong erinnerte sich, was sein Vater immer gesagt hatte.
„Man darf nie aufs Meer hinaus, wenn die Wolken schwarz wie Ruß sind und die Vögel ans Ufer flüchten.“
Es gehört zu den unausgesprochenen Grundsätzen des Erwachsenwerdens, sich nicht an den Ratschlägen der Väter zu orientieren. Auch dann nicht, wenn diese abwesend oder entschwunden sind, vielleicht gar nicht mehr leben, ja vielleicht sogar selbst draußen am Meer geblieben sind. Dieserart lässt sich erklären, dass Tong dennoch auf Fischfang geht, und naturgemäß in einen entsetzlichen Seesturm gerät; bis eine Riesenwelle über ihm zusammenbricht und Tong die Augen schließt.
Jenem Moment, in dem Tong die Augen wieder öffnet (und Chen Jianghong einen scheinbaren Genrewechsel hin zum Horror vornimmt), folgt mit dem Umblättern der dramaturgische Höhepunkt des Bilderbuches: Die Fratze eines Skeletts breitet sich über die gesamte Seite (und darüber) aus und zeigt an: Tong ist in einer Welt der Untoten gelandet. Der „andere“ Tote, der scheinbar schon länger in dieser Zwischenwelt weilt, krallt sich – wie auch Tong – an das kleine Boot und damit ans Leben. Nach dramatischen Szenen landen beide an Land: Tong ohnmächtig vor Entsetzen und das Skelett scheinbar in rasendem Furor.
Es bleibt unklar, ob man sich am ursprünglichen Strand oder in einer Art Parallelwelt befindet. Denn ab hier entwickelt Chen Jianghong eine Geschichte der gegenseitigen Erlösung und des heil Werdens: Vorerst übernimmt das Skelett, das seinen eigenen Anblick nicht ertragen kann, die Fürsorge für den ängstlichen, zitternden Tong; zu neuen Kräften gekommen nimmt der kleine Fischer sich des skelettösen Jammerbilds an und kümmert sich um den (die) an sich selbst Leidende(n). Dieserart gelangen beider zu neuer Kraft, ja sogar zu neuem Leben, denn durch reichlich gegrillten Fisch und Suppe – offeriert von jenem, der selbst kaum etwas hat – erlangt das Skelett sein menschliches (männliches) Äußeres zurück.
Kann das Leben der beiden, die nun wie Vater und Sohn, wie Schüler und Meister erscheinen, von dieser Welt sein? Viel eher scheint das fürsorgliche aneinander Handeln die Voraussetzung dafür zu sein, sich aus der Welt der Untoten zu befreien und in jene der Toten zu gelangen: Die beiden breiten ihre Biografien voreinander aus und durchsegeln miteinander eine schmale, dunkle Passage. Ganz ihrem eigenen Person Sein verpflichtet und in Beziehung zueinander stehend, finden sie dahinter die Fülle des (ewigen) Lebens: Ein Netz, in dem die farbenprächtigsten aller Fische sich verfangen haben; und das wohl niemand anderer ausgeworfen haben kann, als ein wahrer Menschenfischer.
Der kleine Fischer Tong und der Tod
von Simone Weiss
Der personifizierte Tod, der seine Opfer abholt, hat in Wien Tradition – man denke an das Musical „Elisabeth“ oder Ludwig Hirschs bekanntes Lied „Großer schwarzer Vogel“.
Fischer Tong ist zwar kein Wiener, aber auch er sucht die Begegnung mit dem dunklen Verführer: Trotz Warnung fährt er hinaus aufs Meer, und der Kampf mit den Fischen wird zum Kampf ums Überleben. Hilflos den Elementen ausgesetzt und am Ende seiner Kräfte, sieht der Fischer schließlich den Tod vor sich. Er will Tong in die Fluten ziehen, ins nasse Grab ungezählter Fischer, die ihn herausgefordert haben. Urangst verleiht Tong neue Kräfte: Er stößt das Skelett von Bord und flieht an den Strand. Der Tod begleitet ihn. Er weiß, dass er gewinnt – der Kampf gegen das Unwetter hat den kleinen Fischer zu sehr erschöpft. Dem Tod ins Auge sehen und davon berichten können heißt nicht, ihm entkommen zu sein. Ohnmächtig bricht der Junge zusammen, als er den Verfolger sieht. Auch er weiß jetzt um sein Schicksal. Das Skelett hat Mitleid – eine beliebte Eigenschaft des personifizierten Todes – und trägt Tong in sein Bett, zündet noch einmal die (Lebens-?)Kerze an. Wie viele Kinder hat er schon mitgenommen, Leben, die, das spürt er wohl, noch nicht hätten enden sollen?
Letzten Endes erlösen sie sich wohl gegenseitig: Tong akzeptiert das Ende und nimmt den Tod als Gast an. Das Skelett darf sich seiner Schreckensgestalt entledigen und zum Fischer werden, dem das Kind furchtlos ins Himmelsmeer folgt.
Der kleine Fischer Tong und sein Tod
von Christina Ulm
Einen großen Brocken hat der kleine Fischer Tong an der Angel, etwas einzigartig Großes – aber keinen Fisch. Denn erst nachdem Tong die Angel ausgeworfen und tatsächlich etwas gefangen hat, bricht der Sturm los und verfolgt man Tongs Angelschnur aufmerksam, zeigt sich, dass er sein Schicksal an der Angel hat. Das man auch als seinen ganz persönlichen Tod lesen kann: „Plötzlich brach eine Riesenwelle über ihm zusammen und Tong schloss die Augen. Als er sie wieder öffnen konnte, stieß er einen entsetzlichen Schrei aus.“ An dieser Bruchstelle (des Lebens) visualisiert Chen Jianghong das Skelett aus dem Meer über fast eine Seite gebreitet – in einem zweiten Panel zeigt sich eine feine (Angel-)Schnur zwischen ihm und Tong. Hat der kleine Fischer seinen eigenen Tod gesucht, als aufs Meer gefahren ist gegen die Warnung seines Vaters? Eine mögliche Lesart, die auch die Frage aufwirft: Wer verfolgt hier wen? Deutet man alles, was danach kommt als Jenseits, kann die Fischerhütte als jene Zwischenzeit verstanden werden, in der das eigene tote Dasein, das Chen Jianghong im Skelett konkretisiert, erst akzeptiert werden muss. Der Künstler wählt hier repetitive Momente: wie Tong erschrickt auch das Skelett vor sich selbst, als es sich im Spiegel erkennt, beide decken einander zu. Der Versöhnung schließlich ist eine ganze Doppelseite gewidmet und im Gegensatz zu den graublauen Meeresbildern in tiefes Rot getönt. Erst jetzt offenbart das Skelett sein Wesen als Fischer, als vollendete Zukunft von Tong. Im christlichen Glauben ist das Jenseits zeitlos, in ihm sind wir nicht nur das, was wir waren, sondern auch das, was wir werden können. Erst in Versöhnung zwischen diesen Möglichkeiten kann Himmel passieren. Die dortige Fülle des Lebens deutet sich hier als übervolles Fischernetz, der endlich friedlichen See und der Aussicht jemanden „immer an deiner Seite“ zu haben.
Der kleine Fischer Tong und kein Tod
von Kathrin Wexberg
Während in den bisherigen Beiträgen verschiedenste Lesarten des Bilderbuches rund um den Tod ausgelotet wurden (wie es ja in einem Buch, dessen zentrale Hauptfigur neben dem titelgebenden Kind ein Skelett ist, durchaus naheliegend ist…) soll abschließend eine ganz andere Interpretationsvariante zur Diskussion gestellt werden, die weniger an mythische Traditionen rund um die Figur des Todes und mehr an das märchenhafte Motiv der Erlösung anknüpft. Jemand, der tot war, wird durch einen Kuss wieder zum Leben erweckt – so kennen wir es aus Schneewittchen, ein von den Brüdern Grimm bekannt gemachtes Volksmärchen, das in den letzten Jahren in zahlreichen Bilderbuchvarianten inszeniert wurde. Jemand, der böse und hässlich ist, wird durch die Kraft der Liebe in seine menschliche Gestalt zurück verwandelt – so geschieht es in „Die Schöne und das Biest“, einem französischen Märchen, das in der Disneyversion ungemein populär ist und erst kürzlich in einer Verfilmung mit Vincent Cassel und Léa Seydoux im Kino zu sehen war. Und ganz in dieser märchenhaften Tradition könnte ja auch das Geschehen in der „Der kleine Fischer Tong“ gelesen werden: Das Skelett (denn ob es tatsächlich der Tod oder ein Toter ist, wird ja im Text nicht verraten) wird durch das Mitgefühl und die konkrete Hilfestellung des kleinen Tong in seine menschliche Gestalt zurück verwandelt – und dadurch erlöst. Die Ausfahrt, die die beiden anschließend machen, wäre dann in diesem Sinne keine Reise ins Jenseits oder in eine magische Zwischenwelt, sondern vielmehr in die Fülle des Lebens.
