Lektorix des Monats Dezember 2006
Valérie Zenatti: Leihst du mir deinen Blick?
Dressler 2006
Hoffnung
… und Friede den Menschen auf Erden! Wie viel Hoffnung rankt sich seither um diesen Wunsch. Wie viel Enttäuschung. Aber zu oft enttäuschte Hoffnung verbraucht sich und verliert ihre Kraft, die zum Überwinden von Grenzen Voraussetzung ist.
„Leihst du mir deinen Blick?“ Wo Menschen zweier Kulturen einander seit Generationen zu Feinden erklären, verschwindet das Wissen um die Nöte und die Freuden des jeweils anderen. Und doch braucht es ein Stück unverbrauchter Naivität, um das Naheliegende zu tun: Kontakt aufzunehmen, ins Gespräch zu kommen. Die 17-jährige Tal aus Jerusalem unterläuft mit der altmodischen Idee einer Flaschenpost die Absperrungen nach Gaza. Doch ihr Aufruf zur Email-Freundschaft mit einem gleichaltrigen Mädchen irgendwo im Gaza-Streifen ist allein schon Ausweis ihrer völligen Unwissenheit über die dortigen Verhältnisse. Schließlich ist es ein zwanzigjähriger „Gazaman“, der ihr in einem kotzgroben Mail Bescheid stößt: Was sie auf die Idee bringe, dass man in seinem Land die Sprache des Feindes lerne. Und Zugang zum Internet habe. Und Lust, seinen Hass zu überwinden, wo doch alle Hoffnung auf ein Leben in Freiheit tagtäglich von den Israelis zerstört werde. Tal lässt sich nicht beirren, schreibt von ihren Lebensgewohnheiten, ihren Träumen. Sie spricht auch von ihrer seelischen Zerrissenheit nach einem Selbstmordattentat in ihrer unmittelbaren Nähe. Sie leidet aber auch mit angesichts einer „Strafaktion“ des israelischen Militärs gegen die Palästinenser - „Uns gibt es bei euch nur im Plural!“ klagt Gazaman an und beginnt seinerseits, die Katastrophe seiner Lebensumstände in Worte zu fassen, Individualität zu zeigen und als Naïm für Tal zu einem konkreten DU zu werden. Valérie Zenatti, geboren in Nizza, übersiedelte als 13-Jährige nach Israel, schrieb ein viel beachtetes Buch über ihren dortigen Militärdienst. Das vorliegende Jugendbuch zeichnet sich durch die hohe Authentizität und sprachliche Präzision seiner Autorin ebenso aus wie durch ihren Mut zu einem gewissen Maß Kitsch, der den Traum einer solchen Begegnung über die Grenzen hinweg fiktionale Realität werden lässt.
Inge Cevela
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