Aus d. Norweg. v.Maike Dörries.
Gerstenberg 2024 | Tyrolia 2024.
64 S. | 26 S.

Kristen Roskifte: Alle reisen
Sarah Michaela Orlovský / Michael Roher: Ida, Chris und Emil im Zug.

Es geht wieder los: das Reisen. Heiß ersehnt, wenn man selbst die Welt mit neuen Augen sieht. Mit Mühsal verbunden, wenn der Weg lang ist und die Züge überfüllt sind. Mit Ärger gepaart, wenn zu Hause die Lieblingscafés over-occupied sind.
Dort, wo das Reisen erträumt wird, setzt die norwegische Künstlerin Kristen Roskifte ein: In einem Kinderzimmer, in dem ein Globus sich dreht und ein Schiff in der Flasche Fernweh verheißt. Zu dem Kind gesellt sich rasch eine Familie, zur Familie eine Gesellschaft in Bewegung. Von der Reisebuchhandlung über eine Ausgrabungsstätte bis hin zu Aussichtpunkten, Museen und Buchmessen reicht die Bandbreite der Orte, an denen Menschen beruflich oder privat weite Strecken zurückgelegt haben – und sich mit jeder Seite in neuer Kombination miteinander verbinden. Denn genau um diese immer neuen Konstellationen geht es, wenn Kristen Roskifte nach „Alle zählen“ zum nunmehr zweiten Mal ein Suchspiel der besonderen Art stattfinden lässt: Auf jeder Seite sind es mehr Figuren, die in den immer wimmeligeren Bildern gesucht, wiedererkannt, gezählt werden sollen. Kurze, genderneutral, gehaltene Textpassagen lenken den Blick und verknüpfen die Seiten untereinander, sodass immer kniffliger aufzulösende Tableaus entstehen.

Die großformatigen Räume mit all ihren Details sind in zartem, graphischem Blau gehalten; die konstant gestalteten, durchgehend identifizierbaren Figuren hingegen sind an ihren farbigen Gesichtern, Kleidern, Körperhaltungen und Accessoires zu erkennen. Stunden um Stunden lassen sich damit verbringen, sie (wieder) zu finden und in Beziehung zu stellen. Ganz abgesehen davon, dass auch das Schiff und zahlreichen andere Details in jedem Bild versteckt sind. Eine Zugreise zum Beispiel, würde sich hier ideal zu extensiver Bild-Lektüre eignen …

… außer natürlich, in diesem Zug wäre ein Papagei entflogen und hätte für Ablenkung des Zugpersonals gesorgt. Während der Schaffner dem Vieh in Leserichtung durch den Zug nachjagt, erlangen Ida, Chris und Emil die Hoheit über die Zug-Durchsagen und fordern die Reisegemeinschaft auf, sich unter ganz neuen, ungewöhnlichen Aspekten in den Zugabteils einzufinden: „Wer ein Musikinstrument im Gepäck hat, möge es bitte in Wagen 23 mitnehmen.“ / „Alle, die schwarz gekleidet sind, mögen sich bitte in Wagen 24 einfinden.“
Im schmalen Querformat des ICE lässt Sarah Michaela Orlovský Ida, Chris und Emil für kreatives Durcheinander sorgen. Michael Roher etabliert dafür eine anspielungsreiche, wimmelige Reisegesellschaft, die er mit jeder Doppelseite (sprich in jedem neuen Wagon) durchmixt und variiert, sodass immer kuriosere Szenerien entstehen. Er entlehnt zahlreiche seiner Figuren der Literatur-, Film- und Theatergeschichte und macht die Bilderbuchseiten zur Bühne (die Einladung zur entsprechenden Tagung siehe >>> hier), auf der ein immer akrobatischerer Figurenmix für kurzweiliges Staunen sorgt. Auch hier ist also ein stetes Vor- und Zurückblättern angesagt, ein Suchen und Erkennen und Kombinieren mit stetem Ooh und Ahhh und Wow und Woher ….? auf den Lippen. 