Die gesammelten Kröten der letzten Monate und Jahre finden Sie im >>> Krötenarchiv
Kröte des Monats September 2014
Aus der Reihe Poesie für Kinder.
Kindermann 2014.
32 S., € 16,00.
Friedrich Schiller / Valentina Corradini:
Die Kraniche des Ibykus
„Sieh da! Sieh da, Timotheus, die Kraniche des Ibykus!“ Jene Aufforderung zum Schauen – längst zum geflügelten Wort geworden – darf hier durchaus programmatisch verstanden werden: Gilt es doch einen (erneuten) Blick auf jene Schicksalsballade von Friedrich Schiller zu werfen, die erstmals im Balladenjahr 1797 im „Musenalmanach“ erschienen ist. In 23 Strophen etablierte Schiller den damals bekannten Stoff um den Dichter Ibykus, der im 6. Jhdt. v. Chr. auf dem Weg nach Akrokorinth, „Zum Kampf der Wagen und Gesänge“, grausam ermordet wurde. Mit Meuchelmord, Rache und Strafe ist „Die Kraniche des Ibykus“ nicht gerade der naheliegendste Text für die Reihe „Poesie für Kinder“ des Kindermann Verlags, umso außergewöhnlicher darf die Publikation bezeichnet werden, die sich der Verlag zum 20. Geburtstag schenkt. Für die Illustration der Ballade wurde – ganz im Sinne der Isthmischen Spiele, zu den Ibykus auf dem Weg ist – ein Wettstreit ausgerufen: Das Rennen unter Studierenden der HAW Hamburg machte die junge Künstlerin Valentina Corradini,
die mit ihrem Coverentwurf und zwei Innenbildern den Auftrag zum Projekt bekam. Dass diese wie Ibykus aus Italien stammt, soll kein böses Omen sein, vielmehr hat sie sich der Figur auf besondere Art genähert und schafft es mit ihren schraffierten Buntstiftzeichnungen dem Text eine leichte Note zu entlocken, die der Faszination für einen guten Krimi gleichkommt.
Das antike Setting bricht sie dabei auf: Korinth ist bereits Ruine, Autos fahren auf den griechischen Hügeln, die Menschen tragen moderne Kleidung. Die universale Bedeutung der Ballade unterstreicht die Künstlerin so nicht mit Zeitlosigkeit, sondern mit Gleichzeitigkeit: Antike Versatzstücken werden neben zeitgenössische Sujets gestellt.
Schlüsselrolle bei der Entlarvung der Mörder spielen bekanntlich die Kraniche, entsprechend präsent setzt sie Corradini in Szene. Dem „graulichtem Geschwader“, im „schwärzlichtem Gewimmel“ Schillers entnimmt sie wahrlich schräge Vögel: Langbeinig, schmalgliedrig, stumm, mit großen Augen und warmem Blick erinnern die Kraniche Corradinis an Pantomime, die Ibykus schon auf dem Schmutztitel leiten. Der Beziehung zwischen Mensch und Vogelschar – den „befreundeten Scharen“, den „guten Zeichen“, wie sie Ibykus nennt – wird in den Bildern großer Raum gegeben und die Passivität der Kraniche mit handelnder Anteilnahme getauscht. Fast kontrapunktisch zeigen sie Ibykus den Weg, umfliegen ihn, hören ihm zu, sehen ihn an. Und während sich nach dem Mord der Wegelagerer in Poseidons Fichtenhain der sterbende Dichter im Text „verlassen“ und „unbeweint“ wähnt, scharen sich die Kraniche der Bildebene trauernd und klagend um ihn. „Von euch, ihr Kraniche dort oben, wenn keine andre Stimme spricht, sei meines Mordes Klag´ erhoben!“ Er ruft es, und sein Auge bricht.“ Das Publikum der Festspiele ist bestürzt ob des Todes ihres Stars, der als Skelett und mit doch erkennbarem Gesicht (ein wunderschönes Bild für den noch nicht entpersonalisierten toten Körper) vor ihnen ruht.
Dem Wunsch nach Sühne, Rache, Blut folgen die Schlüsselszene des Textes im vollen Amphitheater („es brechen fast der Bühne Stützen“) und damit auch der Höhepunkt des Bilderbuches: Auftritt Eumeniden – „die drei griechischen Rachegöttinnen Alekto, Magaira und Tisiphone“, wie uns das hilfreiche Glossar am Ende verrät. Großartig grotesk setzt die Künstlerin die drei Frauenfiguren in Szene. Im „Riesenmaß der Leiber“ ragen die medusenähnlichen Gestalten hoch über das Theater hinaus, das nur mehr als Miniaturwelt erkennbar ist. Die drei Gesichter, die wie die Masken des antiken Dramas in schwarze, unförmige Leiber installiert sind, spiegeln die Reaktionen auf den Tod: Zorn, Enttäuschung und Trauer. In ihnen verdichtet Corradini die Fülle des vorgetragenen, mehrstrophigen Hymnus. Der Wunsch nach Rache oder eher Gerechtigkeit, „besinnungsraubend, herzbetörend“, ist an den Figuren ablesbar. Wenn sich der Chor der Eumeniden zu winden und in Leserichtung zu beugen beginnt, erinnert er an die Kraniche und Bäume des Schicksalhains zuvor. So deutet Corradini schon auf den vorangegangenen Seiten – wie ein Omen – die Präsenz der drohenden Rache an. Die schließlich zuschlägt, in variierter Form. Denn während die Kraniche in Schillers Text passives Mahnmal und Erinnerungsträger sind, spricht ihnen die Bildebene mitfühlende und aktive Gestik und Mimik zu: Auch Flügel können erbost auf die Mörder zeigen, die mitten im lauschenden Publikum sind. Das Moment der unabsichtlichen Selbstanzeige, das der Ballade zugrunde liegt, wird so relativiert, die Kraniche sind es, die auf illustrativer Ebene für Gerechtigkeit sorgen. Damit personifizieren sie jenes Gefühl bei der Lektüre, das die (jungen) Leser*innen umfängt: Es ist nicht rechtens, was hier passiert ist, man ist traurig um Ibykus, den Götterfreund.
Corradini stilisiert die Kraniche zum Träger der Gerechtigkeit (setzt sie sogar ins Geschworenengericht) und betont so einen zentralen Aspekt des Ursprungstextes von Schiller, der besonders für das junge Publikum von Bedeutung scheint. Wenn die Mörder vor dem Tribunal mit dem Verstorbenen (wortwörtlich) aufgewogen werden und schließlich, endlich über dem Impressum hinter Gittern zu sehen sind, ist nicht nur der Gerechtigkeit Genüge getan, sondern auch der Kunst. „Sieh da! Sieh da, Timotheus, die Kraniche des Ibykus!“ – ein wahrlich gelungenes Beispiel für Weltliteratur für Kinder.
Christina Ulm
„Die Kraniche des Ibykus“ erscheint Ende September im Verlag Kindermann. Zum 20. Geburtstag des Verlages – zu dem die STUBE herzlich gratuliert – gibt’s besondere Guzzis: Der Zauberlehrling in 100 und Tells Apfelschuss in 500 Teile zerlegt!
Wer noch mehr Lust auf Weltliteratur für Kinder und Jugendliche hat, dem sei unsere >>> Buchbroschüre „Ach!“ empfohlen, die 60 Bücher zum Thema vorstellt.
Bewährter Inhalt in neuem Gewand ist auch das Motto für den Relaunch der STUBE-Homepage.
