Phantastik-Tipp im November 2022
cbj 2022.
416 S.
Nina Blazon: Banshee Blues
Das Licht explodiert so schnell, dass ich nicht einmal zusammenzucken kann. Völlig geblendet nehme ich lediglich wahr, wie der Geisterwind mitten durch den Raum fegt. Und als ich wieder etwas sehen kann, bin ich gefangen wie eine Fliege im Bernstein, versteinert in geronnener Zeit.
Der Kristall steht still, während irgendwo draußen ein Wolf heult. Dann explodiert das Fenster, die Zeit stürzt auf uns zurück und wirft mich zu Boden. Hitze und Rauch füllen das Zimmer.
Nicht nur im Zimmer des schottischen Anwalts (und nebenbei: Vermittler zwischen den Welten) geht so einiges in Flammen auf. Auch Deidre brennt. Zumindest innerlich, aber nach außen hin ist sie die beherrschte junge Frau, die ihre weißen Wimpern tuscht, für ihre Band hinter dem Mischpult sitzt und peinlich darauf achtet, ihre Stimme nicht zu erheben. Das könnte tödlich enden, zumindest für diejenigen, die das Pech haben, in Hörweite zu sein. Denn Deidre, kurz Dee, hat in ihren Adern Banshee-Blut. Ihr Gesang verschlägt anderen den Atem, nicht nur sprichwörtlich.
Dass Musik dennoch einen großen Part in Dees Leben spielt und sie mit ihrer Band erfolgreich durchzustarten beginnt, scheint auch vorerst gut zu gehen. Bis – ja, bis sich ein Rachegeist an ihre Fersen heftet und die junggekeimte Liebe zu Leadsänger Arvo gefährdet. Dee, die daran gewöhnt ist, von den Geistern derjenigen, die sie unabsichtlich mit ihrer Stimme dahingerafft hatte, umgeben zu sein, muss nun neue Geschütze gegen die Bedrohung auffahren und flieht mit ihrer Mutter und Halbschwester nach Dublin, um dort in der tarnzaubergeschützten Anwaltskanzlei des Mr. May den überirdischen Störenfried wieder los zu werden. Dass die Geistersession schlussendlich zum feurigen Auftakt einer Verfolgungsjagd durch Europa wird, ist aber nicht die einzige Überraschung im mehr als 400 Seiten starken Schmöker.
Wer Nina Blazon kennt, ahnt, worauf man sich freuen kann: Das solide Handwerk einer Autorin, die sich seit Jahren als hochproduktive und gleichzeitig überzeugende Bespielerin gleich mehrerer Genres einen Namen gemacht hat und die weiß, wie sie ihre Leser*innen bei der Stange hält. Nina Blazon, mehrfach preis- und auszeichnungsgehuldigte Schriftstellerin, die ihr erzählerisches Potential über historische Romane, kriminalistisch gepfefferte (fantastische) Werke bis hin zu eindeutig an ein erwachsenes Lesepublikum adressierte Lektüren spannt, begibt sich in „Banshee Blues“ wieder in die Welt der Urban Fantasy, die sie schon zuvor erfolgreich zwischen Buchdeckeln wachsen ließ.
