Kröte im Oktober 2023
Moritz 2023.
o. S.
Thé Tjong-Khing: Torte für alle
.Sie sind wieder da: Bereits am Cover angeführt von Herrn Hund in seinem rot-weißen Ringel-Shirt machen sie sich auf – zum Fluss, wie wenig später ersichtlich sein wird. Die prozessionsartig vorangetragene Torte lässt vermuten, dass dort ein gemütlicher Nachmittag verbracht werden soll. Erneut mit dabei: Die Schweinemutter im rosa Kleid, mit kleinem Sonnenschirmchen und Picknickdecke unterm Arm. (Muss man sich um Vater und Sohn Sorgen machen?); die elegante Katzenlady im lila Outfit und die Ziege im grünen Kleid mit weißen Pünktchen. Was aber will sie mit dem Besen? Ähnlich mysteriös der Topf mit der Eule am Deckel, den die grüne Echse mit dem grünen Anzug in Händen hält. Eine Keksdose? Von der hinterherstöckelnden, mondänen Pudellady hingegen weiß man, was sich in ihrem kleinen Köfferchen versteckt. (Nein, es ist keine Geige und auch kein action-affin im Geigenkoffer verstecktes Maschinengewehr …) Natürlich nicht fehlen darf die Hasenmutter samt Hasenkindern; drei sind es mittlerweile, eines in der kindlichen Ich-bin-ein Ritter-Phase und mit Flederwisch-Helm und Schwert ausgestattet, eines noch ganz klein und hintennach, mit dem obligaten Hasenplüschtier unter dem Arm. Irgendwo dazwischen zwei gymnastikbegabte Humpty-Dumpty-Frösche mit Fußball und ein eleganter Froschmann mit Federhütchen. Zu guter Letzt: Frau Hund, immer noch mit der Produktion weiterer Torten beschäftigt, denn diesmal soll es ja Torte für ALLE geben – und wer weiß schon, wie viele dafür letztendlich gebraucht werden?
Nicht mehr mit dabei: Die kleinen Rattendiebe, die die altbekannte Tortengesellschaft von Beginn an in Atem gehalten haben. Sie waren es, die im allerersten Band die Torte geklaut, die Ereignisse in Gang gesetzt und damit eine neue Tradition im Silent Book mitgebgründet haben. (Siehe dazu die >>> Kröte des Monats Juni 2006. Was ist da über all die Jahre hin nicht schief und verloren gegangen; Wald-, Berg-, und Uferlandschaften wurden durchlaufen – immer den Dieben und der Torte hinterher. Einmal waren diese Landschaften sogar angereichert mit variantenreich modulierten Anleihen an kunstgeschichtliche Werke (Kunst mit Torte, Moritz 2017). Oder es wurden zahllose Farbspuren durch die kleine Gartenkolonie gelegt, als die Torte gleich zu Beginn versehentlich zermanscht wurde.
Im Jubiläumsband, den sich der indonesische, in den Niederlanden lebende Künstler selbst zum 90. Geburtstag schenkt, nimmt er Anleihen an sich selbst: In „Hieronymus“ (Moritz 2016) galt es ja nicht, der Torte hinterherzustürmen. Vielmehr fiel ein Kind über eine Klippe in eine an Hieronymus Bosch angelehnte Bildwelt und musste die dabei verloren gegangenen Requisiten wiederfinden. Darunter ein Ball, der von (Greif-)Vogel zu (Greif-)Vogel weitergereicht wurde. (Der gelbe Hut mit roter Feder, den das Kind getragen hat, sitzt diesmal übrigens am Kopf des Hasenkindes …) Dabei konnte leicht übersehen werden, dass das Kind von einem seltsamen, sich maskierenden Wesen verfolgt wurde, das dem Paradiesbaum entstiegen ist und sich letztlich als Menschenfresserin entpuppt hat.
Keine Sorge. Das Kind samt Hut und Ball und Seil und Rucksack ist wohlbehalten zurück. Die Sache mit den im Bildraum verstreuten Requisiten weist diesmal aber ebenso den Weg wie die Greifvögel. Denn: Nachhaltig werden Besen, Ball, Schwert, Schirmchen, Köfferchen, Hasenplüschtier, Eulen-Keksdose und diverse Kopfbedeckungen noch einmal samt Torte präsentiert und mit dem Umblättern am Innentitel auf der Picknickdecke ausgebreitet. Doch dann passiert es: Schreckstarr und mit offenem Mund drehen sich die bereits im Raum verteilten Figuren um, als ein Adler nach dem Tuch greift und es (bitte umblättern!) als kleinen Beutel davonträgt.
