MINT-Buch im April 2023
Mairisch-Verlag 2023.
Nils Mohl und Halina Kirschner: Wilde Radtour mit Velociraptori
L … wie Lehrstunde
Lernen kann man Vieles.
Lettisch. Latein. Oder die Sprache des alten Lutetia. Beginnen könnte man mit dem französischen Wort für Fahrrad: Vélocipede.
Lernen könnte man auch lexikalische Begriffe. Oder naturwissen-schaftliche Fachbegriffe. Beginnen könnte man mit dem Wort Paläontologie. Rasch wäre man dann beim Velociraptor. Wer regelmäßig STUBE-Freitage besucht, dem ist ja sicher bereits mehrfach das Licht aufgegangen, wenn es um die Literarische Urzeit geht.
Zitiert wurde dabei vielfach die „Jurassic-World“ – schließlich hat Maria Koschny Bryce Dallas Howard als Claire synchronisiert, die in Stöckelschuhen dem entlaufenen Dominus Rex durch den Dschungel hinterher hetzt. An ihrer Seite Chris Pratt als cooler Wildhüter Owen Grady – Trainer und Alphatier von vier Velociraptoren.
Lernen kann man Vieles.
Motorische Fähigkeiten. Koordination. Man könnte ganz niederschwellig beginnen. Mit dem Laufrad zum Beispiel. Man könnte durch die Gegend flitzen und dabei das ABC aufsagen. Leuchtende Augen würde da der Lehrmeister bekommen und als Belohnung Leckerbissen wie Lasagne servieren. Schon bald könnte man auf das Lastenrad umsteigen. Oder mit mehr Bequemlichkeit auf das Liegerad. Und dann wäre es Zeit für die erste Mutprobe ...
Nach dem L wäre man damit schon beim M. Doch soweit sind wir noch nicht.
Daher zurück zum Anfang.
Zu A und damit zur Frage, was nun eigentlich das Vélo mit dem Velociraptor zu tun hat?
An sich: Nichts.
Hier: Alles.
Nils Mohl nutzt die Silben- und Klangnähe der beiden Worte für einen irren Trip durch die Welt des Fahrrads. Das ABC dient dabei als Ordnungssystem: Von A bis Z verläuft die Narration gleichermaßen wie der Weg, der dabei (mit dem Fahrrad) zurückgelegt wird. Von A bis Z entspinnt sich auch eine ungewöhnliche Freundschaft zwischen einem Schriftsteller und einem Urzeitvieh. Eigentlich wollte der Schriftsteller nur den Kopf frei bekommen. Die Fahrradrunde, zu der er aufbricht, wird aber jäh unterbrochen, als eine ebenso vorlaute wir unternehmungslustige Velociraptorin auftaucht und überraschend großes Interesse an der Welt des Fahrradfahrens zeigt.
Blödsinn? Schon möglich.
Crazy? Mit Sicherheit.
Denn die Begegnung zwischen Autor und Urzeitvieh führt zu einer aberwitzigen, metafiktional angehauchten Tour de Force entlang der 26 narrativen Etappen. Hoppla! Himmel! Halleluja! Herrje! Was ist heute nur los? fragt sich der Schriftsteller. Doch da ist er dem Charme der pink-grünen Lady mit der nicht eben unauffälligen Schwanzfeder schon verfallen und begleitet sie vom Erlernen des Fahrradfahrens bis zum Radrennen.
Oh. Poesie. Qual. Nicht immerverläuft das alles friktionsfrei und manches Mal wird ans Umkehren gedacht. Letztlich aber kommt es immer wieder zur Versöhnung der beiden so verschiedenartigen Protagonist*innen und damit zu überraschenden Wendepunkten in der Erzählung.
Deren wortwörtlicher Drive resultiert nicht nur aus dem Auf und Ab und Hin und Her auf dem Vélo, für da es Glück und Geschick braucht; sondern auch aus den effektvollen Illustrationen: Halina Kirschner setzt auf expressive Farbigkeit. Sie konturiert ihre Figuren in raschen Pinselstrich und setzt mit Grün und Pink die entsprechenden Akzente. Das X bleibt sogar ganz und gar ihr überlassen: Es markiert den Standort und verdichtet dabei die gesamte Erzählung nochmals auf ein doppelseitiges Bild. (Eine Lehrstunde für L wie Landkarte …)
Illustratorische Erfahrung mit PS-reduzierter Fortbewegung hat die Gestalterin aus Leipzig ja bereits in „Trecker kommt mit“ gemacht. Hier steigert sie den Bild-Witz nicht nur durch die Dynamik der Dino-Lady, sondern auch durch comichafte Elemente wie Speedlines oder Soundwords. Und erzählt den Text mit Vorliebe für sylleptische Figürchen und kleine Details assoziativ und variantenreich weiter. Wie Jux und Tollerei wirkt da eine Litfaßsäule und verweist dennoch anspielungsreich auf die drei wesentlichen Elemente des Buches:
ABC.