Schauen Sie sich um:
Viel Neues gibt es im Bereich >>> Über uns
Das neue Herbstprogramm finden Sie >>> hier
All unsere Buchtipps finden Sie >>> hier in neuer Ordnung
Der 6. Jahrgang des Fernkurs Kinder- und Jugendliteratur der STUBE startet in diesem Herbst!
Noch mehr Infos zum Fernkurs und zur Anmeldung (bis 15. September!) gibt’s >>> hier
Kröte der Monate Juli/August 2014
Aus dem Engl. v. Astrid Becker. Alle Carlsen 2014.
Marissa Meyer: Die Luna-Chroniken
Lange als „Cyborg-Cinderella“ gehandelt und intern begeistert weitergereicht, sind die „Luna-Chroniken“ von Marissa Meyer mittlerweile zur erklärten neuen Kult-Buch-Reihe der STUBE geworden. Im englischsprachigen Raum sind bisher 3 von 4 Bänden erschienen; im deutschsprachigen 2 von 4. Die Autorin staffiert darin eine ganz und gar futuristische Welt mit anachronistischen Märchenmotiven, bringt die jeweiligen Versatzstücke passgenau zueinander und stellt in jedem Band eine starke Frauenfigur ins Zentrum, deren Biographien gescheit verwoben werden. Dementsprechend ließen es sich die Mitarbeiterinnen der STUBE nicht nehmen, diesen Sommerschmöker figurenkonzentriert in den Blick zu nehmen.
Zur Orientierung: Wir befinden uns 126 Jahre nach dem Vierten Weltkrieg, durch den sich Staatenbünde etabliert haben, die in etwa den heutigen Kontinenten entsprechen. Dieser futuristischen Welt wird Lunarien zugefügt, das sich aus einer irdischen Mondkolonie entwickelt hat. Gelenkt werden die Geschicke Lunariens, das zunehmend die Erde bedroht, durch die machthungrige Königin Levana. Die Hoffnung der Lunarier und der Menschen gleichermaßen liegt in Prinzessin Selen, die von Levana durch ein Feuer getötet wurde, von der man aber vermutet, sie sei noch am Leben …
Band 1 „Wie Monde so silbern“: Cinder
„Linh Cinder, lizenzierte Mechanikerin, ID #0097917305, Geb. 29. November 109 D.Z., 0 Suchergebnisse, Wohnhaft in Neu-Peking, Asiatischer Staatenbund. Mündel von Linh Adri.“
Im Auftakt der Luna-Chroniken begegnen wir der besten Mechanikerin von Neu-Peking und mit ihr auch der ersten deutlichen Märchenreferenz: Linh Cinder (welch sprechender Name) ist Halbwaise, ungeliebte Stieftochter, unterdrückte Arbeiterin – mit einem Cyborganteil von 36,28 Prozent. Seit einem Unfall in ihrer Kindheit ist ihr Körper ausgestattet mit einer künstlichen Hand, einem künstlichen Fuß, Drähten von der Schädelbasis zum Rückgrat, Metallrippen, künstlichem Gewebe um das Herz. Dieserart deformiert und synthetisch zusammengefügt ist Cinder schon rein körperlich als tough markiert und dementsprechend wird sie auch charakterisiert.
Als Cinder – dem Plot des Märchens folgend – von Prinz Kai, baldigem Imperator des Asiatischen Staatenbundes, auf einen Ball eingeladen wird, wo sie im zerfetzten und motorölbefleckten Kleid in einem spektakulären Finale (schließlich gilt es die drohende Invasion der Mondkönigin Levana zu vereiteln) etwas bestimmtes verliert, werden weitere Analogien zu Filmikonen wie Sarah Connor oder Ellen Ripley deutlich. Selbst wenn Cinder in ihren Beziehungen – zu Hilfsandroidin Iko, eine entzückende Mischung aus R2-D2 und C-3PO und natürlich zu Prinz Kai – merklich sanfter gezeichnet ist.
Was in mancher rüden Zusammenfassung motivisch etwas überladen klingt, funktioniert im Text hervorragend. Nicht zuletzt, weil die Autorin selbst Teil jener Fankulturen ist, für die diese Bände wohl auch geschrieben sind: Jemand, der sich im Nachwort bei den „Experten der Sailer-Moon-Fangemeinde“ ebenso bedankt wie bei einem Forscher für chinesische Höflichkeitsformen und dem Star-Wars-obsessiven Bruder, hat seine Recherche-Hausaufgaben gemacht und den Hype, der mittlerweile um die Bücher ansetzt, verdient. Ganz abgesehen davon, dass es Marissa Meyer versteht, Cinder nicht nur mit einer Besonderheit auszustatten, sondern im Laufe der vier Bände weitere biographische Leerstellen überraschend zu füllen weiß und ihrer Protagonistin schwere Entscheidungen inmitten all der Verschwörungen abverlangt …
Christina Ulm
Band 2 „Wie Blut so rot“: Scarlet
Band 1 endet mit der himmelschreienden Ungerechtigkeit, dass Linh Cinder für ihren Angriff auf Königin Levana ins Gefängnis geworfen wird und ausgerechnet der königliche Forscher Dr. Erland sie daraus befreit und ihr einen (Aus-) Weg weist … Wer nicht um den figurenorientierten Aufbau der Luna-Chroniken weiß und Band 2 aufschlägt, um an dieser spannenden Passage weiterzulesen, wird zunächst enttäuscht. Denn von Linh Cinder ist weit und breit keine Spur – zumindest in Kapitel 1, 2 und 3. Denn dort wird Scarlet (nomen est omen) etabliert: Zwar trägt sie kein rotes Häubchen und auch keinen Korb mit Wein und Kuchen, doch liefert sie Lebensmittel aus, die sie mit ihrer Großmutter auf einer Farm nahe des Waldrandes irgendwo in Frankreich anpflanzt. Marissa Meyer lehnt ihre zweite zentrale Protagonistin unschwer erkennbar an Rotkäppchen an. Geschickt verflechtet sie die Handlungsstränge Scarlets und Linh Cinders: Zu Beginn taucht Linh Cinder nur in Form von schlagzeilentauglichen Nachrichten auf dem Netscreen in einer Spelunke auf, die Scarlet gerade besucht; ab Kapitel 4 werden die Geschicke der beiden Frauenfiguren abwechselnd erzählt. Linh Cinder wird dabei ein humoriger Sidekick an die Seite gestellt: „Kapitän“ („Eigentlich Kadett, aber Kapitän macht mehr Eindruck bei den Mädchen.“) Carswell Thorne hat ein dermaßen aufgeblasenes Ego, dass es schon wieder sympathisch ist – vor allem weil er immer wieder damit aneckt. Und auch Iko, Cinders Androidin, ist wieder mit von der Partie – allerdings in neuer Gestalt. In ihrer neuen Form ist es letztlich sie, die Cinder und Thorne nach Frankreich und zum Dreh- und Angelpunkt von Band 2 bringt: Dieser ist nämlich Scarlets Großmutter, die plötzlich verschwunden ist. Als ihre Enkelin sie zu suchen beginnt, findet diese jedoch – dem Märchen entsprechend – stattdessen einen (Mann namens) Wolf. Dieser manifestiert sich als gutaussehender Straßenkämpfer mit mysteriösen Tattoos und Kampfinstinkt. Prägt er sich erst einmal auf eine Frau, dann lässt er so schnell von seiner „Beute“ nicht mehr ab (hier erinnert Meyer doch sehr an Meyer). Obwohl sich Scarlet auf den geheimnisvollen Fremden einlässt und sich so eine mitreißende Liebesgeschichte entspinnt, bleibt Marissa Meyer ihren starken Frauenfiguren treu und etabliert auch Scarlet als tapfere und mutige Heldin. Als sie endlich auf Linh Cinder trifft, müssen die beiden erstmal einem Angriff lunarischer Armeen Widerstand leisten – und Wolf seiner (genetisch manipulierten) Natur …
Elisabeth von Leon
Band 3 „Wie Sterne so golden“: Cress
Die Rampion ist auf der Flucht. Und das illustre Grüppchen jener, die nach und nach zu Rebellen gegen Königin Levana heranwachsen, umfasst bereits Cinder, Scarlet, Wolf und Captain Carswell Thorne. Doch die Uhr tickt – sozusagen wortwörtlich, denn bereits zu Beginn von „Cress“ generiert Iko einen sichtbaren Countdown im Raumschiff: „T minus fifteen days, nine hours until the royal wedding“.
