Lektorix des Monats Oktober 2013
Alle Welt. Das Landkartenbuch.
Von Aleksandra Mizielinska und Daniel Mizielinski.
Aus dem Poln. v. Thomas Weiler.
Moritz 2013.
112 S., € 26,80.
Atlas für Entdecker
Wer den Namen Atlas trägt, hat schwer zu tragen: Sowohl der Titan aus der Mythologie, der die Weltkugel stemmt, als auch jener Halswirbel, der die körperliche Last des Kopfes trägt – und damit die „Last“ der je individuellen Welt der Gedanken und Assoziationen. Entsprechend gewichtig zeigt sich auch dieser Atlas. Als wäre er aus dem Schiffsbauch einer Fregatte alter Entdecker geborgen, breitet das kartografische Schmuckstück handgezeichnetes Kartenmaterial großformatig auf scheinbar vergilbtem Papier aus und ermöglicht es, mit kindlich-naivem Blick durch „Alle Welt“ zu navigieren. Mit jedem Umblättern entspinnen sich Expeditionen, die Bekanntes und durchaus Konventionelles mit der Exotik neu zu erforschender Gebiete verbinden. Beginnend im hohen Norden Islands wurde für alle fünf Kontinente eine Länderauswahl getroffen, die (der Zielgruppe entsprechend) für Europa natürlich entsprechend üppiger ausfällt. Eine vorangestellte Übersichtskarte verortet die jeweiligen Nationen und präzisiert geografische Relationen. Denn danach herrscht (trotz Maßstabangabe) herrliche Größenordnungsanarchie. Die Ausbreitung der einzelnen Länder über je eine Doppelseite schafft Platz für zahllose Bildminiaturen, mit deren Hilfe kunst- und kulturgeschichtliche Besonderheiten mit Landschaftsformationen sowie einer Fülle an Einblicken in die Fauna und Flora kombiniert werden. Die kroatische Bergsingzikade findet hier Platz neben der Gusla (traditionelles Streichinstrument), die Brücke am Kwai im Westen Thailands neben Ananas, Chili und Kautschukbaum. Beliebte nationale Sport- und Freizeitaktivitäten werden an die Seite ethnologischer Aspekte und berühmter Künstler*innen, Wissenschaftler*innen oder Aktivist*innen gestellt. So findet Desmond Tutu Platz neben „Buschleute(n) vom Volk San“ und den Verweisen auf Cricket und Rugby, während Sigmund Freud seinen Blick gnädig vom Tafelspitz ab und dem Schneeschuhlaufen und Rodeln zuwendet. Don Quichotte und Sancho Panza hingegen reiten förmlich auf die spanischen Tapas-Häppchen zu, denn natürlich kommt den jeweiligen kulinarischen Verlockungen der Länder umfassende Bedeutung zu. Historische und gesellschaftspolitische Hierarchien scheinen aufgelöst, wenn jeweils zwei Kinder mit exemplarischen Namen den kurzen Angaben zur Seite gestellt werden, die den Ländernamen in seinen entsprechenden Varianten, Hauptstadt, Fläche und Einwohnerzahl, gesprochene Sprachen und Landesflagge umfassen. Eine Parade der Flaggen aller Länder dieser Welt rundet das kartografische Schauerlebnis ab. Wer da Einsiedlerkrebs sein will, ist selber schuld!
Heidi Lexe
Buchtipp in DIE FURCHE 40/3. Oktober 2013
Oliver Scherz: Ben.
Ill. v. Annette Swoboda.
Thienemann 2013.
112 S., € 13,40.
Schildkröte ist Schildkröte
Fast sechs zu sein, wie der kindliche Ich-Erzähler Ben, ist eine Zeit des Dazwischenseins: Man ist kein Kindergartenkind mehr, geht aber auch noch nicht in die Schule. Muss man bei den Großeltern übernachten, ist das Heimweh groß, aber wenn der Großvater zu einem nächtlichen Spaziergang motiviert, steht die Neugier im Vordergrund. Der große Bruder findet einen meistens zu klein für die wirklich interessanten Spiele, aber wenn die Eltern abends weggehen, wird doch gemeinsam über die Stränge geschlagen. In zehn kurzen Geschichten, die chronologisch verlaufen und thematisch lose zusammenhängen, etabliert Schauspieler, Cutter und Regisseur Oliver Scherz in seinem ersten Kinderbuch aber vor allem eine große Freundschaft: Denn immer mit dabei ist Herr Sowa, Bens Schildkröte und gleichzeitig sein bester Freund. Und eine der größten Herausforderungen ist es schließlich zu erkennen, dass auch eine heißgeliebte Schildkröte eben eine Schildkröte und nicht für alle Aktivitäten geeignet ist. Annette Swoboda setzt Ben und Herrn Sowa in farblich zurückgenommenen Bildern, die teilweise in den Textraum integriert sind, in Szene. Es sind nicht die großen Abenteuer, von denen hier mit viel Gespür für kindliche Gedanken und Emotionen erzählt wird, sondern vielmehr die kleinen Erkenntnisse und Herausforderungen des Kinderalltags, ohne dabei voraussehbar oder belehrend zu wirken. Durch die im Kinderbuch selten gewählte Form von kurzen Geschichten, die sowohl einzeln als auch im Gesamtgefüge Dramaturgie und Sprachbewusstsein zeigen, eignet sich das Buch auch hervorragend zum Vorlesen – oder Anhören der bei Silberfisch lieferbaren Hör-CD, die von Martin Baltscheit gelesen wird.
Kathrin Wexberg
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