Dino.
Fahrrad.
Das Kopfkino kann also in Gang gesetzt werden, während man atemlos Nils Mohls Alliterationslust folgt, auf denen das Wording der einzelnen Kapitel basiert. Forscherdrang und Fabulierkunst finden dieserart zusammen – und lassen das MINT-Buch zur sprachlichen Mutprobe werden.
Denn angereichert ist diese wilde Radtour hybridartig mit einem Sachlexikon, das Fachbegriffe – Spoiler Alert: geordnet von A bis Z – in Marginalspalten an die Seite des Erzähltextes stellt. Von Aufpumpen, BMX und Carbon über Rücktritt, Sattel und Tacho bis Zangenbremse, Zahlenschloss und Zoll reichen die Begriffe, die zahlreiche Anknüpfungspunkte an physikalisches Wissen implizieren. Denn nichts hat sosehr mit Gleichgewicht, Kräfteübertragung und Antrieb zu tun, wie eine Lehrstunde im Fahrradfahren – so kurzweilig sie auch literarisch dargestellt sein mag.
LESEN – SPRECHEN – TUN
LESEN – Der Lesespaß der fiktionalen Geschichte ist unbestritten. Das faktuale Lesen kann bereits am Vorsatzpapier begonnen werden – mit dem Lesen von Bildern. Halina Kirschner versammelt hier unterschiedliche Fahrrad-Varianten – vom Hochrad und Einrad über das Klapprad bis zum Tandem. Diese Auswahl kann bildlich erweitert werden: durch die Suche nach Fahrradbildern in der Bibliothek, durch digitale Bild-Recherche, durch Handyfotos, die von den Leser*innen selbst im öffentlichen Raum gemacht werden. Aufgefächert werden kann davon ausgehend ein Fuhrpark auf (einem oder) zwei Rädern.
Genutzt werden können dafür zahlreiche Begriffe des Sach-lexikons, die sich auf unterschiedliche Radmodelle beziehen.
SPRECHEN – Durch gezieltes Nachfragen kann damit nicht nur eine Geschichte der Mobilität aufgefächert, sondern auch ins Heute übertragen werden: Welche Rolle spielt das Fahrrad – jenseits von Sport und Spiel – in unserem Alltag? Welche Bedeutung hat ein klimaneutrales Fortbewegungsmittel und wie wird es in den öffentlichen Verkehr integriert? Wo gibt es Fahrradwege und wo nicht? Welcher Regeln bedarf es, wenn man das Fahrrad als Verkehrsmittel benutzt? Was umfasst die Branche der Fahrrad-Kurire - und warum gibt es unter ihnen kaum Frauen? Und: Ist das Fahrrad auch klimaneutral, wenn man – wie heute so viele – ein E-Bike nutzt?
Genutzt werden können dafür zahlreiche Begriffe des Sach-lexikons, die sich auf die Fortbewegung beziehen.
TUN – Am Anschauungsobjekt Fahrrad – vor Ort an einem Einzelstück oder in einer Fahrradgarage anhand zahlreicher Beispiele – können die physikalischen Grundlagen für das Funktionieren eines Fahrrades angesprochen werden. Die Benennung und mechanische Funktion der Einzelteile spielt dabei ebenso eine Rolle wie Fragen des Antriebs, der Kräfteübertragung und Balance (Kreiselkräfte, Trägheitsmoment etc.) Warum nur fällt das Fahrrad um, wenn man nur auf ihm sitzt – nicht aber, wenn man mit ihm fährt? Welche Bedeutung haben dabei Größe, Gewicht und Beschaffenheit des Fahrrades (Rahmen, Reifenstärke, Zusatzausstattung etc.)?
Genutzt werden können dafür zahlreiche Begriffe des Sach-lexikons, die sich auf die Ausstattung und Mechanik des Fahrrades beziehen.
Heidi Lexe
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