Lektorix in der Furche für die Jahre 2005 - 2006
Lektorix
des Monats Dezember 2006
Valérie Zenatti: Leihst du mir deinen Blick?
Dressler 2006
Hoffnung
… und Friede den Menschen auf Erden! Wie viel Hoffnung rankt sich seither um diesen Wunsch. Wie viel Enttäuschung. Aber zu oft enttäuschte Hoffnung verbraucht sich und verliert ihre Kraft, die zum Überwinden von Grenzen Voraussetzung ist.
„Leihst du mir deinen Blick?“ Wo Menschen zweier Kulturen einander seit Generationen zu Feinden erklären, verschwindet das Wissen um die Nöte und die Freuden des jeweils anderen. Und doch braucht es ein Stück unverbrauchter Naivität, um das Naheliegende zu tun: Kontakt aufzunehmen, ins Gespräch zu kommen. Die 17-jährige Tal aus Jerusalem unterläuft mit der altmodischen Idee einer Flaschenpost die Absperrungen nach Gaza. Doch ihr Aufruf zur Email-Freundschaft mit einem gleichaltrigen Mädchen irgendwo im Gaza-Streifen ist allein schon Ausweis ihrer völligen Unwissenheit über die dortigen Verhältnisse. Schließlich ist es ein zwanzigjähriger „Gazaman“, der ihr in einem kotzgroben Mail Bescheid stößt: Was sie auf die Idee bringe, dass man in seinem Land die Sprache des Feindes lerne. Und Zugang zum Internet habe. Und Lust, seinen Hass zu überwinden, wo doch alle Hoffnung auf ein Leben in Freiheit tagtäglich von den Israelis zerstört werde. Tal lässt sich nicht beirren, schreibt von ihren Lebensgewohnheiten, ihren Träumen. Sie spricht auch von ihrer seelischen Zerrissenheit nach einem Selbstmordattentat in ihrer unmittelbaren Nähe. Sie leidet aber auch mit angesichts einer „Strafaktion“ des israelischen Militärs gegen die Palästinenser - „Uns gibt es bei euch nur im Plural!“ klagt Gazaman an und beginnt seinerseits, die Katastrophe seiner Lebensumstände in Worte zu fassen, Individualität zu zeigen und als Naïm für Tal zu einem konkreten DU zu werden. Valérie Zenatti, geboren in Nizza, übersiedelte als 13-Jährige nach Israel, schrieb ein viel beachtetes Buch über ihren dortigen Militärdienst. Das vorliegende Jugendbuch zeichnet sich durch die hohe Authentizität und sprachliche Präzision seiner Autorin ebenso aus wie durch ihren Mut zu einem gewissen Maß Kitsch, der den Traum einer solchen Begegnung über die Grenzen hinweg fiktionale Realität werden lässt.
Inge Cevela
Lektorix
des Monats Oktober 2006
Faïza Guène:
Paradiesische Aussichten.
Aus dem Französichen
von Anja Nattefort.
Hamburg: Carlsen 2006.
Aussichten
Schlechte Zukunftsaussichten: Das waren im vergangenen Jahr die Hauptgründe für die anhaltenden und verheerenden Ausschreitungen in den Pariser Vororten. Die Bilder davon sind bis in unsere Wohnzimmer gelangt, manche recherchierten Schicksale bis in unsere Köpfe. Und noch viel näher wollen wir das alles auch nicht mehr lassen. Jetzt, wo die Banlieues und ihre sozialen Brennpunkte ohnehin wieder aus den Schlagzeilen sind.
