Phantastik-Tipp im Oktober 2022
Ill. von Tine Schulz.
Beltz & Gelberg 2022.
232 S.
Kirsten Reinhardt: Elvis Gursinski und der Grabstein ohne Namen
Heit schaut des Gaunze aunders aus
Weil heite grob ma Tote aus.
(Voodoo Jürgens)
Manche Erzählungen (denken wir etwa an die großen Held*innen der Antike, religiöse Grundlagentexte, Märchen) sind fixer Bestandteil unseres kulturellen Gedächtnisses und prägen in abgewandelter, verkürzter, genauso wie ikonografisch verfestigter Form den menschlichen Alltag mit. Andere Geschichten reagieren bewusst auf den Zeitgeist und sind nach ihrer Veröffentlichung verhältnismäßig bald wieder verschwunden. Und wieder andere, die werden niemals erzählt – weil dafür die Rahmenbedingungen fehlen; weil ein aktives Interesse daran besteht, sie zu unterdrücken; weil die Menschen, um die es geht, nicht als wichtig wahrgenommen werden. Stummgeschaltet, aus dem Bild gedrängt, irgendwo in der Zeit vergraben. Aber was passiert, wenn von diesen Ereignissen, die nie zur Erzählung geworden sind, trotzdem so etwas wie ein Rest in der Welt bleibt? Ein Rückstand, der sich verselbstständigt und in den Alltag der Lebenden wie eine Störung hineinwirkt, die alles ein wenig verrückt?
Elvis Gelatin Erkin Gursinski empfängt so viele Störsignale, dass er eigentlich gar nicht mehr so richtig weiß, wie die darunterliegende Übertragung klingen sollte. Denn seit er mit seinen Eltern Peggy und Sedat wegen der günstigen Miete in das kleine Friedhofswärter*innen-Häuschen in ihrem Berliner Kiez gezogen ist, scheint alles immer mehr aus den Fugen zu geraten. Seiner Mutter (ihrerseits Illustratorin von Beruf) entgleitet die Kontrolle über die eigene Arbeit: Es schlichen sich kleine Merkwürdigkeiten in ihre Bilder. Hier ein glotzendes Auge, da ein haariger Zeh oder eine hubbelige Warze. Und als diese Merkwürdigkeiten immer beunruhigender werden, wundert es nicht, dass die Aufträge ausbleiben. Sedat hingegen zieht sich immer mehr in sich selbst zurück, wird melancholisch und lethargisch. Die beiden trennen sich und leben im Wechselmodell mit Elvis im Häuschen am Friedhof. Dass dieses Häuschen tatsächlich am Friedhof steht, Elvis darin wohnt und sich die Toten nur drumherum gruppieren, das stellt die redselige Erzählinstanz gleich am Anfang klar:
Das heißt, er wohnt über der Erde, in einem Haus und nicht in einem Sarg. Er ist ja nicht tot. Und keine Sorge, diese Geschichte wird auch nicht damit enden, dass Elvis herausfindet, dass er es ist. Versprochen!
Trotzdem verschwimmen im Alltag des Protagonisten permanent die Grenzen. Während er sich vom Austausch mit seinen (lebenden) Mitmenschen gerne zurückzieht und auch in der Schule versucht, nur nicht aufzufallen, findet er am Friedhof nämlich eine ganze Menge kommunikationsfreudiger Gesprächspartner*innen. Denn dort streifen gemütlich die Geister der Begrabenen über die Kieswege und Gräber – und Elvis kann sie sehen. Skurril-liebenswürdige Gestalten wie die fürsorgliche Elfriede Schumschill oder der meisterhafte Konditor Albert Odelfing zu Mottenstar werden also, anstatt nur vor sich hin zu verwesen, zu Elvis’ Vertrauten, bis dessen Schulkameradin Dalia beginnt, regelmäßig am Friedhof aufzutauchen. Ein einziges Ärgernis, denn Dalia ist vor allem scharfzüngig, laut und damit eine potenzielle Gefahr für die geliebte Friedhofsruhe. Aber ist sie (als Enkelin der schrulligen, immer ausgebuchten Stadt-Schamanin Madame al Nour) wirklich nur durch Zufall hierhergekommen? Die Ereignisse überschlagen und die geisterhaften Fäden verdichten sich, in einer Entwicklung, die auch eine Antwort auf das seltsame Verhalten von Elvis’ Eltern und die schaurigen Vorkommnisse im Friedhofshäuschen geben könnte.
Mit "Elvis Gursinski und der Grabstein ohne Namen" ist Autorin Kirsten Reinhardt ein launig erzählter Roman für (nicht nur) junge Leser*innen gelungen, der mit unterschiedlichen Genres spielt und sich trotz seines Humors und des verschrobenen Figurenrepertoires stetig auch unter die Oberfläche gräbt: Eine vorsätzlich zu Grabe getragene Vergangenheit wird wieder aufgewühlt und wo Erwachsene Verantwortung nicht tragen wollen oder können, werden überraschende, neue Allianzen geschlossen. Wo gelacht wird, wird auch gegruselt und wo sich die Toten bemerkbar machen, werden Geschichten neu geschrieben. Die perfekte Lektürewahl für nebelverhangene Herbsttage und schaurig-schöne Lesenächte – aber eigentlich auch für sonst immer.
Sarah Auer
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