FISCHER Sauerländer 2025.
Aus d. Span. v. Ilse Layer.
112 S.

Carla Infanta Gabor: Nicht sehr lang her, nicht sehr weit weg

Wie spricht man über den Holocaust? Welche Mittel hat man zur Verfügung, um die Entwicklung der Schreckensherrschaft der Nationalsozialist*innen in Worte zu fassen und an jüngere Kinder adäquat zu vermitteln?

Eine literarische Möglichkeit für Kinder ab etwa zehn Jahren ist kürzlich erschienen: „Nicht sehr lange her, nicht sehr weit weg“ der spanischen Autorin und Künstlerin Carla Infanta Gabor mutet auf den ersten Blick wie ein Bilderbuch an. Auf den zweiten Blick entpuppt es sich als ein klug aufgebautes Sachbuch über den Holocaust, das bei den Wurzeln beginnt:

Der Hass
ist wie ein giftiges Samenkorn,
Das ruhig in der Erde liegt
und beim geringsten Anreiz
anfängt zu wachsen.


steht mit weißer Schrift auf schwarzem Grund ganz zu Beginn dieses Buches. Auf der rechten Seite, die über den gesamten Text hinweg nahezu ausschließlich der Illustration vorbehalten ist, platziert die Künstlerin ein schwarzes Samenkorn auf grauem Grund. Dieser erhält durch feine Senkrechtstriche Struktur, die an eine Zählliste erinnern. Damit führt sie ein Gestaltungselement ein, das durchwegs wieder entdeckt werden und in der Vielzahl als Analogie zu den vielen Menschen gedeutet werden kann, die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus ihr Leben verloren haben. Die Drastik, die sich bereits auf der ersten Doppelseite eröffnet, zieht sich dem Thema entsprechend durch, ist dabei auf der Bildebene aber gleichermaßen ästhetisch ansprechend wie inhaltlich eindrücklich.

Der weitere Aufbau orientiert sich nach grundlegenden Begriffsklärungen an den historischen Entwicklungen beginnend bei 1919, eine Zeit, in der sich das „Deutsche Reich“ in einer schwierigen Zeit befand, über die Etablierung und Machtübername der NSDAP bis es schließlich zum größten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte kommt: der Shoah. Das Grauen beginnt heißt es auf einer schwarzen Doppelseite, bevor die Autorin mit zunehmend weniger werdendem Text das Schicksal sowie die Leidenswege von Menschen, die nicht dem Ideal der Nationalsozialist*innen entsprachen, nachzeichnet. Sie greift dazu bekannte Bilder von Viehwaggons und Stacheldrahtzäunen auf, reichert mit einem reduzierten und doch eindrücklichen Illustrationsstil die Bilder an und erzählt so, wie Menschen selektiert, ihrer Menschlichkeit und ihres Namens beraubt und schließlich vernichtet wurden. Dort, wo es keine Worte mehr gibt, wählt die Autorin die Stille, übergibt die Doppelseiten in ihrem Buch einem deckenden Schwarz, an dessen Ende sie aber einen Hoffnungsschimmer zu setzen weiß.

Ganz der Anschlusskommunikation verpflichtet spricht der Text die Leser*innen direkt an: Es kann sein, dass dich jetzt, nachdem du all das gelesen hast, verschiedene Gefühle überfallen. Das ist ganz normal. Es ist schwer, so viel Hass und so viel Grauen zu verstehen.

Erfreulich ist, dass damit das Buch aber nicht damit endet, sondern den Bogen zu den Überlebenden und der Erinnerungskultur heute spannt und damit ein Plädoyer schafft, dass es Dinge gibt, die nicht vergessen werden dürfen. Denn: Das Geschehene ist nicht sehr lang her, nicht sehr weit weg.

Alexandra Hofer

Armut wird in Kinder- und Jugendliteratur gant unterschiedlich verhandelt. Eine kleine Auswahl findet sich in einer passenden >>> Themenliste.

 

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