Aus d. Norweg. v. Ina Kronenberger.
Gerstenberg 2023.
72 S.

Kjersti Annesdatter Skomsvold / Mari Kanstad Johnsen
Alle schlafen (bis auf Bo)

Es ist Winter. Und ja, ich beneide all jene Lebewesen, die sich zu dieser Jahreszeit in ihre Höhlen zurückziehen können, sich in ihr Fell einmümmeln und: schlafen.
Zugegeben: Von der „kuscheligen Höhle“ ist auch hier die Rede. Der Bär aber, der sich bildfüllend in dieser vorgestellten Höhle verkrochen hat, linst nach Draußen. Denn dieser „Bär“ möchte alles andere, nur nicht schlafen …
Schon am sequentiell gestalteten Vorsatzpapier tobt dieser „Bär“ über Sofa und Wohnzimmertisch und frönt dabei einer Verrenkungsvielfalt, die Ensemblemitglieder des Cirque du Soleil vor Neid erblassen lässt. Hellwach ist dieser „Bär“, sprich: hellwach ist dieses Kind namens Bo. Ein wilder Kerl ist nichts dagegen. Hier aber muss gar nicht fortgesegelt werden – hier wird das Wohnzimmer zu jenem exotischen Natur-Raum, in dem sich herumtollen lässt: Es ist Abend und Bo macht ganz viel Quatsch. Er schlägt Purzelbäume auf dem Sofa und singt, so laut er kann.
Während die Mutter gähnt, scheinbar entspannt die Wäsche vom Wäscheständer räumt und fragend die Augenbrauen hochzieht, tollt Max, sorry: Bo gemeinsam mit seinen Stofftieren über die Couch. Ein Drunter und Drüber ist das – an Figuren, Farben und Formen. Denn die Bilder der in Oslo lebenden und arbeitenden Künstlerin Mari Kanstad Johnsen scheinen keine Begrenzungen zu kennen. Selten war der Begriff der abfallenden Illustrationen so passend wie hier: auf großformatigen, einfarbigen Flächen der matten, buntpapierartig wirkenden Seiten werden Räume gleichermaßen angedeutet wie aufgehoben, geraten die Perspektiven ebenso durcheinander wie die Tierfiguren, die im wilden Treiben des Kindes ineinander verschlungen werden. Hund, Katze, Papagei, Schildkröte, Krokodil, Schlange, Dinosaurier, Giraffe, Bär – wer könnte hier noch sagen, welches dieser Viecher der Haustierwelt, der Spielzeugwelt oder der Vorstellungswelt von Bo entspringt? Zumal auch Bo sich in diese Tierwelt einzuschreiben beginnt:

Mama lacht.
„Es ist schon spät, Bo.“
Plötzlich steht Bo auf einem Bein.
„Aber ich schlaf doch schon.“
„Du schläfst schon?“, fragt Mama.
„Ich bin ein Papagei“, sagt Bo.

Man darf dieser Mutter – und mit ihr der norwegischen Autorin Kjersti Annesdatter Skomsvold – seine Hochachtung aussprechen. Sie bleibt ob ihres energiegeladenen, außerordentlich phantasiebegabten Kindes nicht nur sensationell cool, sondern reagiert mit einem Höchstmaß an pädagogischem (und sprachlichem) Geschick auf Bo. Dass ein Papagei mit seinem Fuß unter den Federn schläft, kann von ihr nur bestätigt werden. Vielleicht möchte aber dieser Papagei aber noch ein wenig Körnderl-Futter vor dem letztlich unvermeidlichen Zubett-Gehen? Schrittweise lockt diese Mutter ihr Kind in dessen jeweiliger metamorpher Variante in die Küche, ins Bad und schließlich ins Kinderzimmer. Dazwischen aber liegt das kreativ ausgestaltete Wechselspiel zwischen der kindlichen Alltagswelt und der kindlichen Imaginationswelt. Denn auch Bären müssen sich waschen und schon ist Bo am Weg in den ersten Stock, die Taucherbrille im Anschlag, um die (tunlichst zu vermeidende) Begegnung mit dem Wasser einfallsreich umzudeuten:
„Hier kann ich nicht schlafen“, sagt Bo.
„Stell dir vor, ich werde aufs offene Meer getrieben.“