Was Faïza Guène zu erzählen hat, hört sich auch ganz anders an: Paradiesische Aussichten – wie der Titel vorgibt - hat ihre Heldin als Bewohnerin des „Paradis du Cité“ genannten Vorortes von Paris auch nicht gerade. Die 15-jährige Doria vermag allerdings mit sehr viel Wortwitz über ihre Umgebung zu erzählen, über die Eigenheiten der Bewohner*innen, deren kleine Glücksmomente und Verfehlungen. Nach der Lektüre dieser pubertär-coolen, völlig ohne Selbstmitleid geschriebenen Ich-Erzählung hat der Begriff „Migranten-Hintergrund“ eine unerwartet neue Färbung, klingt anders als jeder politisch korrekt formulierte Zeitungsbericht oder der das Fremde ins Auge fassende Sozialbericht. Dorias Alltag ist geprägt von einer patriarchal muslimischen Gesellschaft und den Konsequenzen, die sich für sie und ihre allein erziehende und analphabetische Mutter daraus ergeben. Dorias Weltsicht hingegen ist geprägt von Werbung und Fernsehen, ihre Vorbilder sind Serienhelden, ihre Sehnsüchte passen zur Zahnpasta-Werbung. Ironie und Witz entstehen in der Kluft zwischen diesen beschriebenen Welten, die Bilder über Armut und soziale Not sind ohne Wehleidigkeit aber mit Gespür für damit verbundene Verletzlichkeiten gezeichnet. Medial entlehnte Leichtigkeit ergeben gemeinsam mit der Ernsthaftigkeit des Dargestellten ein sehr modernes, literarisch überzeugendes Porträt einer jungen Frau auf der Suche nach ihrem eigenen Weg.
Inge Cevela
Lektorix
des Monats August 2006
Katy Couprie /Antonin Louchard:
Die ganze Kunst.
Gerstenberg 2006,
256 S., € 15,90
Keine Kunst
Die Kunst sei ein Weg zur Lüge. Und also abzulehnen, da sie nicht dem Finden der Wahrheit diene, meinte Platon. Moderne Museumspädagogik hingegen verweist darauf, dass sich gerade beim Betrachten von Kunst durch das Anbinden an eigene Erfahrungen innere Wahrheit erschließen kann. Während viele Bücher – auch Kinderbücher – sich eifrig darum bemühen, solchen Zugang zu öffnen, ebnen sie meist bloß/immerhin den Weg zu besserer Bildung: Nicht minder als das Museum selbst suchen sie, Epochen aneinander zu reihen, Künstler und ihre Kunstwerke nach Kategorien geordnet zu präsentieren, ihre Stilrichtungen anschaulich und pädagogisch sinnvoll aufzubereiten.
Aber erst der kreative Umgang mit Kunst kann den entscheidenden Schritt im Bewusstsein des Einzelnen vorantreiben, erst der Spieltrieb vermag nach Schillers Auffassung zu vereinen, was unvereinbar schien: Der Mensch „ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“.
Katy Couprie und Antonin Louchard haben bereits vorgeführt, wie sich „Die ganze Welt“ in Bildern, Arrangements, Fotografien und vielem mehr mit spielerischer Leichtigkeit einfangen lässt (Deutscher Jugendliteraturpreis 2002). Auch diesmal haben sie das ungewöhnliche Format von 15 cm im Quadrat darauf verwendet, um nichts weniger als „Die ganze Kunst“ vorzuführen: Indem die Beiden sich der Kunstwerke des Louvre spielerisch „bemächtigten“, führen sie gleichermaßen durchs Museum wie sie auch den Kunstbetrieb aufs Korn und die Frage „Was ist eigentlich Kunst?“ in ihren Diskurs nehmen. Freimütig wird auf zirka 200 Seiten Kunst und Alltag gemischt, werden persönliche Bezüge, überraschende Assoziationen hergestellt und thematische oder motivische Ketten gebildet. Reproduzierte Kunst - beispielsweise wird Fragonards „Der Riegel“ von 1784 in Form eines Schlüsselanhängers außerhalb der musealen Umgebung im neuen banalen Zusammenhang an einem Schlüsselbund baumelnd gezeigt – wird neuerlich zu Kunst stilisiert. Respekt- aber keinesfalls lieblos sind die Bildfolgen, wenn einem in Öl auf Leinwand gemalten Akt von Ingres auf der nächsten Doppelseite ein männlicher Akt folgt, diesmal allerdings ein Jüngling, gestickt im Kreuzerlstich. Und das Lächeln der Mona Lisa darf natürlich auch nicht fehlen! Ohne Worte stellt dieses Bilderbuch zum Gebrauch der ganzen Familie einen der besten Beiträge zum Umgang mit Kunst dar.