Wie viel Spaß das machen kann, hat das STUBE-Team kollektiv erprobt und ist jeweils einer Figur in „Alle reisen“ und „Ida, Chris und Emil fahren Zug“ gefolgt:

Heidi Lexe
Man hätte es wissen sollen. Denn wer trägt heute noch Ringelpullover? Gut, der Marinelook ist nie out und der Pantomime im Samy Molcho- Style muss natürlich an seinem clownesken Streifenshirt zu erkennen sein. Aber ein gelb-oranger Ringelpullover sieht irgendwie verboten aus, oder? Vielleicht markiert hier aber nicht der Pullover die Figur, sondern die Figur den Pullover, denn hier schleckt einer in der Reisebuchhandlung (9 Personen) an einem Eis, obwohl an der Türe die Hinweisschilder sichtbar sind: keine Hunde, keine Vögel, keine Eistüten. Ein Muster? Tatsächlich: Im Schloss (18 Personen) wird der Typ sich unmittelbar neben dem „Fotografieren verboten“-Schild abgelichtet, im Wald (38 Personen) findet man ihn ganz versteckt beim illegalen Lagerfeuer, am Aussichtspunkt (62 Personen) dort, wo der Durchgang verboten ist und im Museum (63 Personen) legt er Hand an ein antikes Stück, bei dem sichtbar um ein „Nicht anfassen“ gebeten wird. Ihn (ohne die Auflösung am Ende zu bemühen) als Übertreter von Verboten zu erkennen, gehört zu den stillen Freuden der Enträtselung von „Alle reisen“ – auch wenn sein Verhalten zu den steten Alltags-Ärgernissen zählt. 
Denn Regeln zu brechen, die ein soziales Miteinander ermöglichen, ist selbstverständlich nicht dasselbe, wie widerständig zu sein. Keine wüsste das besser als Pippi Langstrumpf, deren verschiedenfarbige Strümpfe und gelb-grünes Oversize-Shirt von ihrer Nonkonformität zeugen. Ihren Koffer (voller Goldmünzen?) in der Hand, steigt auch sie in den ICE. Während sie im Bordrestaurant als metafiktionale Figur ausgewiesen wird (der Kapitän liest im berühmtesten aller blauen Bücher), stemmt sie unter den Bewegungsfreudigen in Wagon 22 Hundert-Kilo-Hanteln. Kein Thema, bei ihrer Stärke. Als Abgesandte der Klassiker der Kinderliteratur ist sie übrigens in guter Gesellschaft: Das arme Alice-Kaninchen blickt im ICE wohl vergeblich auf seine Taschenuhr, doch das Kleine Ich-bin-ich atmet erstmals Woodstock-Feeling: Mit schwarzem Peace-Outfit und Sonnenbrille hat es in Wagen 25 Farbe in sein Leben gebracht und wird beim Haustiertreff gleich auch noch zum Flugtier. Pippi hingegen hat einmal mehr die Welt so hinbekommen, wiedewiedewie sie ihr gefällt und trägt Charlie Chaplin auf ihren Schultern aus dem Zug. Begleitet von einem völlig um-gestylten Sigmund Freud.
Das hätte auch unserem Ringelpullover-Typen mit dem falschen Freiheitsverständnis gut getan. Übrigens: Dort wo 60 Personen in einer Stadt in Bewegung sind, starrt er auf ein Kind, das (verbotenerweise?) einen Vogel aus einem Vogelkäfig frei lässt. Ein Papagei? 

