Lektorix des Monats Februar 2013
ICraig Silvey: Wer hat Angst vor Jasper Jones? Übersetzt v. Bettina Münch.
Rowohlt 2012.
432 S., € 17,50.
Ausgrenzungen, Agressionen
Am Anfang war das Wort. Das ausgesprochene, viel mehr aber noch das unausgesprochene Wort bestimmen die Dramaturgie eines Jugendromans, der in der fiktiven australischen Kleinstadt Corrigan im Jahr 1965 angesiedelt ist. Am Beginn wird das Wort an den Ich-Erzähler Charlie gerichtet und es ist ein Hilfeschrei, an den sich eine Vielzahl solcher in Worten, Gesten oder Taten formulierte Hilfeschreie anschließen sollen. Der missliebige Außenseiter Jasper Jones taucht eines Nachts vor Charlies Fenster auf und führt ihn zu einem Geheimplatz im Busch. Das Bild des Grauens, das sich Charlie dort bietet, bestimmt das Faszinosum ebenso wie den weiteren Verlauf des Erzählten: Alles dreht sich um Laura Wishart, doch weniger die Klärung dessen, was mit dem Mädchen passiert ist, als vielmehr Charlies Involviert-Sein darin prägt den Grundtenor des Romans. Denn Charlie begegnet dem sozialen Miteinander in der Kleinstadt mit mehr Misstrauen, aber auch mit größerer Aufmerksamkeit. Kaum zu verbergende Geheimnisse und das Flüstern der Vergangenheit übersäen Corrigan, wie Craig Silvey selbst es in einem Interview formuliert. Familiäre Scheinwelten, Animositäten und Mechanismen der Ausgrenzung, aufkeimende Aggressionen über Australiens Rolle im Vietnamkrieg – das alles überträgt sich auf den Mikrokosmos eines Provinznestes, in dem die Figuren zunehmend gefangen scheinen. Die Beengtheit gleicht einem Cricketfeld, auf dem der Handlungsspielraum durch den Variantenreichtum der Möglichkeiten entsteht, den Ball zu schlagen. Während Charlies bester Freund Jeffrey diese Schläge beherrscht (aber auf Grund seiner vietnamesischen Herkunft dennoch an den sozialen Rand gestellt ist), liegt Charlies Potential in der Sprache und in seinem Interesse an Literatur. Sie öffnet ihm den Horizont, sie ermöglicht es ihm, das provinzielle Geschehen an die grundsätzlichen Fragen der menschlichen Existenz ebenso anzubinden wie an historische Entwicklungen. Zur seiner literarischen Leitfigur wird Atticus Finch. An dessen moralischen Grundsätzen versucht Charlie sein Handeln auszurichten, als seine aufkeimenden Gefühle für Eliza Wishart seine Loyalität zu Jasper Jones auf die Probe stellen. Denn nur er und Jasper Jones wissen, dass Laura Wishart, die als vermisst gilt, bereits tot ist. Hineingestellt in anglo-amerikanische Erzähltraditionen gelingt es Craig Silvey, mit seiner besonderen Gabe des geschliffenen Dialogs, eine jugendliche Perspektive zu nutzen, um ein komplexes Sittenbild zu zeichnen und dabei eine äußerst spannende Geschichte zu erzählen.
Heidi Lexe
Buchtipp in DIE FURCHE 6/7. Februar 2013
Als die Häuser heimwärts schwebten...
Erzählbilder von Einar Turkowski.
München: mixtvision 2012
16,90 Euro
Geschichte selbst erzählen
Surreal, detailverliebt und stets ausschließlich in Schwarz-Weiß gehalten, so sind die Bildwelten des Ausnahmekünstlers Einar Turkowski, die er mit unglaublicher Akribie gestaltet. Während das farb- und materialreiche Stilmittel der Collage im zeitgenössischen Bilderbuch eine ungebrochen große Rolle spielt, zeichnet er mit einer gänzlich anders gearteten Technik: Verwendet werden ausschließlich TK-Minen-Bleistifte mit Minen des Härtegrades HB, rund 400 solcher Minen verbraucht er für ein Buch. Standen bislang von ihm selbst erdachte, schräge Geschichten im Mittelpunkt seiner Bücher, zeichnet er nun für den zweiten Band der Reihe "Erzählbilder" des mixtvision-Verlags verantwortlich: Bilder also, die die Betrachter*innen dazu anregen, selbst Geschichten zu erfinden, miteinander ins Gespräch zu kommen, Fragen zu stellen, Ideen zu spinnen. Konkrete Hinweise, wie so ein Gespräch verlaufen kann, gibt die Kinderphilosophin Kristina Calvert in ihrem Nachwort. Auf Text wird bei diesen Erzählbildern nicht gänzlich verzichtet, unter jeder Doppelseite steht ein Gegensatzpaar: Von "Einer-viele" über "Lärm-Stille" bis zu "Vergangenheit-Zukunft" reicht die Bandbreite. Doch was diese Gegensatzpaare tatsächlich mit den Bilder zu tun haben, führt bereits mitten hinein ins Erzählen. Denn welches der beim Bild "Ordnung-Unordnung" dargestellten Häuser ist wohl ordentlich, welches unordentlich? Warum sind manche davon bewacht, andere nicht? Wer ist Kamilla, das Nashorn, und was hat es mit dem starken Bären Max auf sich? Ist Ruhe wirklich das Gegenteil von Ungeduld? Und wie hört sich wohl der Lärm an, der von kuriosen Vögeln in einer kargen Felsenlandschaft gemacht wird?
Kathrin Wexberg
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