Inge Cevela
Lektorix
des Monats Juni 2006
Antonis Michaelis: Tigermond
Loewe 2006,
364 Seiten
1000 + 1
Scheherazade hatte unbestreitbar einen guten Grund für ihr rekordverdächtiges Dauererzählen: Immerhin erzählte sie um ihr Leben. Und gewann. Und dafür erhielt nicht nur sie ihre Begnadigung sondern die Menschheit einen unermesslichen Märchenschatz und Einblick in den persischen Kulturraum.
Auch die wunderschöne Safia mit den türkisfarbenen Augen erzählt – wenn auch wesentlich indirekter - um nichts weniger als ihr Leben. Denn in der Hochzeitsnacht wird ihr Betrug auffliegen. Nur eine kurze Spanne Zeit bleibt ihr noch, um ihre Flucht vorzubereiten. „Geschichten sind ausgezeichnete Fluchtwege“, sagt sie. Und beginnt, dem hübschen jungen Eunuchen eine Geschichte zu erzählen von Ravana, einer irdischen Tochter des Gottes Krishna, die vom Dämonenfürsten als Frau begehrt und entführt wird. Doch ehe bei Vollmond die Hochzeit vollzogen würde, will Krishna selbst einen Helden erwählen zur Rettung seiner schönen Tochter. Die Wahl fällt auf Farhad, einen kleinen unbedeutenden Dieb, der nur sich selbst zu Gefallen ist. Doch ausgerechnet ihn schickt die eigenwillige Erzählerin auf den weiten Weg durch das Indien des 19. Jahrhunderts. In der bunten und schillernden Vielfalt dieser Welt treffen alte Traditionen und moderne westlich-britische Einflussnahme aufeinander, während inmitten von Islam und Buddhismus es die reichgestaltige Götterwelt des Hinduismus ist, die den Grundton für den farbenprächtigen Erzählteppich der jungen deutschen Autorin bildet. Mit enormer Lust am Erzählen verbindet sie die Eindrücke ihres einjährigen Aufenthaltes in Südindien mit Anleihen bei den großen Mythen Ramayana und Mahabharata. Dabei legt sie allerdings mit der Wahl ihrer unheldischen Hauptfiguren einen wohltuenden, leise ironischen Abstand zu deren Pathos. Augenzwinkernd lässt sie den Verwandlungskünstler Farhad in einer Welt, in der zwischen dem Willen der Götter und der Gesetzgebung der Briten alles möglich ist, seine phantastischen Abenteuer bestehen. Sein Weg führt ihn durch den Wind, durch das Wasser und durch das Feuer, ganz wie es ihm prophezeit ist. Und im allerletzten Augenblick bis vor die Prinzessin. Aber da beginnen Wirklichkeit und Fiktion der Erzählerin selbst ineinander zu greifen. Und weder Jungfrauen noch Helden noch Eunuchen sind immer nur das, was sie scheinen.
Inge Cevela
Lektorix
des Monats April 2006
Guus Kuijer: Das Buch
von allen Dingen
Aus dem Niederländischen
von Sylke Hachmeister.
