Kröte im Juni 2025
Aus dem Engl. v. Birgitt Kollmann.
dtv 2025.
208 S.
Alison McGhee: Das Telefon in der Birke
Im österreichischen Pavillon der Kunstbiennale 2024 stellte die Künstlerin Anna Jermolaewa neben anderen Exponaten in ihrem Readymade „Untitled (Telephone Booths)“ sechs Originaltelefonzellen aus dem Flüchtlingslager Traiskirchen aus. Durch den technischen Fortschritt obsolet gewordene Alltags-Orte, immer noch funktionstüchtig und voller sichtbarer und unsichtbarer Spuren all jener, die von ihnen aus Kontakt zu weit entfernten Menschen aufgenommen haben:
Die Zellen fungieren als Kapseln eines Spektrums an Gefühlen – sie weisen auf die Unsicherheit, aber auch die Hoffnung von Menschen auf der Flucht hin, die ihr Zuhause hinter sich gelassen haben und nicht wissen, was als Nächstes passieren wird. 1989 benutzte Jermolaewa genau dieselben Telefonzellen, um ihre Familie in Leningrad zu verständigen, dass sie im Westen angekommen war. (>>> Ausstellung — Biennale Arte 2024)
Und selbst Telefone, die eigentlich nicht mehr funktionstüchtig sind, können einer besonderen Form der Kommunikation dienen: die amerikanische Autorin Alison McGhee hörte vor Jahren einen Podcast über das japanische Windtelefon, eine längst aufgelassene Telefonzelle in einem Hanggarten im nördlichen Japan, die Menschen nützen, um mit ihren Verstorbenen zu sprechen. Berührt von der Schönheit und Sehnsucht dieser Begebenheit versuchte sie sechs Jahre lang ein Buch zu schreiben, das dieses Moment aufnimmt (My new novel, Telephone of the Tree | Alison McGhee): „Telephone oft the tree“ erschien schließlich im Frühjahr 2024 im Original, nun in einer weiteren höchst gelungenen Übertragung ihrer Sprache auf Deutsch. Der langjährigen Übersetzerin ist die deutsche Ausgabe auch gewidmet:
„To Birgitt Kollmann, dear friend, magician translator, she who has long divined the heart and soul of my books, with love”.
Die zehnjährige Ich-Erzählerin Ayla und ihre beste Freundin Kiri kennen sich von Geburt an; neben vielen anderen Gemeinsamkeiten einer unzertrennlichen Mädchenfreundschaft teilen sie eine besondere Beziehung zu Bäumen:
„All die geflüsterten Laute nisteten sich in unseren Herzen ein, und so ist es gekommen, dass Kiri und ich seit jener Nacht, der Nacht der Baumtänze
Bäume lieben
vielleicht sogar
selbst Bäume sein wollen
große, starke, in sich ruhende Bäume.“ (6.)
Zur Geburt der beiden Mädchen wurde in ihrer Straße je ein Baum gepflanzt, eine Seidenkiefer für Kiri, eine Flussbirke für Ayla. Doch jetzt ist Kiri weg, so weit weg – Ayla aber rechnet fest damit, dass sie rechtzeitig zu ihrem 11. Geburtstag wieder kommen und endlich alles wieder normal sein wird.
Während Ayla also wartet und die Tage bis zum Geburtstag vergehen, klemmt in einer Astgabel ihrer Birke plötzlich ein Telefon, ganz altmodisch mit Gabel, Hörer und Wählscheibe. Der Großvater weist darauf hin, dass Ayla ja damit jemanden anrufen könnte, sie findet das (zunächst) bescheuert: Wen kann man denn schon anrufen mit so einem doofen Uralt-Telefon, das mit gar nichts verbunden ist? (S.41.) Für einen kleinen Buben aus der Straße hingegen, der gerade sein geliebtes Haustier, einen Gecko, verloren hat, ist der Zweck des Telefons klar: „Mit diesem Telefon kann man jeden anrufen, mit dem man sprechen will. Aber nur solche, die nicht mehr leben.“ (S.51). Das tut er, ebenso wie der Pizzabote, der seinen Vater vermisst. Der wiederum sagt es dem Mann mit dem Baby im Tragetuch weiter. Ohne dass deren Biografien weiter auserzählt werden, wird spürbar, dass auch sie einen unwiederbringlichen Verlust erlebt haben. Ayla wird zur Hüterin des Telefons, während sie selbst nie dazu greift. Bis sie irgendwann, erst gegen Ende des Buches, von jenem Tag sprechen kann, an dem Kiri gegangen ist – und sich der Tatsache stellen kann, dass sie nicht mehr zurückkommen wird. Auch nicht zu ihrem Geburtstag. Auch nicht zum ersten Tag in der Mittelschule.
An diesem Wendepunkt verändert sich auch die Textgestaltung: Bis dahin war er, entsprechend zu Aylas mühsam unter Kontrolle gehaltenen Emotionen, kompakt in die Mitte der Seite gesetzt, oben und unten von viel Weißraum umgeben, in der deutschsprachigen Ausgabe an einigen Stellen von zarten Schwarzweiß-Illustrationen der Grafik-Designerin Mi Ha begleitet. Nun hingegen zerfällt er: ein Satz wird zerstückelt und Wörter untereinander gesetzt, ganze Sätze werden angesichts dieses unvorstellbar Schrecklichen obsolet. Einzelne Wörter vermitteln ein Gefühl, in dem die Zeit stehen bleibt, in dem abschließende Satzzeichen sich erübrigen, weil das Geschehene nicht abgeschlossen werden kann:
Für alle Zeit werden die Sirenen des Rettungswagens schrillen
Für alle Zeit werden die Huskies heulen und heulen
und heulen (S. 162)
Dieser Moment ist aber auch jener, in dem Ayla schließlich doch den Hörer abhebt – und erstmals formulieren kann, dass Kiri gestorben ist. In dieser Akzeptanz kommt schließlich auch Kiris Geburtstag – ohne, dass sie wiederkehrt, mit vielen Tränen und viel Trauer, und dennoch in tröstlicher Verbundenheit mit jenen Wesen, die ebenfalls um sie trauern.
In der Fülle der Kinder- und Jugendbücher, die von Tod und Trauer erzählen, hat Alison McGhee hier neben des anrührenden Motivs des Telefons in der Birke auch eine literarische Familie geschaffen, die auf besondere Weise mit der Trauer eines Kindes umgeht: Sowohl die Eltern als auch der Großvater Pops (er ist es übrigens auch, der das Telefon in die Birke gestellt hat) geben Ayla jene Zeit, die sie braucht, um die Realität in ihrer vollen Tragweite zu akzeptieren. Niemand erklärt ihr, dass es eigentlich anders ist, niemand gibt ihr ungefragt Tipps, niemand drängt sie – alle sind da, liebevoll und unaufgeregt, und lassen sie in ihrem eigenen Tempo ihren eigenen Weg der Trauer gehen. Zu dem bei allem Schmerz letztlich auch die Erkenntnis gehört, dass es trotz allem so viel mehr gibt.
Kathrin Wexberg
Alison McGhee ist eine Autorin, die in ihren Büchern ganz besondere Formen des Erzählens wählt, oft sehr verknappt und umso präziser. Einer dieser Romane und andere lesenswerte Versromane sind in einer >>> Themenliste zusammengestellt.
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