STUBE-Freitag: Wiener Walzer
Körperhaltungen. Körper und Körperlichkeit in Kinder- und Jugendliteratur und -medien
Noch immer hält das Gefühl an, dass man nach gefühlt unendlich vielen virtuellen Veranstaltungen ob der nun wieder erlaubten körperlichen Präsenz ganz „geplättet" ist, wie es auf deutsch-Deutsch so schön heißt. Was liegt daher näher, als die 34. Jahrestagung der Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung einem Thema zu widmen, das den Fokus auf den Körper und jegliche Darstellung von Körperlichkeit in der Kinder- und Jugendliteratur richtet? – „Eh", wie man in Wien auf österreichisch-Deutsch so schön sagt, wenn man alle denkbaren Ausbaustufen von Zustimmung unter einen Hut bringen möchte, ohne sich auf den Grad der Zustimmung festlegen zu wollen. (Das beiläufige Schulterzucken sich hier bitte selber zu imaginieren.)
Die STUBE ist gewohnt souveräne Gastgeberin der Tagung und zur Begrüßung zeichnet Heidi Lexe ein themenspezifisches Panoptikum inklusive subtiler Tipps für die Freizeitgestaltung in Wien. Dabei schließt sie die Kaiserinnen Maria Theresia, wie sie in all ihrer Staats-Körperlichkeit zwischen den Museen (aka ZwiDeMu) thront, und Sissi, deren Körperkult legendär war, ebenso ein, wie die Bodypositivity ausstrahlende Wassernymphe im Najadenbrunnen des Schönbrunner Schlossparks, ikonische Klimt und Schiele Gemälde und Christine Nöstlingers Franz, der – anders als Conchita Wurst – dagegen ankämpft, für ein Mädchen gehalten zu werden. Besser kann man in Wien nicht willkommen geheißen werden!
Ute Dettmar zeigt in ihrer Begrüßung auf, wie die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur seit der Aufklärung immer auch Körperdisziplin des Kinderkörpers bis hin zu genderspezifischen Normierungen widerspiegelt.
Caroline Roeder geht in ihrem Vortrag der Frage nach, ob in Texten, die sich auf den Sportunterricht beziehen, subversive und widerständige Haltungen auszumachen sind. Dabei startet sie mit Rilkes Turnstunde, die im Kontext militärischen Drills den Ungehorsam des Protagonisten zwar zunächst als Selbstermächtigung, schlussendlich aber auch als Selbstvernichtung inszeniert. Die Szene des Seilkletterns in Anna Gavaldas „35kg Hoffnung" korrespondiert mit Rilke, mündet aber nicht im Tod des Protagonisten, sondern des Großvaters, der als Motivator fungierte.
Maren Conrad stellt in ihrem Beitrag „Marked Bodies?" Überlegungen zu einem weiten Inklusionsbegriff in der Kinder- und Jugendliteratur an. Anhand der Beispiele „Struwwelpeter", „Der kleine Häwelmann" und „Peterchens Mondfahrt" definiert sie protonormalistische und flexibel-normalistische Diskursstrategien und die textimmanente Forderung nach Barrierefreiheit.
Claudia Sackl erklärt und analysiert anhand von Elizabeth Acevedos Performance „Hair" und ihrem Versroman „Poet X" die Verschränkungen von Physis, Persona und Poetik im Spoken Word, wo durch die performative Situation der mündlichen Kunstform die Grenzen zwischen Autor*in, Sprecher*in und fiktiver Figur verschwimmen. Thematisch überlagern sich Schlagworte wie Authentizität, kulturelle Aneignung, Othering oder die Weitergabe von Traumata.
Johannes Mayer spricht schließlich anhand aktueller Theaterproduktionen über die Inszenierung, Wahrnehmung und (De)Kategorisierung von Körperlichkeit auf der Bühne. Der Körper als das privateste und gleichzeitig öffentlichste Mittel verfügt am Theater über jene Unmittelbarkeit, die die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt des Blickes verschwimmen lässt und die das Publikum zur eigenen Positionierung herausfordert.