Der emphatische schwarze Strich, den Mari Kanstad Johnsen nutzt, wird zu Meereswellen im intensiven Blau. Ob man sich in der Tieefsee-Expedition im oder außerhalb des Bootes befindet, weiß niemand mehr. Qualle, Orca und Badeentchen werden im Gegeneinander der Bewegungsrichtungen mitgerissen. „Vielleicht bist du ja ein Seeotter?“, sagt Mama. Durch den Seetang ihrer Umarmung könnte dieserart ein Davonschwimmen verhindert werden und das Walross (so schnell kann kindliche Metamorphose gehen!) glücklich am Badewannenrand landen. Ein Walrosszahn aber muss geputzt werden, um sich mit dem Blick in den Badezimmerspiegel in einen Giraffenkopf verwandeln zu können. Und lieber blickt man dieser Giraffe ins Auge als in jenes Badezimmereck, in dem ein Löwe gefräßig hinter dem Klo lauert. Doch Mutter und Giraffenmutter sind hochambitioniert beim Wachen und Warnen, sodass auch das Abenteuer Klo bewältigt werden kann.
Für die Giraffenmutter muss das Buch übrigens hochgestellt werden – und selbst dann passt sie nicht auf die Doppelseite, auf deren Hintergrund das Wasser des Badezimmerbodens aquarellartig mit dem Grün und Blau der Savanne verschwimmt. Die Materialität des Buches greift damit über in dessen Spielcharakter, in dem die Fülle der kindlichen Verzögerungsstrategien gespiegelt wird. Denn selbst als Bo schon blitzschnell seinen Schlafanzug angezogen hat, ist damit noch lange nicht angezeigt, dass er nun auch zu schlafen bereit wäre. Die Kuscheltiere wollen sich schon mal friedliebend in die wogenden Wellen der Bettdecke schmiegen – aber da sei Bo vor! Wie in freier Wildbahn auch müssen die Tiere noch auf ihre Schlafplätze verteilt werden: „Manche Fische verziehen sich unter den Sand und Steine. Pandas und Eichhörnchen schlafen hoch auf den Bäumen.“
Mit dem Umblättern legt sich nun aber bereits ein nächtlicher Schleier über das im Bild-Raum verteilte Schlaf-Gewirr. Noch ein letztes Mal springt Bo aus dem Bett und steht – so schnell kann die Mutter gar nicht schauen – kopfüber an der Wand. Die Fledermaus aber, zu der er wird gleitet im Finster-Nebel hinüber in die Traumwelt. Die Expressivität der Bilder erhält damit eine Richtung, drängt zunehmend an den rechten Bildrand. Dorthin wo Bo letztlich im Kreis all seiner Stofftiere den Kampf gegen den Schlaf verliert:

Mama knipst das Licht aus.
Im Zimmer wird es dunkel,
aber an der Decke leuchten
die Sterne.

Auch Übersetzerin Ina Kronberger darf nun dem ruhigeren Rhythmus der knappen Texte folgen. Deren liebenswerter Dialogcharakter biegt in die Zielgerade. Nun schon ganz leise:

„Jetzt bist du ein Vogel“, flüstert Mama.
„Ein Mauersegler am Himmel.“

Dieser Mauersegler nimmt Bo mit sich. Und auch wenn sich in der angedeuteten Traumwelt die schlafenden Tiere noch einmal farbintensiv ineinander verschlingen, wirft dieser Vogel letztlich seinen Nacht-Schatten auf eine kindliche Welt, in der nur noch Nachtlichter den Blick ins Kinderzimmer markieren. Man blickt im Nachsatzpapier von Außen auf das Haus, in dem Bo und seine Mutter leben – und in das nun Ruhe einkehrt. Selbst die Mutter schläft über ihrer Bettlektüre ein, während in der Nachbarwohnung die Erschöpfung wohl schon zuvor stärker war als der Kreativ-Drang: Die Sehnsucht nach dem Winterschlaf hat auch jene Zeichnerin eingeholt, die als metafiktionale Anleihe an Mari Kanstad Johnsen selbst über ihrem Buntstift-Bild eingeschlafen ist. Man möchte nichts mehr, als es ihr gleichzutun. Schließlich hat man seine Energie genussvoll darin investiert, in dieser unvergleichlich kraftvollen Bilderbuch-Geschichte all jene Details zu entdecken, durch die die Doppelseiten miteinander verknüpft werden – und mit ihnen die Alltags-Welt, in der man schlafen soll und die Imaginations-Welt, in der man hellwach ist. Aber selbst einem Bären fallen irgendwann die Augen zu …

Heidi Lexe

Wie auch hier schläft es sich auch in anderen Büchern ganz besonders gut bei Nacht. Aber davor ist noch das Einschlafen, was sich durchaus schwierig gestalten kann. Wie das aussieht und alle, die noch nach der passenden literarischen Einschlafbegleitung suchen, werden in der Themenliste >>> Gute Nacht fündig.

 

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