Lektorix des Monats April 2013
Sarah Michaela Orlovský:
Tomaten mögen keinen Regen.
Wiener Dom-Verlag 2013.
192 S., € 17,90.
Besonderes Zuhause
"Das Haus „Betlehem“ ist ein besonderes Zuhause für besondere Kinder." So formuliert es die Redakteurin Ana, die eine „Behinderten-Story“ über ein Waisenheim schreiben möchte. Gaya, Bewohnerin des Heims, antwortet auf die Frage, wie „das so ist, in einem Waisenheim zu leben“ einfach: „Ein Waisenheim ist halt ein Waisenheim.“ Bereits mit diesen unterschiedlichen Beschreibungen des zentralen Handlungsortes lotet Sarah Michaela Orlovský in ihrem ersten Jugendroman den Begriff „Normalität“ neu aus: Für die einen ist ein Waisenheim für sogenannte behinderte Kinder etwas besonders, etwas, mit dem man „normalerweise“ nicht konfrontiert ist. Für die anderen ist diese Situation schlichte Lebensrealität – etwa für den jugendlichen Hovanes, den Ich-Erzähler, der ganz unmittelbar von seinen entschleunigten Sommerferien erzählt: von seiner Arbeit im Garten, den Schwestern und Kindern im Haus, seiner heimlichen Liebe zu einem Mädchen von draußen und schließlich von Anas Recherchen, die vieles aufwühlen… Als reflektierter Erzähler gewährt Hovanes Einblicke in seine jugendliche Gefühlswelt. Er trägt schwer am Bewusstsein „anders“ zu sein, sein Wunsch nach Selbstbestimmung ist im Waisenheim schwer zu verwirklichen. So liebevoll die Stimmung gezeichnet ist, so schwer ist das ständige Zusammensein mit jüngeren Kindern für einen adoleszenten Jungen bisweilen zu ertragen. „Das Haus gehört allen, der Garten gehört allen, wir essen und beten und atmen zusammen.“ Trotz dieses hermetischen Schauplatzes gelingt es der Autorin, Diversität zu transportieren und das Heim als komplexes Kollektiv zu gestalten. Dabei charakterisiert sie die Figuren ohne oberflächliche Zuschreibungen und verweigert sich einer eindeutigen Einordnung ihrer Behinderungen. Im Text bildet sich nicht nur das große Einfühlungsvermögen der Autorin ab, sondern auch ihr humanitäres Engagement und ihre Arbeit mit jungen Menschen in verschiedensten Kontexten. Die dramaturgische Konzeption des Romans steht der psychologischen Stimmigkeit dabei um nichts nach: Neben Hovanes Ich-Erzählung und der Innensicht Anas gibt es noch eine dritte Erzählinstanz, die erahnen lässt, dass Hovanes Konflikte mit anderen und letztlich sich selbst in einem gefährlichen Ereignis münden… Vom überraschenden Ende her, das alle Spannungsbögen löst, liest sich der Roman, vor allem aber Hovanes noch einmal anders. Und die im Kontext von Jugendliteratur oft bemühte Aussage, dass „Jugendlichen eine Stimme gegeben wird“ bekommt ganz neue Relevanz.
Christina Ulm
Buchtipp in DIE FURCHE 14/4. April 2013
Heinz Janisch / Hannes Binder:
Ich ging in Schuhen aus Gras.
Zürich: atlantis 2013,
32 S., 14, 95 Euro
Fremd und doch daheim
Schabkartonbilder sind das Markenzeichen des Schweizer Illustrators Hannes Binder – mit ihren effektvollen Schwarz-Weiß-Kontrasten hat er sie unter anderem zur Bebilderung von so unterschiedlichen Stoffen wie den Roman „Die Schwarzen Brüder“ von Lisa Tetzner, Eduard Mörikes Gedicht „Um Mitternacht“ oder zuletzt die Graphic Novel-Biographie des italienischen Art Brut-Künstlers Antonio Ligabue eingesetzt. Nun widmet er sich erstmals einem Text von Heinz Janisch, einer der produktivsten österreichischen Autoren für Kinder, ausgezeichnet unter anderem mit dem Österreichischen Staatspreis für Kinderlyrik und dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis. In seinem Gedicht „Ich ging in Schuhen aus Gras“, das dem Bilderbuch in voller Länge vorangestellt ist, unternimmt das kindliche Lyrische Ich eine Reise in eine fremde Welt der Phantasie, die schließlich ins Zuhause zurückführt. „,Wo du nur immer herumläufst‘, sagte die Frau, die meine Mutter war. ,Schön, dass du wieder da bist‘, sagte der Mann, der mein Vater war.“ Zu jeder mit weißer Schrift auf schwarzem Untergrund gesetzten Gedichtzeile zeigt Binder ein Einzelbild, meist im gewohnten Schwarz-weiß, einzelne Details sind zurückhaltend koloriert und erhalten so eine besondere Wirkung. Die von ihm gewählten Sujets sind ein gelungenes Beispiel dafür, wie gerade die Illustration von Lyrik sowohl nah am Text bleibt als auch weit darüber hinausgeht, etwa wenn die im Text angesprochene fremde Stadt aus Stein mit simplen Steinquadern dargestellt wird. Fremd und doch daheim, dunkel und doch hell, Wirklichkeit und doch Realität – zwei Meister ihres Fachs haben sich hier zu einem Bilderbuch der ganz besonderen Art zusammengefunden.
Kathrin Wexberg
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