Kröte des Monats August 2009
Aus dem Niederländ.
v. Verena Kiefer.
Dressler 2009
240 S., € 14,30
Truus Matti: Bitte umsteigen!
In einem verlassenen und heruntergekommenen Hotel, bewohnt nur von einer dicken weißen Ratte und einem Fuchs, findet ein Mädchen Unterschlupf während eines Gewitters. Es geht ihr ein bisschen wie Alice im Wunderland: Die Gesetzmäßigkeiten dieser in sich geschlossenen Welt sind für sie völlig unnachvollziehbar, sie hat keine Ahnung, woher sie gekommen ist, wie sie heißt und warum es sie an diesen rätselhaften Ort verschlagen hat. Zwischen den einzelnen Abschnitten dieser phantastischen Welt ist in einer anderen Schriftart eine Geschichte aus der real-fiktionalen Welt zu lesen: Die Ich-Erzählerin muss nicht nur mit dem Unfalltod ihres Vaters, eines Orchestermusikers, der viel unterwegs war, zurecht kommen, schlimmer noch: Weil sie ihm aus Wut über seine Abwesenheit an ihrem Geburtstag einen bösen Brief geschrieben hat, fühlt sie sich schuldig an seinem Tod. In ihren Erinnerungen an ihn wird deutlich, dass Geschichten erzählen eine wichtige Rolle in ihrer Beziehung gespielt hat: Oft hat ihr der Vater von seinen Reisen aus Geschichten in Briefen geschrieben. Parallel dazu findet das Mädchen im Hotel der phantastischen Welt kleine Papierschnipsel, deren Sinn sich ihr zunächst nicht erschließt. Nach und nach gehen die beiden Welten ineinander über: Als es dem Mädchen gelungen ist, das Rätsel um ihren Namen zu lösen und die Papierschnipsel zusammen zu fügen, wird klar, dass wir uns in genau jener Geschichte befinden, die der Vater in seinen letzten Briefen als Geschenk für die Tochter geschrieben hat. Diese wiederum stellt fest, dass ihr der Vater noch einen allerletzten Brief geschrieben hat, den er nicht mehr zur Post bringen konnte: Darin stellt er klar, dass er ihre Wut gut verstehen kann und ihr nicht böse war, als er gestorben ist – gleichzeitig legt er das weitere Schicksal der Geschichte in ihre Hände:
"Es ist deine Geschichte. Ich habe nur den Anfang gemacht. Darum schicke ich sie dir mit zurück. Mach damit, was du willst. Verändere, was dir nicht gefällt. Reiße sie in tausend Stücke und fang von vorne an. Oder wirf sie weg, zur Not. Was daraus wird, musst du selbst entscheiden. […] Und heimlich, ohne dass du es weißt, hoffe ich, dass die Geschichte doch noch irgendwann eine Fortsetzung bekommt." (S.230).
So verwirrend der Inhalt klingen mag, so schlüssig fügen sich im Lektüreprozess die einzelnen Puzzleteile dieser verschachtelten Geschichte ineinander, so stimmig entspricht die detektivische Arbeit des Mädchens im Hotel dem Trauerprozess, dem sich die Ich-Erzählerin stellen muss. Auch wenn dieses Buch seinen Leser*innen einiges an Literaturkompetenz abverlangt – die Genugtuung nach dem Lösen aller Rätsel ist es allemal wert.
Kathrin Wexberg
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