Kröte des Monats Jänner 2023
Kibitz 2022.
192 S.
Josephine Mark: Trip mit Tropf
Allein schon das Cover rechtfertigt jede Art der Empfehlung dieses Kindercomics, der zum Rührendsten und Witzigsten gehört, was im Jahr 2022 zu lesen war. Warum also nicht damit ins Jahr 2023 hineinstarten – wortwörtlich. Denn schließlich geht hier nicht nur jemand auf große Fahrt, sondern nutzt dazu eines der ikonischsten Varianten des Fortkommens: die Beiwagenmaschine. Zuletzt wurde sie auf sensationelle Weise auch in der jetzt schon kultigen Streaming-Serie „Wednesday“ genutzt (siehe dazu den >>> STUBE-Streaming-Tipp im internen STUBE-Card-Bereich). Das einzigartige Raubtierprint-Design in Schwarzweiß, das Wednesday Adams und Uncle Fester dort nutzen, wäre hier ein Fall für Pleonasmus-Verdacht. Denn die wilden Biker tragen hier selbst bereits Fell. (Oder auch nicht. Ich sage nur: WUUSCH! Aber dazu später ...) An Coolness stehen die beiden den Goth-Gesell*innen aus der Serienwelt um nichts nach. Und auch sie werden gejagt. Nicht von einem morphenden Monster, sondern vom Jäger. Er ist es, der den Plot mit martialischem PENG überhaupt erst in Gang – und damit das ungleiche Pärchen zusammen bringt.
Andernorts hätte sich der Wolf das Kaninchen wohl einfach als Leibspeise gegönnt. Hier aber kommt der Wolfskodex ins Spiel. Man könnte ihn auch als Riesenproblem bezeichnen, denn: Wir haben nicht viele Regeln, aber diese Regel ist HEILIG! Und diese Regel besagt, dass ein gerettetes Leben gegen eine Lebensrettung aufgewogen werden muss. Man erinnere sich an Azeem Edin Bashir Al Bakir, dem Robin von Locksley in einem Kerker des Heiligen Landes das Leben gerettet hat. Azeem ist dem König der Diebe in die Wälder Nottinghams gefolgt, um an dessen Seite zu bleiben, bis die Schuld beglichen war.
Im Wald befinden wir uns bereits. Oder besser gesagt: Im Waldambulatorium. Ernst Jandl hätte seine Freude an den Wartenden. Doch es gibt hier auch einen Wegweiser zur Abteilung Infusion. Warum auch nicht? Schließlich gilt im Ambulatorium nicht nur zu heilen, sondern auch den titelgebenden Tropf ins Spiel zu bringen …
Wolfskodex also. Und schon wird derjenige, der als märchenhafter Schrecken des Waldes gilt, zum bärbeißigen Gefährten des kleinen, plüschtierartigen Wesens. Niemals um einen pampigen, scharfzüngigen Kommentar verlegen und dennoch unerschütterlich, wenn es für ihn gilt, das Kaninchen aus jeder Not zu befreien und ihm dabei nicht nur erste Hilfe zu leisten. Dabei wollte er sich – ganz Actionheld – in der Waldklinik nur selbst zusammenflicken.
Von Beginn an verschafft die deutsche Comickünstlerin ihrer Story auf charmante Weise einen doppelten Boden und unterfüttert einen wahnwitzigen Roadtrip mit Handlungs- und Stilelementen der Sick-Lit. Denn welchem Twist die Flucht vor dem Jäger auch immer zu folgen hat, der Mediplan des Kaninchens muss eingehalten werden. Dafür sorgt der Wolf – schließlich war es der Tropf, der eine Kugel des Jägers beim Angriff auf die Waldklinik abgelenkt und dem grimmbärtigen Patienten das Leben gerettet hat. Und nun, eh schon wissen: Wolfskodex. Da mag das Kaninchen sich noch so sehr in den Schläuchen des medizinischen Geräts verwickeln – der Wolf weiß die (Ereignis-)Fäden zu entwirren und das kleine hilflose Wesen über Stock und Stein mit sich zu zerren.