Die Hochzeit zwischen emperor Kai und queen Levana steht erneut im Zentrum des Interesses: Sie soll definitiv stattfinden. Schon alleine, weil ein Blitzangriff der Lunarischen Armee als Racheakt für Cinders Flucht 16.000 Menschenleben gefordert hat und Levana als Morgengabe Frieden verspricht. Für die Rebellen ist sie äußeres Zeichen ebenso wie Handlungsoption – ein kurioser Rettungsplan für die Erde wird entworfen, von dem für die Leser*innen nur wenig offen gelegt wird: Er beruht auf Cinders Geheimnis um ihre Herkunft und der Möglichkeit, im Rahmen der Hochzeitsfeierlichkeiten aktiv zu werden.
Soweit jener Plot, der sich über die „Lunar Chronicles“ spannt, deren nunmehr dritter Band „Cress“ im Original bereits erschienen ist und für Herbst in seiner deutschsprachigen Ausgabe angekündigt wird. Warum also nicht ein wenig englischsprachige Lektüre im Sommer?
Einmal mehr verweist der titelgebende Mädchenname auf das entsprechende Märchen, das der Handlungsstruktur und Figurenkonstellation dieses Bandes zu Grunde gelegt wird. „Rapunzel ward das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahre alt war, schloss es die Zauberin in einen Turm, der in einem Walde lag und weder Treppe noch Türe hatte, nur ganz oben war ein kleines Fensterchen.“
“Her Satellite made one full orbit around Planet Earth every sixty hours.”
Crescent Moon, genannt Cress, war ebenfalls erst 10 Jahre alt, als sie von thaumaturge Cybill in einen winzigen Satelliten gesteckt wurde. Nach und nach wuchs sie zum Ein-Frau-Nachrichten-Dienst Lunariens heran und entwickelte unter anderem ein Programm, um Lunariens Raumschiffe für das Radar unsichtbar zu machen. Ihre Zeit verbringt sie damit, ihre Hacker-Fähigkeiten zu optimieren, sich selbst Lullabies vorzusingen und komplizierte Zopfmuster in ihr langes Haar zu flechten. Als shell wurde Cress von ihren Lunarischen Eltern weggegeben; doch wie auch im Märchen der Brüder Grimm stellt Cress sich als spätes Kind heraus, das der Biografie einer der schon im literarischen Spiel der Lunar Chronicles befindlichen Figuren zugefügt wird. Darüber hinaus bedient sich Marissa Meyer auch an Hans Christian Andersen. Dann nämlich, wenn die Sehnsucht der jungen Cress sich wie jene der kleinen Meerjungfrau ganz und gar auf die Menschen richtet, sie diese über ihre zahlreichen Netscreens beobachtet. Sobald Raumschiffe ins Spiel kommen, dürfen jedoch auch die Anleihen an den modernen Mythos nicht fehlen: Immer deutlicher wird die Figur des Captain Thorne an Han Solo aus „Star Wars“ angelehnt, wenn Cress der Rampion ihre Dienste anbietet und gleichzeitig um Hilfe bittet. Ihm jedoch wird auch das Schicksal jenes Königsohns zugemutet, der Rapunzel aus ihrem Turm befreien will und dafür mit dem Sturz in die Dornen bezahlt, die ihm seine Augen ausstechen. Jene Wüstenei, in der Rapunzel bis zum glücklichen Ende alleine leben muss, wird hier zur wortwörtlichen Wüste: Nach Frankreich wird nun nach Afrika gewechselt, wo Cinder auf ihrer Flucht erneut auf Dr. Erland trifft. Bis im Showdown die Hochzeit gecrasht wird, wird die illustre Rebellengruppe auf tragische Weise getrennt; Scarlet bleibt sogar – zu Wolfs Entsetzen – bis zum Ende Gefangene der Lunarier und wird dort nach zahlreichen Torturen der wunderschönen, wenn auch verunstalteten Stieftochter von Levana übergeben, die nicht bei Zwergen, sondern in einer Menagerie lebt und erahnen lässt, dass der finale vierte Band „Winter“ (Erscheinungstermin 2015) auf Luna spielen wird. Denn, um Kai zu zitieren: “The people of Luna don’t need a princess, they need a revoluntionary.”
Heidi Lexe
Die Cover der englischen Originalausgaben.
Feiwel & Friends / Puffin.
Sehr zu empfehlen (für lange Staus auf der Autobahn, Zugreisen oder Strandspaziergänge): Die ungekürzten Hörbücher der Reihe erschienen bei Silberfisch, großartig gelesen von Vanida Karun als praktische mp3 CDs. Hier gehts zur Hörprobe.
Ob in der Übersetzung bei Carlsen, im Original bei Puffin oder als Hörbuch bei Silberfisch - mit diesem besonderen Buchtipp wünscht das Team der STUBE Ihnen/Euch einen guten Sommer! Wir sehen uns wieder im Herbst. In neuem Outfit ...
Kröte des Monats Juni 2014
Druck und Bindung: Ernst Elsnic 2014.
Bald verlegt vom Luftschacht Verlag!
Verena Hochleitner: Der verliebte Koch
Wer verliebt ist, hat bekanntlich die rosarote Brille auf. Nicht so bei Verena Hochleitner. In ihrem Debüt als Autorin ist „der verliebte Koch“ des gleichnamigen Bilderbuchs konsequent in einer monochromen Welt verortet. Die Bilder in Aquarell-Acryl- Mischtechnik werden nur durch kleine, feine Farbdetails aufgelockert – am Vorsatzpapier ist es noch der blaue Handkoffer, der den tätowierten Koch in die Arbeit begleitet, danach folgen die Augen der BetrachterInnen einem frechen, quirligen Grün. In dieser lebhaften Farbe präsentieren sich nämlich die lockigen Gedanken des verliebten Kochs. Denn wenn dieser „gedankenverloren“ in der Suppe rührt, kann es leicht passieren, dass der eine oder andere Gedanke flüchtig wird und loszieht ...
Es sind liebevolle Überlegungen, Ideen der Liebe, die hier – wie Amors Pfeil – durch die Doppelseiten gleiten. Im Schlagabtausch werden Figuren im städtischen Setting (einander) vorgestellt. Die visualisierten Gedanken des Kochs verändern die Alltagsszenen auf ganz unterschiedliche – nicht selten überraschende – Arten: Ob beim Warten in der Bushaltestelle, im Verkehrsstau oder im Waschsalon, immer wird das Grau gebrochen. Verena Hochleitner collagiert Ebenen aufeinander, gibt den Blick auf das Innere, zum Beispiel von Autos, frei oder lässt Wände und sogar gestandene Männer transparent werden. Dadurch entstehen Räume, die einerseits dicht, durch den feinen Strich und die sparsame Farbgestaltung aber andererseits auch ganz leicht wirken. „Ich schaffe mit meinen Bildern Räume, in denen sich der Text entfalten kann“, sagt die gelernte Grafikerin 2012 in einem Interview mit dem FAQ-magazine.
Verena Hochleitner arbeitet gezielt mit Auslassungen, die aus dem angedeuteten urbanen Raum (bisweilen ist gar der zweite Wiener Bezirk zu erkennen) einen Freiraum machen und Platz für die Gedanken des Kochs lassen. Diese kringeln sich mal wie die Haarpracht von Frau Brunnsteiner ganz dicht um deren Kopf und schon „hatte sie sich unsterblich in Herrn Cevela verliebt“; oder sie kreisen wie Comic-Piktogramme um das tragisch in den Händen verborgene Gesicht von Hundesitter Faruk. Der verzweifelt, als er von drei ungehobelten Jugendlichen angepöbelt wird und inständig um Hilfe bittet. Dass es der Hund ist, der auf der Bildebene überdimensional anwächst und so seinen Gassigeher vor dem Schlimmsten bewahrt, bleibt im Text ausgespart.
