Lektorix des Monats Oktober 2006
Faïza Guène:
Paradiesische Aussichten.
Aus dem Französichen
von Anja Nattefort.
Hamburg: Carlsen 2006.
Aussichten
Schlechte Zukunftsaussichten: Das waren im vergangenen Jahr die Hauptgründe für die anhaltenden und verheerenden Ausschreitungen in den Pariser Vororten. Die Bilder davon sind bis in unsere Wohnzimmer gelangt, manche recherchierten Schicksale bis in unsere Köpfe. Und noch viel näher wollen wir das alles auch nicht mehr lassen. Jetzt, wo die Banlieues und ihre sozialen Brennpunkte ohnehin wieder aus den Schlagzeilen sind.
Was Faïza Guène zu erzählen hat, hört sich auch ganz anders an: Paradiesische Aussichten – wie der Titel vorgibt - hat ihre Heldin als Bewohnerin des „Paradis du Cité“ genannten Vorortes von Paris auch nicht gerade. Die 15-jährige Doria vermag allerdings mit sehr viel Wortwitz über ihre Umgebung zu erzählen, über die Eigenheiten der Bewohner*innen, deren kleine Glücksmomente und Verfehlungen. Nach der Lektüre dieser pubertär-coolen, völlig ohne Selbstmitleid geschriebenen Ich-Erzählung hat der Begriff „Migranten-Hintergrund“ eine unerwartet neue Färbung, klingt anders als jeder politisch korrekt formulierte Zeitungsbericht oder der das Fremde ins Auge fassende Sozialbericht. Dorias Alltag ist geprägt von einer patriarchal muslimischen Gesellschaft und den Konsequenzen, die sich für sie und ihre allein erziehende und analphabetische Mutter daraus ergeben. Dorias Weltsicht hingegen ist geprägt von Werbung und Fernsehen, ihre Vorbilder sind Serienhelden, ihre Sehnsüchte passen zur Zahnpasta-Werbung. Ironie und Witz entstehen in der Kluft zwischen diesen beschriebenen Welten, die Bilder über Armut und soziale Not sind ohne Wehleidigkeit aber mit Gespür für damit verbundene Verletzlichkeiten gezeichnet. Medial entlehnte Leichtigkeit ergeben gemeinsam mit der Ernsthaftigkeit des Dargestellten ein sehr modernes, literarisch überzeugendes Porträt einer jungen Frau auf der Suche nach ihrem eigenen Weg.
Inge Cevela
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