Religiöses Buch im Juni 2019
Steve Tasane: Junge ohne Namen. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Frankfurt am Main: Fischer 2019.
Heute ist der Schlamm trocken und verkrustet und weht in meine Augen. Heute habe ich Geburtstag. Ich glaube, ich habe heute Geburtstag.
Mit diesen Worten setzt der Text bereits am Cover ein - Vorsatzpapier sowie Schmutztitel werden dabei ebenso übersprungen. Der Titel bildet damit gleichzeitig die Überschrift des ersten Kapitels. Es handelt sich hierbei um keine
Fluchtgeschichte, sondern um den Alltag in einem Flüchtlingslager: Aber ich werde nicht die Geschichte meines früheren Lebens erzählen. Ich werde die Geschichte meines jetzigen Lebens erzählen, hier im Lager, angefangen mit dem heutigen Tag.
Meinem zehnten Geburtstag. Meine Geschichte geht so … (S. 3-4)
Aus der Ich-Perspektive von I, einem 10-jährigen unbegleiteten Minderjährigen, werden einige Wochen in jenem Auffanglager geschildert. Auf der Flucht selbst hat er sowohl seine Familie, als auch seine Papiere, sein sogenanntes Lebensbuch verloren. Dieser Umstand, den er mit vielen anderen Kindern im neuen “Zuhause” teilt, führt dazu, dass jene papierlosen Mädchen und Jungen auf den ersten Buchstaben ihren Vornamens reduziert werden: keine Papiere - keine Namen. Gemeinsam mit V, O, L und E versucht er das Leben zu meistern. Unterstützung bekommen sie von C , dem Sohn von Charity, einer Helferin, die mit einem Bus für einen sicheren Ort für Kinder und Frauen sorgt. C solidarisiert sich mit der verkürzten Form seines Namens mit den Kindern. Die Wahl der Anfangsbuchstaben scheint dabei nicht willkürlich zu sein, so könnte bei näherer Betrachtung doch I C (see) LOVE daraus gebildet werden. Diese anonymen Buchstaben werden in die einzelnen Kapitelüberschriften aufgegriffen und zu zumeist negativ konnotierten Überthemen für den nachstehenden Textteile: Ich, Verlust, Essen, Chaos, Ortlos sowie Leben. Die teils naive, teils nüchterne Erzählstimme berichtet auf einer kindlichen Wahrnehmungsebene über den Zeitvertreib vor Ort, der vor allem auch durch die Suche nach Essen und dem Erfinden von Spielen geprägt ist.
Der Text ist weder zeitlich, noch topographisch klar verortet. Im Nachwort schreibt der Autor, dass er seine eigene Erfahrungen als Sohn eines Flüchtlings mit Elementen von Einzelschicksalen heutiger junger Flüchtlingskinder verknüpft. Dadurch liegt ein zeitloser Text vor, der nichts beschönigt und wie es scheint einen sehr ehrlichen Weg wählt, wie sich das Leben von unbegleiteten Minderjährigen in einem der zahllosen Flüchtlingslagern gestalten könnte. Dabei wird etwa die erbärmliche Wohnsituation von Menschen geschildert, das Problem mit dem entstehenden Müll, fehlenden sanitären Einrichtungen und die Gewalt der Wachmänner thematisiert und unverblümt aufgezeigt, wie mithilfe von Tränengas und Bulldozern das Lager geräumt und die Flüchtlinge umgesiedelt werden sollen.
Am Ende bleibt dennoch ein Funke Hoffnung; die Kinder verlassen gemeinsam mit Charity das bereits dem Erdboden gleichgemachte Lager und begeben sich miteinander auf die Suche nach einem neuen Zuhause.
Alexandra Hofer
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