Kathrin Wexberg
Beide Bücher begeistern mich nicht zuletzt durch ihre zahlreichen Verweise auf die Literatur bzw. das Bücher machen. In „Alle reisen“ gibt es eine Figur, die im Laufe des Buches zum Autor wird: Der Ehemann der Cousine der Mutter von Thomas (der Bub mit den blauen Haaren). Sein erster Auftritt ist etwas skurril: während eines Videogesprächs ist er im Hintergrund nur mit Unterhose bekleidet abgebildet – diese in genau jenem Türkis, in dem dann später sein T-Shirt gehalten ist. Jenes Shirt trägt er, als er in einem Kanu den Regenwald bereist (sehr klug, Moskitos…) und wohl auch am Südpol (dort trägt er aber vernünftigerweise einen wattierten Parka drüber). Diese Reisen macht er, weil er offenbar gerade Material für ein Buch sammelt. Es dauert bis zur Seite 200, bis sich der Kreis beziehungsweise sein Erzählbogen schließt: Das Buch ist endlich erschienen und er liest beim „coolsten Literaturfestival der Welt“ (es handelt sich wohl um den bisher geheim gehaltenen Outdoor-Bereich des Odeons) einer Gruppe Kinder daraus vor. In den wimmeligen Seiten von „Ida, Chris und Emil“ sind hingegen nicht nur lesende Kinder, sondern zahlreiche Figuren aus Gegenwart und Geschichte der Kinderliteratur und Populärkultur zu sehen. Schon am Bahnsteig entdecken wir neben Wesen wie dem kleinen Ich-bin-ich oder Schwammkopf den glücklichen Löwen, originellerweise eine der wenigen Figuren, die sich nicht selbst Richtung Einstieg bewegt, sondern getragen wird, vermutlich vom Zoodirektor. Das nächste Mal begegnen wir ihm wieder beim Lesezirkel im Bordrestaurant: Gemütlich auf dem Boden ausgestreckt liest er natürlich sein „eigenes“ Buch, in den USA erstmals 1954 erschienen. Was hingegen die Lektüre des Zoodirektors ist, bleibt unserer Phantasie überlassen. Bei der Bewegungs-Polonaise in Waggon 22 sind beide aktiv dabei, auch instrumental sind sie in vollem Einsatz. Beim Meeting der schwarz gekleideten müssen sie naheliegenderweise passen, beim Kleidertausch hingegen beteiligen sie sich – in durchaus überraschender Weise …

Alexandra Hofer
Ein Mann im schwarzen Anzug und grauen, wild vom Kopf abstehenden Haaren, der den Betrachter*innen den Rücken zukehrt. Wie sein Gesicht wohl aussehen wird, fragt frau sich. Was er wohl machen wird, fragt frau sich auch. Meine erste Assoziation war Albert Einstein; da dieser aber nicht mehr unter den Lebenden wandelt und es eigentlich keine realen Vorbilder – ganz im Gegenteil zu „Ida, Chris und Emil im Zug“ – gibt, zeigt sich recht schnell, dass ich mich geirrt habe. Auf Seite 11 tritt er das erste Mal in Erscheinung und er wird – so viel werden aufmerksame Schauer*innen vom Ende her entdeckt habe – einen Wettbewerb gewinnen. Nachdem er sich ein Schloss angesehen und die Aussicht genossen hat, stattet er noch dem Krankenhaus einen Besuch ab – immer mit dem Rücken zu uns, was sich kurz darauf auch erklärt. Er steht nämlich immer mit dem Rücken zum Publikum. Immer. Bis das Konzert vorbei und sich unsere Figur von der Profession Dirigent im Anschluss in das Flugzeug setzt, um an einem Bartwettbewerb teilzunehmen. Nicht verwunderlich, dass er diesen auch gewinnen wird, wenn man seinem stattlichen Zwirbelbart Beachtung schenkt. Nicht im Flugzeug, aber mit dem Zug reist ebenfalls ein Musiker, der zwar weniger dirigiert, aber dafür mit seiner*ihrer Gitarre im roten Koffer den Zug besteigt. Kurz vorher noch die Zigarette ausgedämpft und los geht’s durch die unterschiedlichen Waggone in „Ida, Chris und Emil im Zug“. Die Figur hat aber keineswegs das unnahbare Rockstar-Image, vielmehr wird in Bluejeans und schwarzem Hoodie gelesen, getanzt und recht schnell eine neue Freundin gefunden, die pinkes Tutu trägt und mit der fortan die unterschiedlichen Waggone erkundet werden. Aufgepasst: das pinke Tutu wird kurze Zeit später der*die Rocker*in selbst tragen. Die Figur ist in jedem Waggon mit von der Partie, nur das Pärchenfinden wird ausgelassen. Das lustvolle Suchen und Widerfinden ist hier wie dort nicht nur äußert reizvoll, sondern auch überaus amüsant, wenn die einzelnen Figuren von der ersten bis zur letzten Seite begleitet werden.  