„Für interessante Bild-Text-Beziehungen gilt, dass das, was ich im Bild ohnehin sehe, im Text nicht beschrieben werden muss und umgekehrt“, so Verena Hochleitner. Demnach ist es nur konsequent, dass die Künstlerin in diesem Bilderbuch alles selbst macht, um eben jene komplexen Beziehungen herstellen zu können: Nicht nur Text und Bild stammen aus ihrer Feder, sie hat das Buch auch selbst verlegt und drucken lassen. Die Liebe bis ins letzte Detail merkt man den aufwändig gepatchworkten Bildern auch an: Ständig reichert die Illustratorin die Textebene durch verzerrte Perspektiven, kleinteilige Details, verschmitzte Figuren, unterschiedliche Muster und filigrane Kulissen an. Das Alltägliche wird zum Besonderen. Die Bilder zur Bühne. Verena Hochleitners Geschöpfe schweben als Federzeichnung, Malerei, Stempel- oder Collagetechnik am Auge vorbei – immer begleitet von den manchmal sogar herzförmigen Gedanken des verliebten Kochs. So gestaltet sie eine intensive Welt des Miteinander, in der jeder (s)einen Platz findet und die angenehm altmodisch-kitschig und zugleich modern bunt ist. Dass es dafür keiner Farben bedarf, beweisen Verena Hochleitners poetisch-zarte Illustrationen meisterhaft. Liebe geht bekanntlich durch den Magen, bei Verena Hochleitner geht sie ihren Weg durch eine willkommen reduzierte Bildwelt – die letztlich den BetrachterInnen eine ganz eigene (Farb-) Interpretation von Liebe ermöglicht!
Wer diesen Weg nicht nur selber umblättern möchte, kann seine Augen auch auf Reise im animierten Kurzfilm zum Bilderbuch schicken: http://vimeo.com/85235248
Elisabeth von Leon
Breaking News: 2015 wird "Der verliebte Koch" in in leicht überarbeiteter und noch verbesserter Form im Luftschacht Verlag erscheinen! Und damit für alle interessierten LeserInnen zugänglich gemacht.
Kröte des Monats Mai 2014
Übersetzt von Schnettler, Tobias.
S. FISCHER Verlag 2014.
560 S. 20,60 €.
Ruth Ozeki: Geschichte für einen Augenblick
„Die Autorin ist nicht die Erzählerin.” Jener irritierende Satz von literaturvermittelnden Deutschlehrer*innen darf im Fall Ruth Ozekis von kritischen Schüler*innen zu Recht hinterfragt werden. Das Ausmaß an Wachsamkeit um biografische Parallelen bei der Lektüre von „Geschichte für einen Augenblick” zu entdecken, muss allerdings nicht ausgesprochen hoch sein: Eine von zwei Romanhauptfiguren ist Schriftstellerin, lebt in New York sowie auf einer kleinen kanadischen Insel und heißt ... Dreimal darf die Musterschülerin raten. Richtig. Ruth. All das erfährt man über Ruth Ozeki bereits im Paratext des Schutzumschlags. Das Spiel mit der Fiktion der Erzählung endet allerdings nicht auf dieser oberflächlichen Ebene.
Einerseits werden zeitgeschichtliche Momente im Text explizit zeitlich verschoben dargestellt, um in Verbindung mit dem Romantitel „Geschichte für einen Augenblick” kunstvoll auf den ebenso verstörenden Leitsatz des Geschichtsunterrichts zu verweisen: „Auch Geschichtsschreibung ist Fiktion”.
Denn als Ruth im Tagebuch der jungen Nao aus Japan, das sie am Strand der kanadischen Westküste entdeckt, zu lesen beginnt, wird die Zeit relativ. Abwechselnd erfährt man vom Vorhaben der gemobbten Problemschülerin das eigene Leben zu beenden und dem irrationalen Verlangen der Schriftstellerin Hilfe zu leisten. Ein aussichtsloses Verlangen, da die Tagebuchnotizen eine jahrelange Reise im Trift über den Pazifik hinter sich haben. Doch Ruth liest im Jetzt, liest in Etappen, recherchiert, diskutiert mit ihrem Mann sowie schrulligen Insulanern, verliert sich mehr und mehr in der Geschichte der jungen Japanerin und verliert auch den Bezug zur zeitlichen Realität: der Titel des Tagebuch-Blogs „The Future is Nao” wird zur Metapher für Ruths Bewusstsein.
Andererseits trägt die Wahl der Erzählform zur ambivalenten Situation dieser Beziehung bei, die sich auf den Leser/die Leserin überträgt. Durch die gewählte Adressierung Naos fühlt man sich als Tagebuchleser*in direkt angesprochen: „Du machst dir Gedanken über mich. Ich mache mir Gedanken über dich. Wer bist du, und was machst du gerade?” Zur gleichen Zeit identifiziert man sich mit der personal erzählten Ruth, die die Erzählung durch ihre Recherchen verbreitert und vorantreibt.
Neben diesen ergänzenden Informationen der Schriftstellerin führen Naos Schilderungen und Überlegungen im Tagebuch zum Wissenszuwachs über japanische Geschichte und Jugend-/Populärkultur. Während zahlreiche japanische Begriffe in Fußnoten erläutert werden, findet man im Anhang ausführlichere Erklärungen zu „Zen-Augenblicken”, „Tempelnamen” oder „Schrödingers Katze”.
In besonders eindrücklicher Weise wird die Vermittlung der Sein-Zeit-Philosophie gestaltet. Eine japanische Form des Verständnisses von Zeit und Geschichte wird von Nao explizit wiedergegeben: „Ich heiße Nao, und ich bin Sein-Zeit, ich bin Sein, und ich bin Zeit. [...] Jeder, der in der Zeit lebt, ist Sein-Zeit, du, ich und jeder andere von uns, den es gibt, jemals gab oder geben wird.”
Implizit wird ein Gefühl für diese philosophische Auffassung durch die einfühlsame Zeichnung der Beziehung zwischen Nao und ihrer Urgroßmutter vermittelt, die den einzigen Lichtblick im Leben der Jugendlichen darstellt. Sie ist Nonne, Schriftstellerin, Anarchistin, Feministin und Naos großes Vorbild. Durch die Aufarbeitung der urgroßmütterlichen Biografie, der Reflexion im Tagebuch und der aufkeimenden Hoffnung auf ein besseres Leben entsteht schließlich Sein-Zeit, die sich aus der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft Naos speist.
Peter Rinnerthaler
Die Sein-Zeit-Theorie lässt sich auch auf den im Herbst neu startenden Fernkurs für Kinder- und Jugendliteratur übertragen – ein im deutschsprachigen Raum einzigartiger, viersemestriger Lehrgang, der in die Kinder- und Jugendliteratur nicht nur einführen, sondern vorhandenes Fachwissen systematisieren und vertiefen soll.
Neben der Generierung von Wissen über historische, gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen der Kinder- und Jugendliteratur stehen die Reflexion und die Einordnung der eigenen Position(en) im Mittelpunkt dieser Fortbildung.
Wenn Sie, genau wie die wissenshungrige Romanfigur Ruth,
nebenberuflich, im Dialog mit Expert*innen,
den Drang verspüren mehr über kinder- und jugendkulturelle Phänomene/Literatur
zu recherchieren, zu lernen und schriftlich zu reflektieren,
und die eine oder andere Fußnote nicht scheuen,
dann legen wir Ihnen nicht nur die Lektüre dieses Romans nahe,
sondern auch die Anmeldung zum Fernkurs für Kinder- und Jugendliteratur der STUBE.
Alle Informationen (über Ermäßigungen, Frühbucherbonus und Bedingungen) finden Sie >>> hier
... und knapp zusammengestellt und ansprechend aufbereitet im Fernkurs-Folder in Papierform, der (auch zum Weitergeben an andere Interessierte!) unter fernkurs@stube.at bestellt werden kann.
Kröte des Monats April 2014
Kunstanstifter Verlag 2014.
