Carlsen 2022.
288 S.

Andreas Steinhöfel und Melanie Garanin: Völllig meschugge?!


Wir haben unsere Welt nachgebaut: Stadt, Landschaften, Irgendwo steht sogar ´ne Kuh. Für Hamids Welt mussten wir noch anbauen: Syrische Wüste.

Nerdig? Aber so was von! Und wir lieben es. Alles läuft auf Schienen, vorhersehbar, geordnet. Volle Kontrolle.

Okay, meistens volle Kontrolle.

Wir, das sind Charly, Benny und Hamid, von denen in einer Graphic Novel, die ihren Ursprung in einer sechsteiligen Miniserie für Kika hat, erzählt wird. Ein Freund*innentrio mit besonderen Eigenschaften und Vorlieben. Charly ist Umweltaktivistin, überzeugte Vegetarierin und Weltverbesserin. Benny liebt Höhlen sowie Basketball. Und Hamid, ein syrischer Junge, ist passionierter Zeichner.

Unsere Welt. Das ist eine nicht näher benannte deutsche Stadt, die aus der Vogelperspektive am Vor- und Nachsatzpapier visuelle Realisierung findet. In dieser, ihrer Welt läuft nach dem Tod von Bennys Großvater, der Höhlenforscher und Jude war, so einiges außer Kontrolle. Am Beginn steht ein Davidstern an einer Kette, die Benny von seinem Großvater erbt und fortan sichtbar um den Hals trägt. Für ihn ist es ein Zeichen der Verbundenheit. Für einige andere aber ein Zeichen der Provokation, was Vorurteile gegen jüdische Menschen und Judenhass auf den Plan ruft. Innerhalb des Erzählten wird das hin bis zu Eskalation gespielt in Form eines Hakenkreuzes auf der Tafel. Und spätestens dann ist auch der Zeitpunkt erreicht, zu dem die Lehrer*innen eingreifen und Erinnerungslernen und Sensibilisierung, samt Exkursion ins Konzentrationslager Dachau aktiv in das Schulleben integrieren wollen. Zugleich wird Benny Zielscheibe antisemitischer Äußerungen und Taten, bis er wegen seiner Religion am Ende zusammengeschlagen wird.

Eine andere Form des Antisemitismus, die mit dem Nahost-Konflikt zusammenhängt, wird durch Hamids großen Bruder in die Erzählung eingebracht: Durch ihn distanziert sich Hamid, der von seinem Bruder Überzeugungen in den Kopf gepflanzt bekommt, von Benny. So versuchen sich die Burschen – jeder für sich – in einer für sie neuen Situation zurecht zu finden, ergründen dabei ein Stück weit ihre jeweilige Religion (Judentum und Islam) und stellen im Verlauf Fragen nach Zugehörigkeit, nach richtig und falsch.

Und zwischen ihnen steht Charly, die als selbstbewusstes Mädchen und abseits einer Religionszugehörigkeit gezeichnet wird. Sie übernimmt nicht nur die Vermittlung zwischen den beiden Burschen, sondern auch die Ermittlung in Sachen Handydiebstähle, die in der Schule immer wieder geschehen und zwischenzeitlich Hamid zugeschrieben werden.  Zudem fungiert sie als Erzählerin aus dem Off, ordnet dieserart Geschehnisse ein und kommentiert diese mit leicht sarkastischen Unterton. Aber auch sie ist nicht gefreit von Mobbing: Sie ist ihrerseits die Zielscheibe von Lennart und Yasmin, einem Mobber*innenpärchen, hinter deren starken Fassade enorme Unsicherheit zu vermuten ist.

Unsicherheit ist wie die Fahrt auf einem wackeligen Fahrrad mit zu wenig Luft in den Reifen. – so fasst Charly das Verhalten unterschiedlicher Figuren in der Graphic Novel zusammen: Unsicherheiten, die mit Blick auf den thematisierten Antisemitismus auch auf Unwissenheit zurückzuführen sind. Die Idee hinter der Serienentwicklung – so Andreas Steinhöfel in einem Interview mit dem Deutschen Rundfunk – war durch die Serie und schließlich durch die Graphic Novel auch, Mechanismen aufzuzeigen, die von Kindern und Jugendlichen vielleicht gar nicht verstanden werden. Mechanismen, die durch eine Definition von „Eigenem“ und „Fremden“ entstehen, durch die Mobbing und Rassismus angefeuert werden und die aufgezeigt, thematisiert und dekonstruiert werden müssen. In der Graphic Novel gelingt das durch die Bildebene auf hervorragende Weise, in die die Berliner Illustratorin Melanie Garanin Elemente integriert, die als visuelle Impulse fungieren: Ein Davidstern hier, das Damaskustor in Jerusalem dort und die Aussagekraft des Hakenkreuzes steht für sich. Zugleich schwingt in Bild und Text immer die Reproduktion von Vorurteilen gegenüber religiösen, kulturellen oder auch gesellschaftlichen Hintergründen mit. In der Seitengestaltung verzichtet sie dabei nahezu gänzlich auf die Rahmung der Panels, was der Bewegung der Figuren durch den Bild- und Erzählraum Freiheiten gewährt und Raum für Leerstellen lässt. Die Seitenarchitektur folgt dabei keinem strengen Konzept: Über den Seitenrand hinauslaufende Illustrationen wechseln sich mit kleinteiligen Momentaufnahmen oder pluriszenischen Bildelementen ab. Davon in Stil und Farbigkeit abgehoben erscheinen Mangasequenzen. Denn Hamid zeichnet. Und er zeichnet sich auch ganz konkret in die Graphic Novel ein, wenn er in diesen Sequenzen – in der Miniserie der Feder von David Füleki entstammend – seinen Gefühlen Ausdruck verleiht oder innere Konflikte austrägt.

In ihrer Vielgestaltigkeit zeigt die Graphic Novel auf hervorragende Weise auf, wie Vorurteile aufgerufen werden, wie Unwissenheit gepaart mit Unsicherheit für Kinder und Jugendliche zu einer toxischen Kombination werden und vor allem aber auch, wie es zu einem Dialog in einem interkulturellen und interreligösen Umfeld kommen kann. Und all das ohne erhobenen Zeigefinger eines Erwachsenen, sondern mit der nötigen Drastik in Bild und Text, wenn von Andreas Steinhöfel und Melanie Garanin aufgezeigt wird, das Dialog und Wissen der beste Widerstand gegen Rassismus und Fremdenhass ist, denn »Es ist nicht die ganze Welt meschugge.« Sagt ein jüdisches Sprichwort.

Alexandra Hofer

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