Susan Kreller: Das Herz von Kamp-Cornell.
Carlsen 2025.

„Das Herz von Kamp-Cornell“: Ein Haus und viele Geheimnisse

Ein Brief; ein Haus inmitten eines Dorfes aus dessen Poren die Kronellkirschenblüte quillt; vier vereinzelte Schwestern; deren sterbenskranker Vater; dessen jugendliche Enkel:innen. Schicksalhaft führt am Beginn des Romans eine mysteriöse Nachricht Familienmitglieder zusammen, die einander seit 20 Jahren nicht mehr gesehen haben – oder einander überhaupt nicht kennen. Der stille Edin in Wollpullover, der das Leben zwanghaft nachzählende Johnny, die Drillingsschwestern Penelope und Gabriella (Nein, sie haben Lydia nicht vergessen ...) und die trotzige Lu mit der Fransenjacke erfahren erst am Krankenbett ihres Großvaters, dass ihre Mütter außer ihnen noch eine andere Familie haben. Oder hatten. Nun jedoch werden die vier Mütter unvermittelt in ihre Kindheit zurückversetzt. Dafür sorgt das Haus. Dafür sorgen die ständig im Haus präsenten Dorfbewohner:innen. Dafür sorgen die Geräusche, die die vier Schwestern bereits früher Nacht und Nacht in Angst versetzt haben und nun als Tonspur einer Topografie wiederkehren, durch Raum und Zeit aufgehoben werden: Die Welt schrumpft auf das Familiendomizil zusammen – ja mehr noch: Das Leben im Haus scheint (erneut) rund um das ungenutzte Zimmer angeordnet. Widerspruchslos akzeptieren die Schwestern jenes Verbot, das bereits im Zentrum ihrer Kindheit gestanden hat: „Keiner ging in dieses Zimmer. Egal aus welcher Generation.“ Der Raum steht buchstäblich wie auch motivisch im Zentrum jenes Geheimnisses, das die Familie anhaltend entfremdet hat. Die fünf Jugendlichen jedoch beginnen, nach und nach leere Winkel und verräumte Zimmer im Haus zu erobern – und legen dabei Verborgenes und Verdrängtes frei. Aus bewusst gesetzter, auktorialer Perspektive lässt Susan Kreller den erzählenden Blick zwischen den Figuren wandern, verwebt Leichtes mit Schwerem, lässt Wahrheit und Wahrnehmungen einander überlagern. Zwar werden Stilmittel des Krimis aufgegriffen, um dem Geheimnis der nächtlichen Geräusche auf die Spur zu kommen; die Indizien jedoch werden zuallererst sprachlich abgewogen. Sie werden in ihren Wortwörtlichkeiten durch assoziative Möglichkeiten gespiegelt, sodass letztlich die motivischen Fäden in einer bitteren Erkenntnis zusammengeführt werden: Glück und familiäre Zuneigung können nicht abstrakt gedacht, sondern müssen gelebt werden. Das Ineinandergreifen der Erfahrungen dreier Generationen lässt den Jugendroman zu einem Crossover-Text werden; und sorgt für ein poetisches Angebot an jene, die sich auf die Komplexität der Ereignisse einlassen wollen.

Heidi Lexe

 

 

 

 

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