72 S. 27,30 €.
Christina Röckl: Und dann platzt der Kopf
Kindermund tut Wahrheit kund. Ein Satz, der oft im Zusammenhang mit zwischenmenschlichen Belangen und mit entwaffnender Ehrlichkeit im alltäglichen Dialog geäußert wird. Welche Relevanz er aber auch in Hinblick auf ganz existentielle Wahrheiten hat, zeigt die Leipziger Illustratorin Christina Röckl in ihrem großformatigen Bilderbuch, das „Seelensätze“ von „Seelenspezialisten“ in einem Gesamtkunstwerk bündelt. Die Textgrundlage bilden zwölf Gespräche mit Kindergruppen zum Thema SEELE. Ein Begriff, der im Buch erstaunlich und bezeichnend oft ohne Artikel benannt wird und so den Charakter eines Eigennamens gewinnt. Ein konsequenter Sprachgebrauch, schließlich gibt es nicht die Seele, sondern nur eine unendliche Vielzahl an Deutungen jener schwierig zu denkenden religiösen, psychologischen und mythologischen Idee, die (nicht nur im christlichen Kontext) oft synonym mit Ich, Psyche, Leben, Identität und Mensch gebraucht wurde und wird.
Aus den Aufzeichnungen der Gespräche hat die Künstlerin markante Formulierungen ausgewählt, arrangiert und nicht zuletzt um expressive Bilder ergänzt. „Kinder erklären die Seele!“, heißt es zu Beginn des Buches – Christina Röckls Leistung kann dabei gar nicht überschätzt werden: Das Buch überwältigt durch seine Schlagkraft und lädt zur wiederholten Betrachtung ein. Der Verlag Kunstanstifter hat sich nicht lumpen lassen, diese Masterarbeit in Illustration in hochwertiger Ausstattung, auf mattem Papier, in sattem Druck und sogar als limitierte Sonderedition zu verlegen.
Studiert hat Christina Röckl u.a. bei ATAK – diese Schule merkt man der jungen Künstlerin an, und doch scheint ihr Stil noch ein wenig wilder und verwegener zu sein. Der grobe Pinselstrich auf ölig-satten, kontrastreichen Farbflächen – teilweise geklebt, geschabt und gekratzt – lenkt den Blick gezielt auf die wesentlichen Bildmomente der ersten Seiten: Ein gelbes Krokodil fliegt über weiten Blauraum, ein Pferd hat den Blick zum Mond gerichtet, der auf einer weiteren Doppelseite in verschiedensten Variationen einer gelben Scheibe ausgedeutet wird. Mondgesichter zeigen sich, An- und Ausdeutungen jener Figuren, Formen und Bildern, die man gemeinhin im Gestirn erkennen kann. „Seele lebt im Mond, Seele lebt bei uns“, heißt es folgend im in Versalien gestempelten Text.
Sprache und Kunst versuchen in Symbiose, Bilder für etwas zu finden, das eigentlich nicht abzubilden ist. Beide Ausdrucksformen versuchen die Seele zu fassen, reagieren aufeinander und sind wechselseitig lesbar. Immer neue Querverbindungen ergeben sich bei der Betrachtung, kleine Sinneinheiten fließen ineinander über und evozieren eine ganz eigene Dynamik der Lektüre. „Seele ist ne Wolke“, heißt es im Text und entsprechend lässt sich auch das schwebende Krokodil deuten. Wie die Mondgesichter sind auch Wolkenbilder eine sogenannte Pareidolie – das fälschliche Erkennen von Mustern in der Unordnung, vom Vertrauten im Fremden. Ähnlich scheinen die kindlichen Gedanken über den komplexen Gegenstand der Seele zu sein: Bekannte, ganz irdische Bilder helfen, die Vorstellung vom Transzendenten zu benennen – es in sichtbaren Dingen wie dem Mond oder in den Wolken zu verorten. Mond und Wolken werden als belebt, als beseelt wahrgenommen.
Ein weiteres wesentliches Moment, das das Buch herausstreicht ist die gedachte Leiblichkeit des Menschen. Das Leib-Seele-Problem im christlichen Umfeld, das bis hin zu einem anthropologischen Dualismus ging, der Seele und Leib als getrennt bestimmt, wird hier en passant gelöst. Während im ersten Teil des Buches nachtschwarze, unendlich anmutende Hintergründe Sternenhimmel andeuten und der Seele im Mond und in den Wolken nachgehen, verlagert sich die Perspektive im weiteren Verlauf zum Menschen hin: Durch ein Fenster blickt man in einen Innenraum, auf ein Skelett in der Badewanne: „Seele sitzt unter der Haut. Seele ist ein Skelett. Seele ist die Wirbelsäule. Seele ist das Rückgrat.“ Das Changieren zwischen der körperlichen und transzendenten Ebene wissen die Kinder aber offensichtlich gleichsam zu spezifizieren, denn: „Wenn man nen Röntgenblick macht, sieht man die Seele aber nicht!“ Zu diesen Ideen stellt die Künstlerin wie auf einer Tafel gleich das zusammen, was uns wortwörtlich „im Innersten zusammenhält“: das Gerippe einer Erbschenschote, die Adern eines Blattes, die Markierungen eines Thermometers. Vorzeichen für jenes Geschöpf, ohne das Seele nicht denkbar ist: Ein schlafender Mensch ist in der Mitte des Bilderbuches auf einer aufklappbaren Doppelseite vor schwarzem Grund inszeniert, auf dem die bildlichen Leitmotive und die (christliche) leib-seelische Einheit verdichtet werden. Ganz im philosophischen Sinn wird auch diese Verortung hinterfragt: Man kann Seelen nicht wie Kleidung tauschen, nur antäuschen, denn „eigentlich könnte Seele überall sein.“ So das nüchterne Zwischenresümee, das jahrhundertelange Diskurse um das Wesen der Seele zusammenfasst.
Die Figuren, die Christina Röckl auf fast alle ihre Seiten stellt, muten bisweilen gespenstisch an: Geister- und Knochenwesen mit schwarzen Augenhöhlen sind allesamt Versuche, die Irritation so mancher Deutungen der Seele zu fassen: „Die Seele spielt uns“, heißt es an einer Stelle. So existentielle Fragestellungen wie jene nach dem Innersten des Menschen können wohl nur über eine latente Verunsicherung dargestellt werden. Dementsprechend rühren auch die Bilder an, wühlen auf und faszinieren. Konsequent endet das Buch auch mit einer Idee des Verbleibs der Seele nach dem Tod: „Wenn ein Mensch gestorben ist, dann gehen die Seelen aufs Level Null.“ … „und dann entsteht was Neues.“ Wie dieses Neue aussieht, lässt die Künstlerin in ihren Bildern weitgehend offen und damit einsetzbar für viele (theologische) Diskussionskontexte. Sie kehrt am Ende zu jener gelben Schrift auf schwarzblauem Grund zurück, die schon zu Beginn des Buches auf die Unendlichkeit der Deutungsmöglichkeiten verwiesen hat. Die abschließende Sequenz ist apokalyptisch und schöpferisch zugleich: „Seele macht bumm.“ Und gibt ganz im aristotelischen Sinn dem Lebendigen seine Form.
Christina Ulm
Ganz im Zeichen der Auseinandersetzung mit philosophischen, ethischen und religiösen Aspekten in der Kinder- und Jugendliteratur steht auch die neue Themenbroschüre der STUBE:
„Was wäre die Welt …“
Gegliedert ist die Broschüre nach den drei großen Sinnfragen der Menschheit: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn? Ausgewählt wurden 66 Kinder- und Jugendbücher der letzten Jahre, die altersmäßig zugeordnet und umfangreich annotiert wurden.
Nähere Informationen und die Möglichkeit zur Bestellung finden Sie >>> hier
Präsentiert wurde die Broschüre am Studientag „Arche Brot und Christentum“, den die STUBE am 28. März veranstaltete. Einen Rückblick finden Sie >>> hier
Kröte des Monats März 2014
Übersetzt von Tobias Scheffel.
Moritz 2013.