Hamburg: Oetinger 2006
Später
„Was willst du denn später einmal werden?“ Gibt es diese Standardfrage von Erwachsenen an Kinder noch? Und wollen heutige Kids – gendermäßig völlig inkorrekt - noch immer Lokomotivführer, Pilot, Tierärztin und Friseurin werden? Thomas antwortet auf die Frage: „Ich will später einmal glücklich werden.“
Später. Denn jetzt mit seinen neun Jahren in einem nieder-ländischen Ort im Sommer des Jahres 1951 ist er keineswegs glücklich. Obwohl er fürs Glücklichsein die besten Anlagen besitzt, denn er ist ein sensibler, aufgeweckter Junge, der Dinge sieht, die andere nicht sehen können, der ein Gefühl für Schönheit hat, wo andere nur das Hässliche sehen: Bei Elisa zum Beispiel, die ein knirschendes Lederbein tragen muss und an der einen Hand nur noch den kleinen Finger hat. Oder auch bei Frau Van Amersfoort, die alle eine Hexe nennen, die für Thomas aber zu einer wichtigen Helferin wird: „Weißt du, womit das Glück anfängt? Damit, dass man keine Angst mehr hat.“
Angst hat Thomas vor allem vor seinem strengen und streng-gläubigen Vater und vor den Schlägen, die ihn gottesfürchtig machen und auf den rechten Weg bringen sollen. Aber anstatt den Glauben einzubläuen, prügelt der Vater seinem Sohn den Glauben an einen guten Vater im Himmel aus dem Leib. Ab da schaut ab und zu Jesus selbst beim phantasiebegabten Thomas vorbei, tröstet ihn, hört ihm zu, redet mit ihm – sozusagen von Sohn zu Sohn, bestätigt ihn in seinem Lebensmut und seiner Lebensfreude, in seiner Fähigkeit zu lieben. Frau Van Amersfoort beeindruckt ihn mit ihrem couragierten Auftreten (auch gegenüber seinem Vater), sie gibt ihm Bücher und weckt damit seine Sehnsucht nach Veränderung und den Mut, für sich einzustehen. Und weil die Angst weniger wird, beginnen all die Dinge sich zu verändern…
Erzählt in einer Sprache, in der Worte und Stil der Bibel sich unerwartet und innovativ und nicht immer ganz korrekt in die Gedanken- und Alltagswelt eines Jungen der 1950er Jahre mischen, ist eine kindlich berührende, heitere und sehr theologische Geschichte entstanden. Auch eine um Auferstehung und Erlösung.
Inge Cevela
Lektorix
des Monats Februar 2006
Heinz Janisch / Aljoscha Blau: Rote Wangen
Ill. Aljoscha Blau.
Aufbau Verlag 2005
Rote Wangen vom Zuhören
Sie kennen die Werbung von dem berühmten Fruchtsaft, der zwar
gut verschließbar aber auch so süß ist, dass schon
kleinste Mengen vom Bären gewittert werden? Sie können
das fast nicht glauben? Aber als Großvater noch ein kleiner
Junge war, da hat er einmal einen so süßen Honigkuchen
gegessen, dass ihm eine Biene überall hin gefolgt ist
sogar aufs Klo! Dieser Großvater, von dem Heinz Janisch oft
und gern und sehr berührend erzählt, hat auch einmal eine
Schublade mit Wasser gefüllt, spiegelglatt und wunderschön
hat das ausgesehen. Oder beim Fußballspielen den Ball so hoch
in die Wolken geschossen, dass es ganz stark zu regnen angefangen
hat. Mit blauer Tinte und auf liniertem Papier mit roten Korrekturrandlinien
werden die Episoden vom Enkel in schöner Schul-Druckschrift
festgehalten: So werden - mit einigen wenigen Tintenklecksen und
kleinen Skizzen - Großvaters Geschichten von früher auf
den linken Seiten nacherzählt, während die Buchseiten
daneben in großzügigen Bildern die Atmosphäre vergangener
Tage spiegeln und den besonderen und erzählenswerten Momenten
eines Lebens nachgehen. In teils gedämpften Sepia-Farben spielen
Licht und Schatten ihre geheimnisvolle Rolle. Die Darstellungen
des Alltags erhalten unter dem Blick des Jungen ihre besonderen
Glanzlichter. Die Lust an Übertreibungen und Absurditäten
wird von Aljoscha Blau durch aufmerksam gewählte Details witzig
ins Bild gesetzt. Dieser Großvater ist ein wirklich leidenschaftlicher
Geschichtenerzähler, der sich das Gefühl für Pointen
bewahrt hat und für die besondere Sichtweise auf die Welt und
die Menschen. Und ein Gefühl für das Staunen. Und auch
die Liebe, deretwegen er einfach rasch eine Brücke baut, um
dem netten Mädchen dort ein Bonbon anzubieten: Heute
ist Lili meine Oma, erzählt der mit Begeisterung und
roten Wangen lauschende Enkel weiter. Und dass der Großvater
einmal sehr krank geworden ist und in seinem Bett eine Weltreise
unternommen hat. Seither wird er allerdings langsam durchsichtig,
was der guten Beziehung zwischen den beiden aber keinen Abbruch
tut, sondern nur neue Ideen und Streiche entlockt. Obwohl die anderen
längst sagen: Großvater? Ach, der ist doch schon
vor einem Jahr gestorben!