Hinterher!
Doch der Greif hat nicht mit dem Storch gerechnet, der sich im angestammten Metier (etwas wird im kleinen, zusammengeknoteten Stoffbeutelchen geliefert …) konkurrenziert fühlt und zum Angriff übergeht. Oh nein, möchte man noch ausrufen und sieht im Silent Book-Stil, wie das auch die Figuren tun. Denn der Stoffbeutel platzt auf und die Requisiten purzeln durch die Luft – ganz so wie damals in „Hieronymus“. Nun ist es keine Klippe, die für die räumliche Höhe und Begrenzung sorgt, sondern ein felsiges Flussufer – respektive eine Klamm, über die ein wackliger Holzstamm führt. Sie wird zum zentralen Handlungsort der folgenden Doppelseiten, wenn jede der Figuren ihrem eigenen, im Raum verstreuten Requisit nachjagt.
Wie immer im Silent Book entsteht die Handlung durch die Bewegung der Figuren im Raum – und wie immer im Wimmelbuch folgt man ihnen synchron. In Leserichtung wandert man dabei – der Bewegung der Figuren im erzählten Raum folgend – durch den Erzählraum der Doppelseite, während die Figuren sich im Raum verteilen und ihre je eigene Geschichte erleben. Dabei wird die horizontale Bewegung (auf geht’s, dem Dieb nach!) auf vielfache Weise durchbrochen; denn die Topografie (Klamm) bleibt ja über einige Seiten hin konstant, bevor sie sich für zwei weitere Seiten in eine karge (weil diesmal nicht weiter differenzierte) Felslandschaft übergeht. Die Figuren müssen vor und zurück, um Schirmchen aus luftigen Höhen und Hüte aus dem Wasser zu bergen. Ungeachtet der Tatsache, dass plötzlich ein Gorilla zum Angriff übergeht. Wo kommt der denn her? Also wieder zurückblättern und ihn entdecken und dann der Geschichte erneut und aus neuer Perspektive folgen …
Ein Ball fliegt durch die Luft und wird wenig später gezielt und lebensrettend getreten. Eine Schlange und eine Ameise kommen ins Spiel und erfreuen sich gemeinsam am Spiegel der Pudeldame, die begossen aus dem Fluss steigt, um ihr Beauty-Accessoire wiederzubekommen. Die Torte aber ist diesmal nicht nur weg, sondern wurde auch gleich verspeist. Sie befreit eine Mäusefamilie aus großer Not, für die der Weg zum Ein-Euro-Burger á la Nehammer zu weit war. Doch soziale Kälte mag unter konservativen Politiker*innen en vogue sein, nicht aber in der Torten-Gemeinschaft: Die Richtung wechselt, man bewegt sich durch den erzählten Raum zurück zum Ausgangspunkt und damit im Erzählraum der Doppelseiten gegen die Leserichtung wieder dorthin, wo Frau Hund mittlerweile zahlreiche Torten gebacken hat. Die kleine Festgemeinschaft, die sich nun rund um den Tisch versammelt ist deutlich angewachsen – und dennoch gibt es Torte für ALLE.
Gefeiert wird damit auch einmal mehr der Einfallsreichtum, mit dem Thé Tjong-Khing das Miteinander aus Figuren, Requisiten und Bewegung im Raum herstellt. Das Enträtseln der kleinen Handlungsstränge und das Entdecken der Details macht die Lektüre erneut mehr zum Tortengenuss. Samt Kirsche oben drauf und enthusiasmiertem Happy Birthday für Thé Tjong-Khing, der trotz „müder Zeichenhand“ noch einmal ein Tortenabenteuer in Szene gesetzt hat. Und das erneut spielerisch, witzig und exzellent!
Heidi Lexe
2016 war Thé Tjong-Khing zu Gast in der STUBE und auch schon damals hieß es: Torte für ALLE!
Um den Künstler, Torte und das Silent Book ganz grundsätzlich zu feiern, hat die STUBE eine neue Themenliste zusammengestellt, in der – Überraschung – auch „Torte für alle“ nicht fehlen darf. Zur Themenliste geht es >>> hier.
Für alle, die gemeinsam mit Heidi Lexe einen genauen Blick auf „Hiernoymus“ werfen wollen, wurde eine Einheit aus der Vorlesung aus dem Wintersemester 2020/2021 exklusiv im passwortgeschützen STUBE-Card-Bereich als >>> Video-on-demand zur Verfügung gestellt.
Wer noch keine STUBE-Card besitzt, findet >>> hier Information und Bestellformular.
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