Das Empanada-Buffett sorgt nicht nur für Stärkung und eine kulinarisch motivierte Maskenpause, sondern es bietet auch die Gelegenheit, bei einem Glas Wein ins Gespräch zu kommen und zum Beispiel mit native speakers zu erörtern, was das schöne Wort Lepschi wohl heißen mag, denn den musikalischen Absacker im Wienerlied-Format bestreitet das Trio Lepschi.
Julia Benner leitet den zweiten Tagungstag mit Geschichten, die unter die Haut gehen ein. Entlang Überlegungen zu Alice Broadways „Ink"-Trilogie, in der die Haut zum „storytelling organ" wird, erkundet sie die narratologischen und erinnerungs-
kulturellen Funktionen von Tätowierungen in der Kinder- und Jugendliteratur. Tattoo Studies, Semiotik, Materialitäts- und Erzähltheorie kommen dabei zusammen, um Tätowierungen als metapoetische Chiffren zu lesen.
Darauf folgen 7 Sektionen, in denen 17 Vortragende über imaginäre und immaterielle, künstliche und komische, geschlechtliche und gefährdete Körper sprechen. Vom Bilderbuch über den Jugendfilm bis zur Science Fiction werden binäre Körperordnungen hinterfragt und hybride Körperbilder vorgestellt.
Das große Finale des zweiten Tagungstages war die österreichische Autorin Elisabeth Steinkellner, die aus ihren Werken gelesen und im Werkstattgespräch mit Heidi Lexe unter anderem auch über #papierklavier gesprochen hat.
Dariya Manova eröffnet den dritten und letzten Tag der Tagung mit einem Kaleidoskop widerständiger (Jugend-)Körper, die sich in den Gegenwartsliteratur in Banden, Cliquen und Crews zusammenfinden. Individuum und Kollektiv, Vergangenheit und Gegenwart, Psyche und Politik kommen zur Verschränkung, wenn Normen gebrochen, Verletzlichkeiten ausgehandelt und Vergänglichkeiten literarisiert werden.
Anna Stemmann rückt im Anschluss Körper als Zeichenträger von Alteritätserfahrung ins Zentrum und blickt auf jene Verstrickungen von Gender, Religion und Herkunft, die sich am Körper jugendliterarischer Figuren niederschlagen. Alina Bronskys „Scherbenpark" tritt in Dialog mit Fatma Aydemirs „Ellbogen", wenn individuelle Grenz- und Fremdheits-
erfahrungen in den Kontext interkultureller und geschlechtlicher Differenz- und Gewalterfahrungen eingeordnet werden.
Christian Müller unternimmt, in kurzfristiger Abwesenheit seines Kollegen Ralf Olsen, mit dem er gemeinsam eine Studie zur Darstellung von toten Körpern in Kinder- und Jugend-
büchern leitet, einen Ausflug in die empirische Forschung zu Literatur.
Julia Boog-Kaminski schließt die Tagung mit einem Close Reading des monströsen Körpers in Valérie Dayres und Wolf Erlbruchs tabubrechendem, mittlerweile leider vergriffenem Bilderbuch "Die Menschenfresserin", in der sie psychoanalytische Überlegungen mit narratoästhetischer und kunsthistorischer Analyse verzahnt. Die Kinder-verschlingende Mutter liest sie als Differenzfigur, die in der avantgardistischen Bildcollage Normen von Weiblichkeit und Mütterlichkeit sprengt.
Bericht von Alexandra Holmes
Fotos von Peter Rinnerthaler und STUBE
Zur Fotostrecke des Eröffnungstages geht es >>> hier.
P. S. Mittlerweile sind auch die ursprünglich bestellten Tagungsprogramme in der STUBE angekommen ...