Lektorix
des Monats
Ein Buchtipp von STUBE, Institut für Jugendliteratur
und DIE FURCHE

Anne Frank: Füller-Kinder. Erzählungen und Ereignisse aus dem Hinterhaus.
Aus dem Niederländ. v. Ruth Löbner.
Jacoby & Stuart 2025.
Künstlerische Blicke auf ein literarisches Vermächtnis
In der kollektiven Erinnerung ist Anne Frank für immer ein 15-jähriges Mädchen. Doch hätte ihr Leben nicht im Frühjahr 1945 im KZ Bergen-Belsen geendet, nur wenige Wochen vor der Befreiung, hätte sie im Juni 2024 ihren 95. Geburtstag gefeiert – nach heutigen Maßstäben ein durchaus erreichbares Lebensalter. Das Anne Frank Haus in Amsterdam, das ihr Erbe verwaltet und weiterträgt, initiierte zu diesem Anlass ein Buchprojekt, das nun in deutscher Übersetzung und wunderbarer Buchgestaltung erschienen ist: 46 Illustratorinnen und Illustratoren wurden eingeladen, Anne Franks Texte zu illustrieren. Vorangestellt ist der Zusammenstellung ein titelgebendes Zitat aus dem Tagebuch vom 7. August 1943: „Ich habe vor ein paar Wochen angefangen, mal eine Erzählung zu schreiben, etwas, das vollkommen erfunden ist, und das hat mir so eine Freude bereitet, dass meine Füller-Kinder sich stapeln.“ Die stilistische und thematische Bandbreite dieser kürzeren Texte, die bislang wenig bekannt waren, ist groß: Erzählt werden alltägliche Begebenheiten aus dem Hinterhaus, wie man sie auch aus dem Tagebuch kennt, aber auch Erinnerungen an die Zeit vor dem Versteck, Erzählungen, Essays und Fragmente eines Romanprojektes mit dem Titel „Cadys Leben“, an dem sie arbeitete. Dieser Unterschiedlichkeit entsprechen auch die verschiedenen Stile und Techniken, in denen die Künstler*innen, darunter bekannte Namen wie Floor Rieder, Thé Tjong-Khing, Oliver Jeffers und Britta Teckentrup, sich den Texten annähern. Einige der Darstellungen porträtieren Anne Frank, andere bleiben ganz im Bebildern der Gedanken, wie eine hinreißende Gegenüberstellung von zwei bekleideten und einer unbedeckten Blume zu einem Text mit dem Titel „Der Pfuhl des Verderbens“, eine Art Leserinnenbrief, in dem Anne Frank ihre Meinung zur Kritik an Nacktbildern in einem Film auf den Punkt brachte. Außer ihren Bildern wurden die Illustrator*innen auch eingeladen, ein paar persönliche Gedanken zu formulieren: manche nehmen dabei konkret Bezug auf Anne Franks Geschichte, andere sinnieren über ihren eigenen, künstlerischen und menschlichen, Werdegang. Abgerundet wird diese Fülle durch ausführliche Biografien aller Beteiligten und einer genauen editorischen Nachbemerkung, die einen Überblick über die Manuskripte gibt. Was an den Texten erinnert ist, was erdacht, muss offen bleiben – und ist auch letztlich irrelevant. Deutlich wird bei der Lektüre jedenfalls: Anne Frank war eine begabte, scharfzüngige und klarsichtige Autorin und es ist unendlich schade, dass sie diesen Traum nicht weiterverfolgen konnte.
Kathrin Wexberg
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