Ein wunderschönes Buch zum Vorlesen und eigenem Erinnern.
Inge Cevela
Übrigens ist dieses Buch anlässlich der Buchmesse in Bologna soeben mit dem Bologna Ragazzi Award im Bereich Fiction ausgezeichnet worden! Mehr dazu
Lektorix
des Monats Dezember 2005
Geraldine McCaughrean: Nicht das Ende der Welt
Aus dem Englischen von Stephanie Menge.
München: Nagel & Kimche 2005,
198 S., € 15,40.
Two by Two?
In zahllosen Beispielen haben Künstler*innen den paarweisen Einzug der Tiere in die Arche gar lieblich anzuschauen - inszeniert. Dabei sind sie der Versuchung erlegen, einer Symbolgeschichte wie der von der Errettung Noahs in Bildern und Texten realistische Details abzutrotzen. Auch McCaughrean stellt sich dem Thema mit dem Versuch, hinter die Kulissen zu schauen: War das wirklich Gottes Wille? Oder könnte Noah und seinen Söhnen in der Dynamik des grausigen Geschehens die eigene Bedeutung zu Kopf gestiegen sein?
Hintergründig, provokant und mit erzählerischer Spannung entwirft die Autorin die Geschichte aus der Perspektive von Noahs fiktiver Tochter Timna. Der Handlungsbogen spannt sich von den ersten Regentropfen bis zum Augenblick, da sich der große Regenbogen des Bundes und der Versöhnung über den Himmel spannt. Im Wechsel von Vernichtung und Offenbarung, von Freund- und Feindschaft unter den Überlebenden, von der Enge auf dem Schiff und der Endlosigkeit des Wassers, von Hoffen auf den Neuanfang und Streit und Tod unter Mensch und Tier erzählen verschiedene Stimmen der Geretteten über den schmalen Grat hin zu Selbstgerechtigkeit und Unbarmherzigkeit.
Es sind nicht die biblischen Fragen der Genesis-Erzählung sondern die Fragen des modernen Menschen unserer Zeit, die diese Erzählung vorantreiben: Wo ist Gott angesichts der Katastrophe? Provokant und erzählerisch gekonnt webt McCaughrean viele kleine Antwortmöglichkeiten vom unergründlichen Wirken Gottes in den Handlungsfaden ein und unterminiert gleichzeitig jede fundamentalistisch und auf Gehorsam ausgerichtete und verordnete Religion, mit der Menschen sich selbst erhöhen. Das mit einem der bedeutendsten britischen Jugendbuchpreise ausgezeichnete Buch ist ein hervorragender Gesprächsanlass für Jugendliche ab 15 Jahren: Über biblische Textgrundlagen ebenso wie über Glaubenszweifel oder ein vordergründig rasches Gottesverständnis. McCaughreans versöhnlicher Schluss verweist auf den Titel: Noch haben die Menschen eine Chance, noch ist nicht das Ende der Welt
Inge Cevela
Lektorix
des Monats Oktober 2005
Els Beerten: Lauf um dein Leben.
Aus dem Niederländ. von Rolf Erdorf.
Düsseldorf: Sauerländer 2005.
