Lektorix des Monats im Juni 2006
Antonis Michaelis: Tigermond
Loewe 2006,
364 Seiten
1000 + 1
Scheherazade hatte unbestreitbar einen guten Grund für ihr rekordverdächtiges Dauererzählen: Immerhin erzählte sie um ihr Leben. Und gewann. Und dafür erhielt nicht nur sie ihre Begnadigung sondern die Menschheit einen unermesslichen Märchenschatz und Einblick in den persischen Kulturraum.
Auch die wunderschöne Safia mit den türkisfarbenen Augen erzählt – wenn auch wesentlich indirekter - um nichts weniger als ihr Leben. Denn in der Hochzeitsnacht wird ihr Betrug auffliegen. Nur eine kurze Spanne Zeit bleibt ihr noch, um ihre Flucht vorzubereiten. „Geschichten sind ausgezeichnete Fluchtwege“, sagt sie. Und beginnt, dem hübschen jungen Eunuchen eine Geschichte zu erzählen von Ravana, einer irdischen Tochter des Gottes Krishna, die vom Dämonenfürsten als Frau begehrt und entführt wird. Doch ehe bei Vollmond die Hochzeit vollzogen würde, will Krishna selbst einen Helden erwählen zur Rettung seiner schönen Tochter. Die Wahl fällt auf Farhad, einen kleinen unbedeutenden Dieb, der nur sich selbst zu Gefallen ist. Doch ausgerechnet ihn schickt die eigenwillige Erzählerin auf den weiten Weg durch das Indien des 19. Jahrhunderts. In der bunten und schillernden Vielfalt dieser Welt treffen alte Traditionen und moderne westlich-britische Einflussnahme aufeinander, während inmitten von Islam und Buddhismus es die reichgestaltige Götterwelt des Hinduismus ist, die den Grundton für den farbenprächtigen Erzählteppich der jungen deutschen Autorin bildet. Mit enormer Lust am Erzählen verbindet sie die Eindrücke ihres einjährigen Aufenthaltes in Südindien mit Anleihen bei den großen Mythen Ramayana und Mahabharata. Dabei legt sie allerdings mit der Wahl ihrer unheldischen Hauptfiguren einen wohltuenden, leise ironischen Abstand zu deren Pathos. Augenzwinkernd lässt sie den Verwandlungskünstler Farhad in einer Welt, in der zwischen dem Willen der Götter und der Gesetzgebung der Briten alles möglich ist, seine phantastischen Abenteuer bestehen. Sein Weg führt ihn durch den Wind, durch das Wasser und durch das Feuer, ganz wie es ihm prophezeit ist. Und im allerletzten Augenblick bis vor die Prinzessin. Aber da beginnen Wirklichkeit und Fiktion der Erzählerin selbst ineinander zu greifen. Und weder Jungfrauen noch Helden noch Eunuchen sind immer nur das, was sie scheinen.
Inge Cevela
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