Carlsen 2022.
192 S.

Susan Kreller: Hannas Regen

Wasser als Ursymbol des Lebens ist ein höchst ergiebiges literarisches Motiv, von der biblischen Sintflut über Quellen und Brunnen in Märchen und Legenden bis hin zu Gewässern in modernen Adoleszenzromanen wie Paulus Hochgatterers „Wildwasser“ (Deuticke 1997). In den Romanen von Susan Kreller findet sich Wasser, ganz physikalisch gesprochen, in unterschiedlichen Aggegratszuständen: In „Schneeriese“ (Carlsen 2015) war es mit zahlreichen Anspielungen auf Hans Christian Andersens „Schneekönigin“ gefrorenes Wasser, das zum Inbegriff der Krise wird und den jugendlichen Protagonisten (ausgerechnet in der Weihnachtsnacht!) fast erfrieren lässt. In „Elektrische Fische“ (Carlsen 2019) war es das Meer, aus dem Ich-Erzählerin Emma die psychisch kranke Mutter ihres Freundes Levin rettet. Und es ist wohl kein Zufall, dass im Musikvideo zu „Everything I wanted“, jenem Song von Billie Eilish, den Susan Kreller ihrem neuen Jugendroman „Hannas Regen“ voranstellt, zwei Personen in einem Auto im Wasser untergehen –I tried to scream but my head was under water.

Der Regen ist es also, der hier als Leitmotiv fungiert, und mit dem auch der Text beginnt:

Hanna beginnt im Regen.
Sie hört auch im Regen wieder auf, später, nicht jetzt, kein Grund zur Eile.

Diese Hanna, die eines Tages neu in die Klasse von Ich-Erzählerin Josefin kommt, geht nicht gleichgültig durch den Regen, sondern gefühlt entscheidet sie sich bewusst dafür, darin gleichsam unterzutauchen. Damit ist von Beginn an klar, dass mit diesem Mädchen etwas Schwerwiegendes „nicht stimmt“: sie reagiert oft nicht auf ihren angeblichen Namen, erzählt nichts aus ihrem Leben, lebt in einem seltsam sterilen Haus. Mit diesem Untertauchen Wollen im Regen ist die ganze Tragik ihrer Geschichte schon vorweggenommen – eine Tragik, die sich Josefin und den Leser*innen erst nach und nach erschließt (und die erst ganz am Ende in einem überraschenden plot twist aufgelöst wird). Der titelgebende Regen beziehungsweise ihr einzigartiger Umgang damit steht für Hannas Einsamkeit gleichermaßen wie für ihre Fähigkeit, allen Widrigkeiten zum Trotz zu überleben.

Wie in „Elektrische Fische“ werden auch hier zwei sehr spezielle Familienkonstellationen kontrastiert: So sehr Josefin unter den Skurrilitäten ihrer Familie leidet, so sehr spürt sie, wie Hanna in ihrer zwar vorhandenen, aber dennoch seltsam abwesenden Familie jede Geborgenheit vermisst und jede Chance gerne annimmt, ein bisschen an Josefins familiären Strukturen und Ritualen teilzuhaben. Rituale, zu denen so wunderbare schräge Dinge gehören wie internationale Wochen, an denen jeweils Speisen aus einem bestimmten Land gekocht werden, die aber regelmäßig so unessbar sind, dass nur der Griff zum Pizza-Notruf-Flyer bleibt.

Die moderne Jugendliteratur kennt wenige Tabus und so wurde in den letzten Jahren schon von unterschiedlichsten schweren Schicksalen berichtet. Inwieweit aber Hannas Leben durch Handlungen ihrer Eltern geprägt beziehungsweise beeinträchtigt wird, ist wohl singulär. Singulär sind auch die Sprache und der Erzählton, in dem Susan Kreller von diesem Leben erzählt. Der Roman ist voller Sätze, die man sich entweder unterstreichen oder rausschreiben möchte (oder beides), wenn Josefin etwa formuliert:

Ich glaube, manche Menschen tragen ihr Verschwundensein schon die ganze Zeit in sich.
(S. 181)

Zu diesem Verschwundensein gehört in Hannas Fall, so viel sei verraten, dass sie offenbar häufig ihren Wohnort wechseln musste und dabei nichts mitnehmen konnte. Bis auf einen Gegenstand: ein zerfleddertes Taschenbuch mit dem mehr als kuriosen Titel „Gotische Kirchen bei Lichte besehen“. Dieses abgenutzte Buch ist für Hanna gleichermaßen Heimat wie Rettungsanker, Kissen wie Zuflucht und sagt in seiner Skurrilität mehr über ihre Verfasstheit aus als jede wortreiche Beschreibung. So ist es auch ein ganz besonderer Moment dieses besonderen Textes, als Hanna Josefins Weihnachtsgeschenk auspackt: ein Schlüsselanhänger in Form eines gotischen Fensters, mit Batterien, die das Glas in wunderschönen Farben erstrahlen lassen. Eine Symbolik, die neben der Geste, ein Geschenk zu bekommen, das so perfekt zu dem passt, wonach sich die Beschenkte zutiefst sehnt, natürlich auch als Verweis auf das Transzendente gelesen werden kann.

Als Hanna nicht wie vereinbart zu einem der internationalen Abende kommt und Josefin dieses Buch, Hannas Zuhause, vor ihrer Tür findet, ist ihr sofort klar, dass sie Hanna für immer verloren hat – auch wenn vor dem verlassenen Haus nirgends ein Krankenwagen steht, auch kein schlimmerer, dunklerer Wagen, nichts. (S. 169.)

Bei allem Schmerz über den nicht unerwarteten, aber dennoch plötzlichen Verlust der Freundin wird am Ende des Romans mit jener Widerstandskraft, die wohl auch Hanna retten wird, ein zutiefst tröstlicher Satz formuliert:

Alles, was je geleuchtet hat, bleibt.
(S. 187)

Ein Satz, der nicht nur zu Hannas Geschichte passt, sondern auch zu jener Geschichte rund um den Stern von Bethlehem, die am Ende dieses Monats wieder öfter erzählt werden wird.

Kathrin Wexberg

Im Roman „Hannas Regen“ spielt ein liebevoll ausgewähltes Geschenk eine wichtige Rolle. Weitere Ideen zum Verschenken finden sich in der aktualisierten und erweiterten Buchliste >>> zu verschenken …

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