Alyssa Hollingsworth: 1x Pech und 11x Glück. Illustriert von Cornelia Haas. Aus dem Amerikanischen von Ann Lecker. Bindlach: Loewe 2019.

Die Quaste, die meine Großmutter aus weißen und blauen Fäden mit roten Perlen gewebt hat, schwingt hin und her, als ich die Rubab auf meinem Schoß arrangiere.      Ich atme langsam und tief ein.
Wenn ich ganz still und reglos innehalte, fallen mir immer Lieder ein. […] Lieder, die große Entfernungen zurücklegen und durch meine Hände spielen, als wären sie gar nicht von mir. […] Die Außenwelt wird immer kleiner, bis nur noch ich und die Rubab übrig sind. (S. 11)

Die Rubab, ein afghanisches Saiteninstrument, ist der einzige Gegenstand, der die Flucht aus
Afghanistan nach Boston überlebt hat. Dabei ist sie nicht nur ein Stück Zuhause und
Erinnerung, sondern zugleich auch Zukunft, ist sie doch die einzige Möglichkeit für Samis Großvater etwas Geld zu verdienen, wenn er die Menschen in einer U-Bahnstation mit seiner Musik erfreut. Als dieses für Sami und seinen Großvater so kostbare Instrument gestohlen wird, setzt der 12-jährige Protagonist alle Hebel in Bewegung, um sie wieder zu bekommen und damit der immer düster werdenden Stimmung des Großvaters entgegen zu wirken. Sami lebt mit seinem Großvater, den er liebevoll Baba nennt allein; dass er den Rest seiner Familie bei einem Anschlag verloren hat, erschließt sich für die Leser*innen erst im Verlauf des Texts.

Nachdem er sie in einem Musikgeschäft für 700 Dollar wiederfindet, gilt es einen ausgeklügelten und eher ungewöhnlichen Plan zu erstellen, um das Geld schnellstmöglich zu beschaffen. Die Deadline ist dabei das Fest des Fastenbrechens am Ende des Ramadan. Mithilfe von Tauschgeschäften versuchen Sami und sein neu gewonnener Fußballfreund Dan Dinge mit wertvolleren Gegenständen zu ertauschen: Ausgangspunkt ist dabei ein Manchester-United-Schlüsselanhänger, den Sami von seinem Großvater auf der Flucht geschenkt bekommen hat. Schlüsselanhänger gegen vermeintlich kaputten iPod, iPod gegen Figurinen, Figurinen gegen Bargeld sind nur drei der insgesamt elf Tauschgeschäfte, die der Protagonist abschließt. Für die Lesenden führt die Autorin vor jedem Kapitel ein Tauschtagebuch an, dass durch eine andere Schriftart vom Fließtext abgehoben ist. In diesem wird nicht nur penibel genau festgehalten wird, welche Tauschmöglichkeiten Sami plant und bereits abgeschlossen hat, sondern auch den Countdown bis zur Deadline sowie das Haben und Soll der $ 700 auflistet.

In diesem Text steht nicht – wie so oft – die Fluchtgeschichte des Jungen im Vordergrund. Vielmehr erzählt Alyssa Hollingsworth in ihrem Debütroman von einem Kind, das sich in einer neuen Umgebung zurechtfinden muss. Dabei gilt es nicht nur die neue Sprache zu erlernen, in der Schule mitzukommen, sondern vor allem auch die Erinnerungen und die Bilder der Vergangenheit zu bewältigen. Der Text erzählt aber auch von Freundschaften, die sich durch das Ausüben einer gemeinsamen Sportart entwickeln und darüber hinaus von einer gelungenen Integration.

Durch zahlreiche innere Monologe werden die Herausforderungen, mit denen Sami konfrontiert ist, nachvollziehbar. Dabei kommen auch kulturelle Unterschiede zwischen Afghanistan und dem Westen zur Sprache: Es überrascht mich nicht, dass in Amerika sowohl
Mädchen als auch Jungs Fußball spielen, doch es erfüllt mich immer noch mit Unbehagen und Verlegenheit, dass man von mir erwartet, mit Mädchen zu spielen – es ist so ein Gefühl, wie wenn ich eine Treppenstufe verpasst hätte. (S. 66.)

Neben der Besonderheit, dass in diesem interkulturellen Roman eine Flucht und deren Folgen thematisiert werden, ohne sie zum zentralen Thema des Plots zu machen und stattdessen Freundschaft ins Zentrum zu rücken, überzeugt der Text vor allem auch durch die Darstellung eines friedlichen Islams und erhält dadurch ganz unaufgeregt eine aufklärerische Komponente: So etwa wenn der Protagonist seinen neuen Mitschüler*innen erklärt, was für ihn der Ramadan bedeutet.

Alexandra Hofer

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