Denn der Jäger lässt nicht nach. Beim Überfall auf die Waldklinik ist er leer ausgegangen – also setzt er Wolf und Kaninchen durch Raum und Zeit nach. Die Rasanz und Dynamik des Geschehens spiegelt sich dabei in der Ästhetik des Comics. Sie resultiert weniger aus der Seitenarchitektur, als vielmehr aus dem Rhythmus der Panelfolgen. Das Framework der händisch gerahmten Bildeinheiten wirkt geometrisch, wechselt aber dennoch von Seite zu Seite. So wie auch die Ereignisse von Seite zu Seite durcheinander gewürfelt werden und der Wolf sich samt Kaninchen immer und immer wieder neue Möglichkeiten einfallen lassen muss, um zu entkommen. Die Hartnäckigkeit des Jägers führt dazu, dass der Bildraum innerhalb der Panels zur sich rasch verändernden Landschaftskulissen wird, durch die Wolf und Kaninchen purzeln, rennen, cruisen. Tag, Nacht und Jahreszeiten wechseln gleichermaßen wie die Fortbewegungsart: Zu Fuß wird durch den Schnee gestapft, in der Wildnis übernachtet oder mit der Beiwagenmaschine ein einsames Motel angesteuert, in dem man an der Rezeption das Gefühl hat, Normans Mutter höchstpersönlich würde hier den Zimmerschlüssel aushändigen. In der Biker-Bar fliegen die Fäuste und am Familienpicknickplatz werden Benzin und Pommes geklaut.
Dabei werden zahlreiche intermediale Assoziationen aufgerufen; nicht zuletzt jene, die unweigerlich mit einem Roadtrip verbunden ist: Get your motor runnin‘ / head out on the highway Der Waldwolf stimmt als Steppenwolf den Kultsong an, der seine situative Neudeutung erfährt, als das Kaninchen (letztlich doch) lauthals mitgrölt: we can climb so high / I never wanna die. Mit dem WUUSCH der Fahrgeschwindigkeit wehen dabei nicht die Haare im Wind, sondern gleich die ersten Teile seines Fells. Denn die Krankheit des Kaninchens beginnt Spuren zu hinterlassen: Zahnfleischbluten, Haarausfall, zunehmende Erschöpfung gehören zu den Symptomen, für die jenes Zeug sorgt, das über den Tropf in den kleinen Körper gepumpt wird. Bedingungslos ehrlich gibt Josephine Mark der tückischen Krankheit Raum und verschränkt den unverstellten Blick auf das Durchleiden des Heilungsprozesses in das wilde Verfolgungsszenario, für das Wolf und Kaninchen ganz und gar geboren scheinen. Bis hin zum High Noon werden die Ereignisse vorangetrieben: Als der Jäger und sein Hund Horst die beiden zum letzten Duell fordern, gilt es für das Kaninchen, die allerletzte Kraft zu mobilisieren.
Der Rest ist Schweigen. Oder hätte Schweigen sein können, wenn im Schwarz der Winternacht (und damit auch im Schwarz der Doppelseiten) nicht knirschende Schritte zu hören wären. Selbst der einsamste Wolf wäre an dieser Stelle glücklich darüber, in Tiergemeinschaft eingebunden zu sein … Als der Frühling anbricht ist zwar der erste Kaffee nach dem Winterschlaf noch nicht getrunken, aber die letzte Einheit aus dem Tropf ins Kaninchen gelangt. Mit einer letzten Freundschaftsgeste des Wolfs ruft Josephine Marks noch einmal dessen unverwüstliche Märchenrolle auf – und verkehrt sie in eine Idylle, die niemand so sehr verdient hat wie Wolf und Kaninchen. Man seufzt. Man ist glücklich. Und restlos begeistert. Man gönnt sich nach all der Action Atempause. Und beginnt genussvoll von vorne: Lookin‘ for Adventure / And whatever comes the way.
Heidi Lexe
In welchen Varianten Wolf und Rotkäppchen sonst noch aufeinandertreffen, kann >>> hier in einer Themenliste nachverfolgt werden.
Vor dem Hintergrund welcher Narrative der Sick-Lit „Trip mit Tropf“ gelesen werden kann, zeigt ein Beitrag von Simone Weiss in der Schriftenreihe fokus. Details sind >>> hier zu finden.
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