Kröte im November 2024
Hanser 2024.
32 S.
Nikolaus Heidelbach und Ole Könnecke: Gutenachtgeschichten für Celeste
Die Sache mit der Gruselgeschichte ist nicht so einfach. Denn der Horror ist ein rezeptionsästhetisches Moment – will heißen: Eine Schauergeschichte wird zwar mit der Absicht erzählt, Leser*innen (oder Zuhörer*innen) zu ängstigen; ob sie sich aber auch wirklich ängstigen, obliegt den Rezipient*innen und deren Schauer-Empfinden. Wobei der Erzähler oder die Erzählerin das Beste zu geben versucht und mit Ekel vermischte Schrecken inszeniert – gebunden an Figuren, Taten oder Ereignisse.
Auch Boris versucht sein Bestes, als seine kleine Schwester Celeste nach einer Gruselgeschichte verlangt. Eine Leichtigkeit für Boris, der sein Schauer-Empfinden gerade eben noch an Filmen geschult hat, die nur was für Große sind. Und das obwohl im Kanon jener Hinweise, die die Eltern den Geschwistern noch im Weggehen zugerufen haben, auch ein unmissverständliches, diesbezügliches Verbot formuliert wurde:
„Sei nett zu deiner kleinen Schwester, Boris.“ / „und keinen Film gucken, hört ihr?“ / „Und wenn was ist, ruft an, ja?“ / „Auf dem Küchentisch steht Vollkornbrot und Paprika und Salat.“ / „Und Zähneputzen nicht vergessen.“
Zähneputzen. Ein solcher Horror ist nach dem „Ja“ und „Ja“ und „Ja“ und „Ja“ und „Ja“ rasch vergessen. Man mampft Kartoffelchips und am Bildschirm erscheinen jene Figuren, die prototypisch eine Ästhetik des Horrors repräsentieren. Ole Könnecke setzt den Text in Sprechblasen und skizziert in rahmenlosen Panels die geschwisterliche Zweisamkeit – wiewohl Boris die schauerliche Rechnung ohne Celeste gemacht hat. Sie nämlich lässt sich nicht einfach so aus dem Heimkino vertreiben, sondern fordert lautstark eine GUTENACHTGESCHICHTE.
Kannst Du haben, denkt Boris. Sein Blick ist verschlagen, aber Celeste verfällt bereits in Jubel: Gruselgruselgruselgruselgruselgruselgruselgrusel! Und schon ist die Erzählsituation genau dort angelangt, wo es ans rezeptionsästhetisch Eingemachte geht. Erster Versuch: Ein Mädchen, eine gottverlassene Gegend, eine Schlucht, eine wackelige Hängebrücke, ein Gespenst ...
Langweilig.
Wie du meinst. Ich wollte Dich schonen.
Nicht nötig.
Dort, wo mit dem schauerlichem (schauerlich schlechten) Erzählversuch von Boris die Metafiktion einsetzt, wird auch in der Bilderbuchgestaltung eine zweite Ebene eröffnet. Das nämlich, was Boris in der Rahmengeschichte auf der rechten Buchseite schildert, wird auf der linken Seite in einem singulären Erzählbild verdichtet. Und zwar in fast kontrafaktisch anmutenden Stil, der den Gap zwischen dem Erzählten und dessen (möglicher) Wirkung aufgreift. Denn stilistisch könnten die beiden Illustrationsstile nicht weiter voneinander entfernt sein: Hier Ole Könneckes Weißraum, in den die Bildfolgen comichaft-theatral gesetzt werden – dort Nikolaus heidelbachs flächig ausinszenierte Bildwelt; hier die helle Farbigkeit, das Orange der spärlichen Requisiten, der rotgepunktete Pyjama, das blau-weiß-gestreifte Shirt – dort die Erdfarben, Grau und Grün und schweres Bordeauxrot; hier konturierte Figuren in comichafter Mimik und Gestik, immer in Bewegung – dort dralle Kindfiguren, in ihrem Outfit bis ins kleinste Detail mit den Kostümen und Accessoires aus dem illustratorischen Theaterfundus ausgestattet. Hier Rhythmus – dort sinistre Standbilder.
Hier der kindliche Versuch, eine Gruselgeschichte zu erzählen. Dort das Grauen in all seinen Facetten von Ekel und Schrecken; Figuren, die das Unbewusste und Unbekannte aus den tiefenpsychologischen Abgründen ans Licht holen. Man fühlt sich zurückversetzt in Nikolaus Heidelbachs „Kinderparadies“; in seine Erzählbilder aus der Kinderzeitschrift „Der Bunte Hund“; in eine Version von „Was machen die Mädchen“ / „Was machen die Jungs“, in der das Figureninventar der Dark Fantasy mit blutunterlaufenen Augen Kindfiguren gegenübergestellt wird, die unberührt, cool und interessiert bleiben. An der einen oder anderen Stelle involvieren sie sich; an anderer Stelle spiegeln sie die Mimik der Ungeheuer. Oder aber sie bemerken gar nicht die überlebensgroße Kröte in ihrem Rücken, die träge ihre Augenlider hebt, während das Mädchen in der Pfanne Froschschenkel brät. Vom Schöpfer (der Kelle), der (die) am Herd hängt, tropft noch das Blut. Was ist Schauriger? Der beglückt-sanfte Blick der Köchin oder die lauernde Kröte?
Kröten sind so süß!
Du hast echt keine Ahnung, was gruselig ist.
Hab ich wohl! Aber du hast ja noch nichts Gruseliges erzählt!
So leicht ist Celeste nicht zufrieden zu stellen.
Sie langweilt sich, lenkt mit kindlichen Fragen ab, amüsiert sich, beklagt sich, stellt sich schlafend und versetzt den Bruder mit einem aus dem Nichts kommenden BUH in Angst und Schrecken. Oder aber sie amüsiert sich königlich über dessen immer verzweifelter werdende Erzählversuche, mit denen er ein Ungeheuer nach dem nächsten aufruft. Sozusagen wortwörtlich, denn sein Wunsch sei Nikolaus Heidelbach ein schauriges Volksfest:
Heidelbach lässt ausgezehrte Hybridwesen aus Wassermann und Nixe unter einer Schwimmerin auftauchen und dickbäuchige Gargoyles mit aufgerissenen Mündern demonstrieren, dass es Nachts im Park nicht eben frühlingshaft zugeht. Und während den Betrachter*innen der wohlige Schauer über den Rücken läuft, der sich – wie immer im Anbetracht der Illustrationen von Nikolaus Heidelbach mit nachhaltiger Lust am schwarzem Humor mischt – bleibt Celeste auf ihre quengelige Art unbeeindruckt ...
... bis sie selbst Hand ans Geschichtenerzählen legt und ihren Bruder demonstriert, wie es richtig geht. Damit darf auch Ole Könnecke in einem finalen, doppelseitigen Wimmelbild all jene karikierenden Ausgeburten des Schreckens auspacken, die zischelnd und schmatzend aufeinander losgehen – oder voreinander flüchten. Es ist die „gruseligste Gruselgeschichte“, die je erzählt wurde. Als Celeste damit fertig ist, ist Boris eingeschlafen. Bestimmt vor Schreck.
Heidi Lexe
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