96 S., € 13,40.
Claude K. Dubois: Akim rennt
Hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs herrscht im uns umgebenden europäischen Gebiet relativer Friede. Der, wie sich aktuell in der Ukraine zeigt, schneller als gedacht aus dem Gleichgewicht geraten kann. Denn die historische Urkatastrophe der Moderne, als die der Erste Weltkrieg heute rezipiert wird, setzt sich auf persönlicher Ebene für zahllose Menschen auf allen Kontinenten durch ihre Erfahrungen von Krieg und Flucht fort. Die belgische Künstlerin Claude K. Dubois versucht diese traumatischen Erfahrungen am Beispiel des individuellen Schicksals des jungen Akim für Kinder erfahrbar zu machen. Ihr Blick richtet sich dabei auf die Krisenregion des Kaukasus – wobei dabei viel weniger eine konkrete zeitgeschichtliche Verortung, als vielmehr eine Lenkung des Blicks auf die Peripherien des Weltgeschehens vorgenommen wird. Wenn jeder Christ und jede Christin aufgefordert ist, den Mut zu haben, Randgebiete zu erreichen, wie Papst Franziskus es so nachhaltig in Evangelii Gaudium formuliert, liegt der Beginn unseres davon bestimmten Handelns in der Fähigkeit, das menschliche Erleben jener zu begreifen, die aus dem geordneten Miteinander herausfallen. Das gilt auch und insbesondere für Kinder, deren ethisches und religiöses Handeln sich erst herausbildet.
Doch wie eine Sprache für das Unaussprechliche finden? Claude K. Dubois wählt das Mittel der Bildsprache: Sie arrangiert skizzenhaft festgehaltene Momente zu einer Bildgeschichte und folgt in deren Sequenzierung der Bewegung von Akims Flucht.
Wie eine Naturgewalt kommt der Krieg über das schlichte Leben des Jungen, als ein aschefarbener Wirbelsturm am Horizont auftaucht und ihm erste Detonationen folgen. Irritiert bleibt Akim in der Trümmerlandschaft zurück, bis er unvermittelt an der Hand genommen und mit Flüchtenden mitgerissen wird. Dann jedoch passiert, was Akims weiter Geschichte bestimmt: Er verliert die Hand jenes Erwachsenen, an den er sich geklammert hat und bleibt wortwörtlich mutterseelenallein zurück. Von diesem Moment an fokussieren die Bilder auf die Einsamkeit und das Verlorensein Akims, der in ganz unterschiedliche Szenarien des Kriegsgeschehens gerät. Als würde sie das Geschehen dokumentarisch begleiten, hält die Illustratorin diese Szenen in ihren Bleistiftzeichnungen fest, die in ihrem raschen Strich den jeweils einzelnen Moment zu fassen und zu konservieren versuchen – und ihn dennoch in seiner Flüchtigkeit belassen. Als Akim sich einer Flüchtlingsgruppe anschließen kann, werden diese Momentaufnahmen zunehmend als modernes Exodusgeschehen lesbar – wobei das Meer sich nicht teilt, sondern überfüllte Flüchtlingsboote an neue Ufer gelangen wollen.
„Rette mich, Herr, mit deiner Hand vor diesen Leuten, vor denen, die im Leben schon alles haben“, heißt es in Psalm 14. Mit den Geschehnissen im Flüchtlingslager rückt Claude K. Dubois ihre Geschichte ins Zentrum medialer Alltagserfahrungen der westlichen Welt und zeigt auf berührende Weise das Ausmaß der Trauer, die Akims Leben bestimmt: Egal ob inmitten anderer Kinder, im Spiel oder alleine in den Bildraum gesetzt – er vermisst sein früheres Leben und seine Eltern.
In der Traumatherapie ist es wichtig, die Aufarbeitung existentieller Erlebnisse dieser Art immer positiv einzubetten. Und so wird auch hier Akims Erleben von einem harmonischen Beginn und einem versöhnlichen Ende umrahmt: In der letzten Bildsequenz findet Akim seine Mutter wieder – und mit ihr jene Heimat, Geborgenheit und Zugehörigkeit, auf die jedes Kind ein Recht haben sollte.
Heidi Lexe
Claude K. Dubois erhält für ihr außergewöhnliches Kinderbuch den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2014. Der Preis wird von der Deutschen Bischofskonferenz ausgeschrieben und von einer Fachjury unter dem Vorsitz von Weihbischof Robert Brahm an Bücher vergeben, die religiöse Erfahrung vermitteln, Glaubensweisen erschließen und christliche Lebenshaltungen verdeutlichen. Heidi Lexe, Leiterin der STUBE, gehört dieser Jury seit 2011 an.
Dem Preisbuch wird eine Empfehlungsliste mit 14 weiteren ausgewählten Büchern zur Seite gestellt. Die jeweiligen Bücher wurden von der STUBE bereits alle in der Broschüre "Seitenweise Kinderliteratur 2013" vorgestellt.
Eine Zusammenstellung der Bücher der Ehrenliste mit den Annotationen der STUBE finden Sie >>> hier
Die offizielle Präsentation des Preises und seiner Geschichte, des Preisbuches, der Ehrenlistenbücher und der Jury finden Sie auf der Website des Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises
Claude K. Dubois wird den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2014 am 7. Mai in Bonn entgegennehmen.
Ganz im Zeichen der Auseinandersetzung mit religiösen Aspekten in der Kinder- und Jugendliteratur steht auch der Studientag "Arche Brot und Christentum", den die STUBE am 28. März unter anderem in Kooperation mit dem Katholischen Kinder- und Jugendbuch-Preis veranstaltet. Das Detailprogramm finden Sie
>>> hier
Kröte des Monats Februar 2014
Aus dem Poln. v. Dr. Olaf Kühl.
mixtvision 2013.
44 S., € 15,40.
Anna Czerwinska-Rydel und Marta Ignerska:
Die Tonangeber
„Die Oboe begann.“
Dieses „musikalische Streitgespräch“ setzt ein mit jenem spannungsgeladenen Moment vor jedem Konzert, wenn alle Instrumente des Orchesters zum schaurig-schönen Vielklang ansetzen, um sich aufeinander einzustimmen.
Dieser Prozess – unabdingbar für das gemeinsame Zusammenspiel und gleichzeitig Ritual vor jedem Konzert – wird in diesem Sachbilderbuch genutzt, um die einzelnen Instrumente des Orchesters nacheinander vorzustellen und dabei eine Fülle an musikwissenschaftlichen Informationen zu vermitteln.
Wie immer ist die Oboe die erste: „Mit ihrer durchdringenden Stimme teilt sie allen mit, wie wichtig sie war. Sie spielte den Kammerton a.“ Das „beste, wahrste, reinste, vollkommenste Oboen-a“ gibt sie an den Konzertmeister weiter, ihr folgen Geigen, Klarinette, Flöte, Fagott, Trompete, Horn, Posaune, Pauken, Bratschen, Celli und Kontrabässe.
Jedem personalisierten Instrument ist eine Doppelseite gewidmet: In viel Weiß- oder Schwarzraum visualisieren poppige Neonfarben den entsprechenden Klang der einzelnen Instrumente. Die jeweiligen MusikerInnen scheinen Picassos Bildwelten entlehnt, geraten aber hier fast zur Nebensache. Im Mittelpunkt stehen die Instrumente selbst. Durch die bildliche Darstellung der selbigen werden nicht nur Informationen zu Bau- und Spielweise vermittelt, auch gibt die Visualisierung der Instrumentenklänge Aufschluss über Klangfarbe bzw. Tonerzeugung: So dehnen sich die Paukenschläge („Freude bringen wir am besten zum Ausdruck“) in riesigem Pink-Orange in den Bildraum aus, während der Geigenton („sie waren ein wenig verstört, ihr Ton war zart, ein wenig weinerlich, vibrierend“) als zitternde dünne Wellenlinie kreuz und quer über die Doppelseite schwingt. Einen Eindruck davon kann man im wunderbaren Buchtrailer des Buches gewinnen!
Im Text kommen die angeberischen Instrumente selbst zu Wort. In ihrer Selbstcharakterisierung, wie sie besonders in Bezug auf Klangfarbenbeschreibung treffender nicht sein könnte („Ich bin die Helligkeit selbst“, mischte sich stolz die Trompete ein. „Ich sprühe Funken und glänze, und jeder meiner Töne ist aus purem Silber!“), werden hier auch musikhistorische Informationen gegeben („Die Flöte war eifersüchtig. Schließlich war sie das Instrument der Götter und der Hirten!“).
Thematisiert werden die verschiedenen Instrumentenstimmen in einem symphonischen Werk und damit auch die Rollenverteilung der Instrumentengruppen: Die Oboe beharrt auf ihre Führungsrolle, das Horn bläst zur Jagd, für die Liebe sind sich die Celli zuständig und die Bratschen fühlen sich vernachlässigt und schweigen beleidigt.