In den eisverkrusteten Alltag eines gegenwärtigen Helsinkis werden fantastische Elemente schon durch die Protagonistin und Ich-Erzählerin Dee getragen, deren Anderssein, obwohl lange gut gehütet, schließlich doch zum narrativen Motor wird. Dennoch sind es die Bruchstellen zwischen Diesseits und Jenseits, die den Stein ins Rollen bringen: Die Geister, die sie rief – oder besser, durch die vererbte Todesfeen-Stimme aus dem Leben schubste –, spielen darin ebenso eine Rolle wie der Rat der Ahninnen, der drauf und dran ist, sie für ihre mörderischen Ausrutscher vor Gericht zu bringen. Hinter der Strafverfolgung durch die Ahninnen, allesamt waschechte Banshees, steckt aber noch ein ganz anderes Problem, das ebenso in den Dilemmacocktail hineinspielt, den Dee unfreiwillig gemixt hat: Als Bansheeny, also Geschöpf, das halb Banshee, halb Mensch ist, lebt sie mit ihrem Familienclan in einem Zustand zwischen den Zugehörigkeiten. Jene Bansheenys haben kein allzu gutes Standing, denn:
Für unsere Ahninnen sind wir diejenigen, die nicht dazugehören, die in ihren Augen minderwertig sind, halbseiden, zwielichtig, auf jeden Fall verdächtig. Uns ist nicht zu trauen, denn wir sind etwas, was es nach den Gesetzen der Magie nicht geben dürfte: Nachkommen einer Todesfee und eines Menschen. Anders als unsere Ahninnen sind wir nicht Teil des Schicksalsrades, das über Tod, Leben und Vergeltung entscheidet. Man könnte sagen, wir sind die magische Mutation, die niemand haben will.
Trotz diverser Verwicklungen erspart Nina Blazon sich und den Leser*innen in „Banshee Blues“ eine langatmige Exposition; das Anderssein und die Elemente des Fantastischen tupft sie gekonnt dann in den Text, sobald eine Erklärung notwendig ist, um weiterhin der Story ohne Kopfweh folgen zu können. Diese Details liefert die Protagonistin en passant und ohne die Leser*innen mit fantastischem Namedropping oder undurchschaubaren Annalen zu überfordern.
Überhaupt bleibt Dee jener Typ Ich-Erzählerin, der rasches Identifikationspotential zulässt, durch Unsicherheiten ebenso wie Mut und Loyalität Leser*innennähe erzeugt und Einblicke in das emotionale Durcheinander einer liebesgestreiften Jugendlichen mit potentiell todbringenden Stimmbändern ermöglicht. Würde man also Ginny Weasley, Harry Potter und Fleur Delacour in den narrativen Häcksler stopfen und mit ein paar Tröpfchen Todestrank würzen, so käme wohl Deindre Faye dabei heraus. Weshalb sich „Banshee Blues“ aber auch so nah und aktuell anfühlt, liegt womöglich am konsequent durchgezogenen Einsatz populär-kultureller Referenzpunkte in Form von Songtiteln, Serientrends und digitalen Gadgets (so hat Dees Familienclan eine eigene Chat-Plattform, das Fayenet, scherzhaft Fayebook genannt). Ihres Phones aus Gründen des Trackings entledigt, jagt Dee in einem Geländewagen der fulminanten Klimax entgegen eine schwedische Landstraße entlang, während einer ihrer Geister am Beifahrersitz mit von der Partie ist und Savage Daughter von Wyndreth Berginsdottir auf vollem Anschlag aus der Anlage wummert. An anderer Stelle singt sie in Erinnerung an diejenigen, die wir auf unserem Weg verlieren zu „Memories“ von Maroon 5 – wohlgemerkt in der luftigen Gitarren-Coverversion von Nicole Cross. Die nachgereichte Playlist versammelt noch einmal die musikalische Menükarte und lädt dazu ein, die Lektüre um den maßgeschneiderten Soundtrack auch auditiv zu erweitern.
Können wir „Banshee Blues“ vorwerfen, sich an eine bewährte Melange aus jugendlicher Freigeistigkeit, emotionaler Entscheidungsfindung und moralischen Herausforderungen zu bedienen? Die im keltischen Kulturgut verankerten fantastischen Elementen mit crimefiction, der Unterdrückung einer marginalisierten Gruppe und einer jugendlichen Liebesgeschichte zu überwürzen? Dieses bunte Allerlei auch noch zu einer Cliffhanger-getriebene Story zu spinnen? Vielleicht.
Das Ergebnis aber überzeugt dennoch oder gerade deswegen. Dass uns das Ende vielleicht von Herz und Schmerz zu klebrig wird, müssen wir wohl in Kauf nehmen. Wir können es aber auch als Zuckerl in einer Zeit willkommen heißen, in der es ohnehin wenige Gründe gibt, zufrieden zu seufzen.
Iris Gassenbauer
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