248 Seiten, € 14,90
Marathon
Zahlen fungieren als Kapitelüberschriften: 42195 lautet die erste. Dann wird herunter gezählt. Wie in Meilensteinen? Einmal in größeren Abständen, dann in kleineren -
595 und zuletzt auf Null. 42195 Meter - das entspricht der Distanz von Marathon nach Athen. Jene schier mörderische Distanz, die in Erinnerung an den Überbringer der Siegesbotschaft auf der ganzen Welt gelaufen wird, am definitiven Limit menschlicher Möglichkeiten. Auch die 18-jährige Noor gehört zu den Menschen, die gegen die Usancen ihrer Zeit als eine der ersten Frauen diesen langen Atem haben wollen, die den Marathon laufen, "um gerade eben nicht zu sterben." Während Noor die Stationen dieser Hölle abspult, die körperlichen Hoch- und Tiefpunkte durchlebt, kreisen auch ihre Gedanken. Nicht chronologisch sondern in spannungsvollem Wechsel blitzen in rascher Folge Erinnerungsfetzen aus Kindheit und Kinderspiel auf, die Beziehung zu ihrer besten Freundin Rosie und zum dicken Nachbarmädchen Linda. Ihre erste Liebe. Erzählt wird rhythmisch, in knappen, oft unvollständigen elliptischen Sätzen. Sportliche Siege und Rückschläge, das Lauftraining und ihre sportliche Karriere werden eingeflochten, zugeschnitten aufs Noors Erzählperspektive. Auf all dem liegt ein spürbarer Druck, das Gefühl laufen zu müssen, um sich selbst zu retten. Ein Schatten, der seit dem tödlichen Unfall von Linda die Freundinnen Noor und Rosie nicht loslässt. Davonlaufen geht nicht. Aber im Laufen kann Noor die Stärke und den Mut gewinnen, sich mit der Vergangenheit zu konfrontieren, eigene und fremde Schuld zu reflektieren: "Gewinnen ist viel mehr als am Ende die Erste zu sein."
Spannung und Tiefgang in atemberaubender Weise erzählt für junge Leser*innen ab 13 Jahren.
Inge Cevela
Lektorix
des Monats August 2005
Christine Schulz-Reiss
Nachgefragt: Philosophie.
Basiswissen zum Mitreden.
Loewe 2005.
143 Seiten.
Freunde der Weisheit
Kürzlich ist die "Kinder-Uni" mit Erfolg und neuen Bestquoten zu Ende gegangen und erweist sich einmal mehr und nach wie vor als Trend: Warum ist der Himmel blau? Warum wachsen Pflanzen? Warum bin ich Ich? Universitätsprofessor*innen erklären Kindern ihre Forschungsgebiete - die philosophische Lust am Nachdenken und Wissenwollen und Fragenstellen steht Patin.
Seit Jostein Gaarders "Sophies Welt" besteht ja dieses absolute Vertrauen in die Möglichkeit, dass Philosophie einfach und unterhaltsam erklärt werden könne. Und obwohl seit einiger Zeit behauptet wird, Kinder seien ohnehin die besseren Philosophen, plagen sich dennoch immer mehr Erwachsene, Philosophie und ihre Geschichte in harmlos aussehende Bücher zu verpacken. Mit sehr unterschiedlichem Erfolg.
Komplexe und komplizierte Sachverhalte und Denkmodelle auf gut 140 Seiten zusammenzufügen und zu erklären, wie Christine Schulz-Reiss dies hier versucht hat, braucht viel Mut zur Lücke und einen fast schon fatalistischen Glauben an die Didaktisierbarkeit des Gegenstandes: Von Sokrates bis Kant und Heidegger, von Platon bis Thomas Morus und Karl Marx, von Augustinus bis Thomas von Aquin. Das Besondere in diesem Buch: Auch Hypatia von Alexandria, Hildegard von Bingen, Mechtild von Magedburg, Hannah Arendt und Simone de Beauvoir finden ausdrückliche Berücksichtigung für ihre Beiträge zum sonst sehr männlich dominierten Metier. Und eine weitere Besonderheit: Selbstverständlich mit eingeflochten in alles Nachdenken durch die Jahrhunderte hindurch ist die Frage nach Gott und das sich verändernde Verhältnis von Philosophie, Glauben und Kirche. Beeindruckend ist auch das Bemühen der Autorin, die nicht chronologisch sondern thematisch aufgebauten kurzen Kapitel jeweils mit einer knappen Einleitung zu versehen. In so einem Vorspann wird der/die jugendliche Leser/in direkt angesprochen, ein möglicher Bezug zum eigenen Leben, der eigenen Lebenserfahrung wird hergestellt und so gewissermaßen das sokratische Prinzip befördert: Fragen stellen, selber nachdenken und darüber mit anderen ins Gespräch kommen - ein ideales Familienbuch und für Menschen, die sich gern den Kopf zerbrechen.
