Peter Sís: Robinson. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Gerstenberg 2019.

Peter Sís‘ neues, autobiografisch inspiriertes Bilderbuch bewegt sich zwischen zwei intertextuellen Referenzen, deren zentrale Motivik parallel geführt und in die eigene fiktionale Erzählung transponiert wird. Einerseits wird schon im Paratext der Bezug zu Daniel Defoe’s Klassiker der Weltliteratur von 1719 sichtbar, andererseits verweist die Erzählung auch implizit auf Maurice Sendaks amerikanischen Bilderbuchklassiker von 1963:

Bei dem spannungsvoll erwarteten schulischen Kostümfest verkleidet sich der kindliche Ich-Erzähler Peter als die literarische Hauptfigur seiner Lieblingsgeschichte, aber seine Klassenkameraden machen sich lustig über seine Kostümierung als Robinson Crusoe. Verzweifelt läuft Peter weg und zieht sich in den Schutzraum seines Kinderzimmerzimmers zurück. Die absolute Draufsicht auf das abgeschlossene Zimmer unterstreicht dabei sein Gefühl der Machtlosigkeit und des Ausgeliefertseins – überhaupt setzt Peter Sís visuelle Perspektiven hier auf sehr expressive, bedeutungsvolle Weise ein. In einem (fieberhaften?) Traum weiten sich daraufhin jedoch – ähnlich wie in „Wo die wilden Kerle wohnen“ – die Wände von Peters Kinderzimmer und morphen zu einer Wasserlandschaft, in der Peter mit seinem Boot auf einer Insel strandet. 

Die Insel als Ort der Outlaws, Piraten und Schiffbrüchigen (bei Daniel Defoe) einerseits und als Ort des Unterbewussten und der Wildnis (bei Maurice Sendak) andererseits, verdichtet sich in Peter Sís‘ Bilderbuch zu einem (imaginären) Ort, an dem sich der zurückgewiesene Peter als (vorübergehender) Außenseiter seinen inneren Konflikten stellen kann und sich selbst im elternfernen Raum erproben kann. Gemeinsam mit dem Motiv der Bootsreise, die über die Grenzen von Zeit und Raum hinweg führt (bei Sendak heißt es: „Tag und Nacht und wochenlang und fast ein ganzes Jahr bis zu dem Ort wo die wilden Kerle wohnen“ – und bei Sís: Ich schwebe davon. Ganze Stunden vergehen, vielleicht sogar Tage, bis ich auf einer einsamen Insel strande.“), inszeniert Sís in seiner kinderliterarischen Robinsonade eine Neuverhandlung von kindlicher Identität, die nur in dem Zwischenraum von Realität und Imagination, von literarischen Metatexten und der eigenen fiktionalen Geschichte stattfinden kann – und stattfinden muss, nachdem Peter auf sich selbst zurückgeworfen wurde und sein Selbstbild neu befragen muss. 

Wie Max flüchtet sich Peter in eine Seelenlandschaft, wo er seiner Vorstellungskraft freien Lauf lassen kann. In einen Schwebezustand zwischen Wachen und Schlafen, in dem es ihm möglich ist, kindliche Autonomie und Selbstermächtigung zu erfahren. Robinsons Konflikt zwischen Natur und
Kultur, zwischen Individuum und Gesellschaft wird dabei auf die unterschiedlichen kindlichen Bewusstseins- und Selbstwahrnehmungsebenen übertragen, was sich in expressiven,
atmosphärischen Illustrationen wiederspiegelt. Während Peters Alltagserfahrungen in realistischen Zeichnungen mit klaren Tuschekonturen gezeigt werden, stellt Sís Peters Traumreise mithilfe farbintensiver Wasserfarben dar, deren verschwommene Flächen ineinander übergehen. In Anlehnung an expressionistische Farbgebung und Strichführung verleiht der Bilderbuchkünstler so kindlichen Ängsten und Sehnsüchten auf beeindruckende Weise Ausdruck. Und wenn Peter schließlich, wie Max und Robinson, nach seiner Selbstbewährung wieder in sein Zuhause zurückkehrt, ist sein Selbstbewusstsein gestärkt und auch sein Selbstbild transformiert. 

Claudia Sackl

>>> hier geht es zu den Religiösen Büchern 2019