Lyrik-Tipp der STUBE
Aus d. Engl. v. Uwe-Michael Gutzschhahn.
Thienemann 2018.
Steven Herrick: Ich weiß, heute Nacht werde ich träumen
„Alt aber gut. Alt aber gut?“, lautet der Titel der druckfrischen Ausgabe der österreichischen Fachzeitschrift für Kinder- und Jugendliteratur >>> „1001 Buch“, die sich mit der Bedeutung, Neu-Inszenierung und Neu-Befragung von Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur auseinandersetzt.
Eine Nummer, die maßgeblich vom STUBE-Team mitbespielt wurde: Wer anderes als Heidi Lexe wäre geeignet dafür, diese Klassiker-Nummer mit einem kursorischen und doch sehr umfassenden Blick zu eröffnen? Claudia Sackl wiederum plädiert für ein rassismuskritisches Weiter- und Umdenken in der oft trägen postkolonialen Debatte rund um Kinderbuch-Klassiker, Sarah Auer widmet sich aktuellen Comic-Adaptionen von Klassikern, die einen durchaus kritischen Blick auf ihre Vorlage werfen, und Kathrin Wexberg beschäftigt sich mit dem Klassiker schlechthin: der (Kinder-)Bibel.
„Alt aber gut!“, könnte auch als Überschrift über dem aktuellen Lyrik-Tipp stehen: Bereits 2004 wurde das Buch im australischen Original veröffentlicht, 2018 von Uwe-Michael Gutzschhahn ins Deutsche übertragen und schließlich 2019 sowohl mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis als auch mit dem Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis der Deutschen Bischofskonferenz ausgezeichnet. Auch die STUBE hat sich intensiv und in unterschiedlichem Rahmen mit Steven Herricks Versroman „Heute Nacht werde ich träumen“ auseinandergesetzt – sei es als >>> Lektorix des Monats Februar 2018, in der >>> Buchliste zum Thema Versroman oder im Rahmen der Verleihung des Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises 2019, dessen >>> Laudatio von Heidi Lexe gehalten wurde. Peter Rinnerthaler hat in seiner damaligen Rezension prophezeit, dass der ungewöhnliche Sprachstil des Autors wohl auch in 17 Jahren nicht antiquiert wirken würde – 2023, also 19 Jahre nach seinem Ersterscheinen, kann das auf jeden Fall bejaht werden. Zumal es einen guten Grund gibt, sich mit dem Text beziehungsweise dem literarischen Phänomen der lyrischen Prosa ein weiteres Mal zu beschäftigen: Nämlich im Rahmen des neuen >>> Fernkurs für Literatur der Literarischen Kurse, der im Oktober startet und sich ganz der Lyrik verschrieben hat.
Unter dem Titel „lyrikLESEN“ wird dort nicht nur die (gar nicht so einfache) Frage gestellt, was Lyrik denn eigentlich ist bzw. ausmacht und wie sie sich definieren lässt – mögliche Antworten erkundet niemand anderer als der vielfach ausgezeichnete österreichische Lyriker Michael Hammerschmid, der nicht nur Gedichte für Kinder und Erwachsene schreibt, sondern auch das Lyrik-Festival „Dichterloh“ kuratiert und an verschiedensten europäischen Universitäten zu Lyrik und Poetik lehrt. Darüber hinaus beleuchtet der Fernkurs auch unterschiedliche Traditionslinien lyrischen Ausdrucks – darunter das bis in die Dichtung der Antike und des Mittelalters zurückgehende Genre des Versromans: Was hat es mit diesem Gattungshybrid auf sich und warum ist das Genre – gerade in der Jugendliteratur – derzeit so populär? Der Wiener Germanist Wynfrid Kriegleder geht diesen und anderen Fragen nach.
Steven Herricks „Heute Nacht werde ich träumen“ – im Original „By the River“ – dient dabei als gelungenes Beispiel, das sich als Crossover-Literatur an Leser*innen unterschiedlichen Alters richtet: Ein Roman mit ungewohnt wenig bedruckten Seiten, darauf Strophe um Strophe gereiht. Es liest sich völlig anders als ein klassisch gereimtes Gedicht, und doch sind Rhythmus und Klang zentrale Elemente, die die Lektüre dieses besonderen Textes beeinflussen. Jener Sommer, von dem Harry, der Ältere der Hodby-Brüder erzählt, scheint wie aus der Zeit gefallen, zeitliche Dimensionen werden sowohl gedehnt als auch verengt und überlassen dabei den Lesenden viel Raum, das Geschehene selbst einzuordnen. Ein (Frei-)Raum, den auch die bereits angesprochene formale Gestaltung des Romans nahelegt: Der schnell umbrechende Flattersatz ermöglicht ungewohnt viel Weißraum in einem erzählenden Text, die Kapitel sind nicht nur sehr kurz, sondern auch mit sehr minimalistischen Überschriften betitelt. Details oder scheinbare Nebenschauplätze wie „Das Windrad“ oder „Der Abfallhaufen“ werden dabei thematisiert, aber auch jener schicksalhafte (und im Original titelgebende) Ort, der die Handlung in besonderer Weise prägt: „Der große Fluss“. Jener Fluss, der sowohl Harrys Mutter als auch eine gute Freundin das Leben gekostet hat. „Das transitorische Moment von Kindheit und Adoleszenz geht dabei über in ein Erzählen entlang des Flusses und durch dessen metaphorische Strudel hindurch. Heil und Unheil liegen in diesem Fluss begründet, der die lebensspendende Kraft des Wassers gleichermaßen verkörpert wie die Bedrohlichkeit der Flut – die Vernichtung und den Neubeginn.“, so hat es Heidi Lexe in ihrer Laudatio 2019 formuliert.
Ein Neubeginn, der nicht zuletzt an ein neues Mädchen in Harrys Klasse geknüpft ist, ein Mädchen mit dem bezeichnenden Namen Claire Honey. Unbelastet von Harrys schmerzlichen Lebenserfahrungen ist für sie der Fluss ein völlig anderer, unbeschwerter Ort, und damit auch für ihn ein Loslassen, im engeren wie im weiteren Sinne des Wortes möglich:
Ich ziehe mein Hemd aus,
gehe am Ufer entlang,
dorthin, wo wir das Seil
um den alten Gummibaum
geknotet haben.
Und ich pack es mit festem Griff,
nehme Anlauf, springe
und lasse los.
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