Inge Cevela
Lektorix
des Monats Juni 2005
Lian Hearn: Der Clan der Otori
Bd. 1: Das Schwert der Stille. 375 Seiten, geb, € 18,50;
Bd. 2: Der Pfad im Schnee. 397 Seiten, geb., € 18,50;
Bd. 3: Der Glanz des Mondes. 496 Seiten, geb., € 20,10.
Alle: Carlsen Verlag,
Hamburg 2003-2005.
Vor Gott alle gleich
Grandiose Schlachtenszenen und Kampfduelle, beinahe tänzerisch vorgetragen und choreografiert in Super-Slowmotion. Mit höchster Performance und unter Einsatz modernster Technologie kämpfen edle Helden auf Celluloid für das Gute: die asiatischen Kampftechniken der "martial arts" sind zur Kino-Erfolgsgarantie geworden. Was unter Verlust von Inhalten auf Kinolänge zusammen geschnitten wird, findet in Lian Hearns Trilogie vom "Clan der Otori" auf über 1000 Seiten im Kopf der Leser*innen statt.
In eindringlichen Bildern erzählt die Autorin über drei in Fehden miteinander verstrickte Clans an der Wende zur modernen Zeit. Ohne sich an konkrete historische Orte oder Ereignisse zu halten, entfaltet sie Landschaft, Kultur und Sitten, Religion und Glauben, strenge Hierarchie und Kastendenken, um dieser farbenprächtigen Kulisse eine spannende Handlung mit großartigen Helden und einer vieldeutigen Prophezeiung einzuschreiben.
Dreierlei Blut mischt sich in den Adern des jungen Takeo, der bei den "Verborgenen" aufgewachsen ist, mit der Lehre von einem geheimen Gott, vor dem alle gleich sind. Wie sehr diese Lehre die gesellschaftlich gültigen Grundwerte in Frage stellt, erkennt er, als er in den Clan der Otori adoptiert wird und deren Erziehung zum Krieger erfährt. Aber da ist auch noch sein väterliches Erbe, demzufolge er über die außerordentlichen Fähigkeiten des "Stammes" verfügt. Seine persönliche Zerrissenheit und sein Bemühen um Loyalität, sein starker Wille und ausgeprägter Gerechtigkeitssinn lassen ihn zum Hoffnungsträger der zermürbten Menschen werden.
Lian Hearn erzählt mit großem Wissen und hervorragendem Gespür für differenzierte Figurengestaltung: Während Takeo seinen schwierigen Weg in Ich-Form wiedergibt, gehören die dazwischengeschobenen auktorialen Erzählteile dem außergewöhnlichen Mädchen Kaede und ihrem Schicksal einer hochrangigen aber dabei weitgehend unfreien Frau. Hearn erzählt für Jugendliche in farbenprächtigen Bildern, in denen weder Grausamkeiten ausgespart noch die Geheimnisse der Liebe verschwiegen werden.
Inge Cevela
Lektorix
des Monats April 2005
Hans Christian Andersen / Lisbeth Zwerger: Die kleine Meerjungfrau.
michael neugebauer edition 2004.
€ 14,90.