Besonders bemerkenswert an diesem Buch ist, dass die ProtagonistInnen – die personalisierten Instrumente – zwar der Besetzung eines Symphonieorchesters entsprechen, das Buch jedoch trotzdem nicht ausschließlich in der europäischen Kunstmusik verortet ist: Betrachtet man die MusikerInnendarstellungen, finden sich Hinweise auf Jazz (Posaune), Altertum (Flöte) und Rock (Pauke) Eine Doppelseite erinnert sogar an eine Werkpartitur der Neuen Musik.
Mit der eitlen (Selbst-)Beschreibung der einzelnen Instrumente, den expressiven Illustrationen ihres Klangs und dem finalen harmonischen Zusammenspiel des Orchesters vor dem Dirigenten steht dieses kunstvolle Musiksachbuch für Synästhesie vom Feinsten:
„Er machte eine erste Handbewegung und sie begannen zu spielen. In Harmonie und Eintracht ergänzten sie einander und unterstützten sich. […] Jeder spielte seine Rolle.“
Elisabeth Magesacher und Christina Ulm
Vom Feinsten sind auch all jene Bücher zum Thema „Musik“, die die Musikwissenschaftlerin und Germanistin Elisabeth Magesacher (die derzeit ein Praktikum in der STUBE absolviert) in einer >>> neuen Buchliste zusammengestellt hat. Von Klassik über Jazz zu Punk finden sich verschiedenste Musikrichtungen in ganz unterschiedlichen (literarischen) Kontexten und Genres wieder.

Zwei alte Geschichten neu erzählt. Ein zweisprachiges Bilderbuch Deutsch – Arabisch.
Text: Anne Richter.
Übersetzung ins Arabische: Mahmoud Hassanein. Baobab Books, 2013.
32 S., € 16,40.
Mehrdad Zaeri: Prinzessin Sharifa und der mutige Walter
Der semantische Gehalt des Wortes Widerstand ist hoch. Ohne Kontextualisierung wird die Bedeutung einer antagonistischen Haltung spekulativ. Nur die Kenntnis über die Perspektive(n) der Resistenz ermöglicht ein Verständnis dafür, warum sich ein Individuum oder ein Bündnis widersetzt. Widerstand gegen die Regierungsgewalt: schlecht? Widerstand gegen die Regierungsgewalt eines reaktionären Systems: gut? Widerstand gegen die Regierungsgewalt eines reaktionären Systems, das ein autoritäres Reformregime zu beenden versucht: …? Eindeutiger ist dagegen, dass Widerstand ein zeitloses sowie internationales Phänomen darstellt und stets eine Erzählung in sich birgt.
So auch die zwei neu erzählten alten Geschichten, die von der Auflehnung des mutigen Walters und der nicht minder „furchtlosen Prinzessin“ Sharifa berichten. Die zwei dissidenten Figuren kämpfen allerdings nicht gegen eine ihnen gemeinsam übergeordnete Obrigkeit in Form eines Geschichten-Mash-Ups, sondern sehen sich von zwei unterschiedlich motivierten Tyrannen konfrontiert. Für das zweisprachige Bilderbuch wurde eine originäre Form gefunden, die die Schreib-/Leserichtung der arabischen als auch der deutschen Sprache berücksichtigt. Sharifas Widerstandserzählung liest man von links nach rechts, während man von rechts nach links blättert, um die Wilhelm-Tell-Sage aus der Perspektive des Sohnes Walter zu lesen. Somit sind die Leserichtungen der kulturellen Herkunft der Erzählungen entgegengesetzt. Ebenso wurde dies bei jenem Theaterprojekt gehandhabt, das diesem Bilderbuch vorausging. Ägyptische TheatermacherInnen aus Alexandria wählten Walters und deutsche Dramaturg*innen entschieden sich für Prinzessin Sharifas Geschichte. In der Mitte des Buches, wo die Erzählungen aufeinandertreffen, werden die Rahmenbedingungen und die Auseinandersetzung mit den Stoffen erläutert und davon berichtet, dass das Handeln Wilhelm Tells den ägyptischen Theaterleuten im politischen Kontext als äußerst zeitgemäß erschien: „Darin geht es um das Thema Freiheit“, heißt es in Bezug auf Tell und bei Sharifa: „Das alte arabische Märchen erzählt Wichtiges über das Thema Gerechtigkeit zwischen Mädchen und Jungen, zwischen Frauen und Männern.“
Der komplexen Genese des Theater-/Bilderbuchkunstwerkes und der vielschichtigen Struktur des Bilderbuches steht eine klare Auseinandersetzung mit dem einenden Thema Widerstand gegenüber, die in unprätentiöser Sprache und Bildgestaltung realisiert wird. In prägnant formulierten Sätzen gesteht man den Geschichten an jenen Stellen Raum zu, wo sie ihre Stärken ausspielen können: jene erzählenden Passagen, die die Spannung des jeweiligen Stoffes generieren. Bei Prinzessin Sharifa wird jene Stelle ausformuliert, die von drei schweren Prüfungen berichtet, die sie als Prinz verkleidetes Mädchen in einem entfeminisierten Königreich überstehen muss: „Als anschließend beim Festmahl allen das Essen scharf im Mund brannte, erinnerte sich Sharifa erneut an die Warnung der Königsmutter: Während auch die stärksten Höflinge nach Wasser und Brot riefen, aß der Prinz scheinbar ungerührt das feurige Mahl weiter.“ Für Walter und Wilhelm Tells Erzählung wählt Anne Richter die entscheidenden Momente vor der Apfelschussszene: „„Du bist ein Meisterschütze? Das musst du mir beweisen.“ Dem Jungen befahl er: „Nimm diesen Apfel und setz ihn dir auf den Kopf. Trifft dein Vater den Apfel, ist er frei. Trifft er ihn nicht, wird er für seinen Ungehorsam mit dem Tod bestraft.““ Gespür für die Wirkung von Sprache und Schrift beweist man auch auf formaler Ebene. Obwohl die Ästhetiken der arabischen und lateinischen Schrift unterschiedliche Wirkungen erzielen, konnte durch eine gespiegelte (links- bzw. rechtsbündige) Formatierung der Absätze eine Parallelität über die Doppelseiten hinweg hergestellt werden. Die Doppeladressierung wird ersichtlich und es entsteht indirekt ein Dialog zwischen den Sprachen, aber auch den Illustrationen von Mehrdad Zaeri, dem viel am Informationsgehalt seiner Bilder liegt:
„Der Hauptgrund warum ich irgendwann im Alter von 15-16 mehr als andere Leute Bilder zu zeichnen begann, war der Wunsch zu kommunizieren mit den Menschen und zwar auf eine weniger oberflächliche Art, sondern eher auf eine Art, die sofort tiefer geht.“ Seine Bildgestaltung nimmt das Kulissenhafte der Bühne auf. Er legt teils scherenschnitthafte Ebenen übereinander und zum Schwarz/Weiß der Tusche arbeitet er sehr gezielt und reduziert mit Farbe. Vor allem rote Akzente verbinden das Royale, die Liebe und das Widerständische miteinander. Das Ungehorsame illustriert Zaeri zudem durch Mimik sowie Gestik der Figuren oder räumlich durch die „Alleinstellung“ der Dissidenten abseits vom Volk, das hinter einer symbolträchtigen Steinmauer Aufstellung nimmt. Die Illustrationen der Tell-Sage erhalten ihre Wirkung durch die konzentrierte Darstellung der unterdrückten Gesellschaft, die in der Wahrnehmung des widerständischen Einzelkämpfers in Passivität zu verschmelzen beginnt. Weniger einheitlich ist die Bildsprache der zwei Geschichten. Der Illustrator weiß hier zu differenzieren und den Ton der Texte wiederzugeben. Während sehr heroische und dramatische Bilder die Tell-Geschichte tragen, weiß er die listenreiche Prinzessin spielerischer zu gestalten.
Das Bilderbuch „Prinzessin Sharifa und der mutige Walter“ zeichnet sich durch die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema Widerstand aus und steigert durch die elaborierte Gestaltung die Aufmerksamkeit für jene Themen, für die es sich zu kämpfen lohnt: Freiheit und die Gleichstellung von Frau und Mann.
Peter Rinnerthaler