Carmen Schiestek
In „Ida, Chris und Emil“ finden wir zahlreiche bekannte, skurrile Passagier*innen. Natürlich darf ein ganz bestimmter Held aus Literatur und Film nicht fehlen: Batman. Da sein Batmobil in der Werkstatt ist, fährt auch der düstere, starke Batman mit dem Zug. Gleich zu Beginn seiner Reise wirkt er überraschend glücklich und schnallt sich seinen rosa Rucksack um. Auf geht's!
Schon bald werden alle bewegungshungrigen Fahrgäste in Wagen 22 gerufen, und unser Superheld ist dabei. Später gesellt er sich zu einer Nonne, von der er im Schach geschlagen wird, als alle Gäste in Schwarz in Wagen 24 zusammenkommen. Im nächsten Wagen tauscht Batman seinen schwarzen Umhang gegen die gelb-blaue Weste einer älteren Dame, was ihm sichtlich gefällt. Beim Haustiertreffen bewundert er die Fledermaus eines Vampirs. Schließlich verlässt unser tollkühner Held den Zug mit einem weiteren farbenfrohen Kleidungsstück, einem pinken Rock, und einem unschuldigen Lächeln auf den Lippen. Wer weiß, vielleicht bleibt das Batmobil doch noch eine Weile in der Werkstatt …Von der recht auffälligen Figur des Batmans wechseln wir in „Alle reisen“ zu einer scheinbar eher unauffälligeren Person, dessen Entwicklung doch einiges zu bieten hat: In einem kleinen Schuhladen beginnt diese Geschichte, ein Ort, der für viele Menschen nur ein Schauplatz des Alltags ist, aber für ihn an diesem Tag zum Ort der Hoffnung wird. Er betritt diesen Laden unter gewohnten Bedingungen doch die nächsten Seiten enthüllen sein besonderes Ziel: Er sucht die Frau, die sein Herz erobert hat. Acht Seiten später finden wir ihn in einer Kunstausstellung, umgeben von anderen Menschen, jeder in sein eigenes Erleben vertieft. Doch wenn man genau hinschaut, entdeckt man sie: die Schuhverkäuferin. Es scheint fast unmöglich, dass mir die beiden im Gewimmel dieser Bilder entwischen könnten, aber die Seiten drehen sich weiter, und dann sehe ich sie plötzlich im Fluss eines Waldes, beide gemeinsam auf einem Boot. Jemand hat den ersten Schritt gewagt, und nun wird ihre Beziehung auf eine neue Ebene gehoben. Plötzlich überraschen uns weitere Seiten später Hochzeitsfotos, und ich kann es kaum fassen, eine so schöne Liebesgeschichte entdeckt zu haben. Während ihrer Hochzeitsreise sehen wir sie gemeinsam auf einem Markt, jedoch bleibt die Herzensdame oft im Verborgenen, ihre Erscheinung wird nur angedeutet – mal ein Bein, mal der Oberkörper, wie ein zarter Hauch der Liebe, die sie verbindet.

 

Und für alle jene, die die Reiselust jetzt gepackt hat, hat die STUBE einige Themenlisten parat, die sich hervorragend für den Sommer und das Woanders-sein eignen.
Alle, die ans Meer wollen: >>> hier entlang.
Jene, die lieber dem Feriencamp einen Besuch abstatten wollen, werden >>> hier fündig. Und zum Sommer in unterschiedlichen Formen in der Kinder- und Jugendliteratur geht es >>> hier.


 

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