Endlos traurig
Es ist wohl eines der traurigsten Märchen überhaupt: Die Geschichte der kleinen Meerjungfrau, die sich nichts sehnlicher wünscht als eine unsterbliche Seele. Doch die Bereitschaft der bösen Meerhexe, die jüngste Tochter des Meerkönigs in ein Menschenwesen zu verwandeln, ist an eine bittere Bedingung geknüpft: Nur die ewige Liebe des Prinzen sichert dem Mädchen das Überleben. "Am ersten Morgen, nachdem er mit einer anderen verheiratet ist, wird dein Herz brechen, und du wirst zu Schaum auf dem Wasser." Doch schon die Distanz, mit der die österreichische Illustratorin Lisbeth Zwerger auf ihre Figuren und deren Handeln blickt, nimmt ein wenig von der Unerfüllbarkeit der Sehnsucht der kleinen Meerjungfrau vorweg. Sie kann ihrem Prinzen zwar nahe kommen und sich von ihm behutsam in ein Menschenleben begleiten lassen, doch "jeder Schritt, den sie tat, war, als trete sie auf spitze Nadeln und scharfe Messer". Einander gleich werden die beiden nie werden. Entsprechend verlassen steht die kleine Meerjungfrau am Ende des Buches an der Reling jenes Schiffes, auf dem "ihr" Prinz gerade seine Hochzeitsnacht mit einer anderen verbracht hat. Ihr Kleid erinnert an die Schuppen des Fischschwanzes und aus der tiefblauen Nacht dringt in der Ferne das Morgenlicht, das die Glücklose zu Schaum auf den Kronen des Meeres verwandeln wird. Mit großer Traurigkeit fängt Lisbeth Zwerger diesen (und andere Augenblicke) in ihren Aquarellbildern ein und legt damit eine ganz besondere Jubiläumsausgabe vor. Zu Befeiern gilt es nicht nur 200 Jahre Hans Christian Andersen, sondern auch 50 Jahre Lisbeth Zwerger, die noch eine weitere Besonderheit mit dem dänischen Märchendichter verbindet: Vor 15 Jahren hat die Künstlerin für ihr Lebenswerk die Hans-Christian-Andersen-Medaille bekommen, den "Nobelpreis der Kinderliteratur". 15 ist übrigens das Alter, mit dem eine Meerjungrau erstmals auftauchen darf, um die Menschenwelt zu sehen...
Heidi Lexe
Lektorix
des Monats Februar 2005
Angelika Kaufmann: Ich und Du, Du und Ich.
Verlag Bibliothek der Provinz 2004
Abschied
Als Jorinde und Joringel im Grimm'schen Märchen den Garten der mächtigen Zauberin betreten, wird ihrer beider Liebe auf eine Bewährungsprobe gestellt: Verzaubert muss Jorinde darauf warten, dass er sie unter Tausenden wieder erkennen und erlösen kann.
Was im Märchen gelingt, gilt ebenso beim Träumen und Spielen. Und so setzt auch Angelika Kaufmann das Mädchen und den Jungen in ihrer Erzählung dem Motiv des "geheimen Gartens" aus, in den ein Loch in der Mauer führt und über dem ein mächtiger Zauberer wacht - "er fängt die Mädchen und die Buben / und sperrt sie ein in seine Stuben" - einer, der glücklicherweise so hoch fliegt, dass man manchmal nur seine bunten Bauchfedern am oberen Bildrand erkennen kann. In der farbigen Welt ihres Spiels entkommen die beiden der Gefahr, auch wenn es ganz knapp wird, so knapp, dass sogar die Seiten im Buch enger und schmäler werden, abgeschnitten sind.
Ich und Du, ein Mädchen und ein Junge, allerbeste Freunde. Wie mit Schablonen gezeichnet, typisiert wie im Märchen und ausgestattet mit der Grundeigenschaft der Neugier aufs Leben - das macht Identifikation beim Lesen leichter. "Aber eines Tages bist du fortgegangen. Du hast mir nichts davon gesagt." Das bunte Treiben der beiden wird zur bloßen Erinnerung, die angstvolle Traurigkeit zu Beginn wird zur Gewissheit. Die farbigen Seiten im Mittelteil wechseln wieder zu hartem Federstrich auf grauem Faserpapier. Die Spielwelt muss der Konfrontation mit der Wirklichkeit weichen: "Die Erwachsenen sagen, dass du jetzt tot bist. Ich kann das nicht glauben" Und: "Ein Auto hat dich überfahren, sagen die Erwachsenen." Aber wo die Erinnerung bleibt, hat der Tod nicht gesiegt: "Du bist gestorben - aber tot bist du nicht." Seit einigen Jahrzehnten schon baut Angelika Kaufmann hoffnungsstarke Geschichten und Bilderwelten für Kinder, manchmal - wie in diesem Fall - mit eigenem Text. Vor allem aus der engen Zusammenarbeit mit Mira Lobe sind ganze Generationen von Kindern prägende Bücher entstanden, wie "Komm, sagte die Katze". Für dieses sehr spezifische, immer unverwechselbare Werk wurde ihr soeben der Österreichische Würdigungspreis zuerkannt.