Kröte des Monats November 2022
Gerstenberg 2022.
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe und Oksana Semenets.
o. S.
Romana Romanyschyn und Andrij Leesiw
Als der Krieg nach Rondo kam
Den Krieg erklären.
Gemeint ist damit einerseits ein völkerrechtlicher Akt, der laut dem Übereinkommen der II. Haager Friedenskonferenz eine unzweideutige Benachrichtigung beinhaltet, ohne die Feindseligkeiten nicht beginnen dürfen. Nicht nur über diese völkerrechtliche Übereinkunft setzt Russland sich mit der Annexion der Krim im Frühjahr 2014 hinweg. Der seitdem andauernde Krieg erhält mit dem Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 neue Brisanz als „europäischer“ Krieg.
(Vielfach nicht bedacht in diesem Zusammenhang wird die Tatsache, dass es sich natürlich bereits beim Bosnienkrieg 1992-1995 um einen nach 1945 stattfindenden Krieg auf europäischem Boden gehandelt hat.)
In seiner Unfassbarkeit hat der Ukraine-Krieg sowohl (geo-) politische und wirtschaftliche Bedeutung als auch frappante Alltagspräsenz durch die erschütternden Bilder und Erfahrungen von Zerstörung, Tötung, und Vertreibung.
Den Krieg erklären.
Gemeint ist damit auch der Versuch, (nicht nur) Kindern zu vermitteln, was Krieg bedeutet. Welche menschlichen Erfahrungen damit verbunden sind. Welche Ängste, welches Leid. Anlassbezogen wird der Kinder- und Jugendliteratur dabei eine didaktische Funktion zugeschrieben. Erwartet wird dabei weniger das Erzählen von Grunderfahrungen, das sich in zahlreichen Werken widerspiegelt (siehe dazu die STUBE-Themenliste >>> Konflikt und Krieg), sondern gerne auf die spezifische Situation hin ausgerichtete Erklärungsmodelle. Aber:
Kann man Krieg erklären?
Die beiden wesentlichen Aspekte dafür sind historisches Wissen und individuelles Erleben. Beides findet in historischen, respek-tive zeitgeschichtlichen Roman zueinander.
(Exemplarische, aktuelle Beispiele wurden im März 2021 auch im Rahmen eine Online-STUBE-Freitags zum Thema
>>> Literarische Erinnerungskultur vom STUBE-Team gemeinsam mit dem Zeithistoriker Tobias Röck diskutiert.)
Solche Erfahrungen auf eine narrative Metaebene zu bringen, erscheint schwierig; doch gerade in exemplarischen, oftmals ins Anthropomorphe gewendeten Geschichten zu existentiellen Fragen liegt eine der Stärken einer wertigen Kinder- und Jugendliteratur. Einer, die nicht (nur) themenbezogen abhandelt, sondern künstlerisch ausformuliert. Eine wie die poetische Bilderbuchgeschichte der beiden ukrainischen Künstler*innen, die unter dem Eindruck der kriegerischen Handlungen in der Ukraine nach der Krim-Annexion entstanden und nun (endlich) auch auf Deutsch erschienen ist. (Zugegeben anlassbezogen …)
Gerade in den vergangenen Oktober-Tagen waren die Bilder unterschiedlicher Nachrichtenportale geprägt von einem ukrainischen Leben im Dunkeln – bedingt durch die gezielte Zerstörung der Strom-Infrastruktur. Wenn Romana Romanyschyn und Andrij Leesiw also das Dunkel künstlerisch nutzen, hat dessen metaphorische Bedeutung auch eine real-fiktionale Komponente. Dennoch wird es hier zuallererst zu einem sichtbaren Ausdruck des Schreckens: Mit dem Umblättern wandelt sich das Lichte und Blühende, das bis dahin beschrieben wird, wie aus dem Nichts ins Grafitgraue: Der Krieg kommt in die Stadt. Wo Freund*innen einander eben noch von ihren Reisen erzählen, wo Leute geschäftig hierhin und dahin laufen, wo die Sonne scheint und Vögel singen, wird es plötzlich ganz still und: Ein aufgeregtes Flüstern lief durch die Straßen. Mit dem Umblättern ergießen sich wilde Tuschelemente über die Seite und schwarze, dornige Blütenstängel ziehen die Blick auf sich. Die Erzählbewegung von links nach rechts, die bisher verschlungen verlaufen ist, mündet in eine schnurgerade Panzerstraße.
Der Krieg kommt in die Stadt.
Aus der Luft werden die dominanten Lettern als Bildelement auf dieser Straße abgesetzt – begleitet von kleinen, collagierten Panzern, die zeichenhaft für das Überfahren des Friedens in Szene gesetzt werden. (Einmal mehr. Man denke zum Beispiel an die Bilder von der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Auch der Annexion der Krim gingen ja die so genannte Revolution der Würde, die Demonstrationen auf dem Majdan voran.) Mit erneutem Umblättern scheint alles zu explodieren, schnellt aus dem Schwarz die wortwörtliche Panzerfaust hervor: der Arm einer darüber hinaus nie körperlich sichtbaren, allegorischen Kriegsfigur, die eine Sprengbombe in der Hand hält. Ein zweiter Blick zeigt: Es handelt sich um eine Marionetten-figur. Die Frage lautet also: Wer zieht die Fäden, wenn der personifizierte Krieg losgeschickt wird. Ist es immer nur ein einzelner Puppenspieler? Die erwartbaren Folgen jedenfalls sind verheerend: Verzweifelt, schützend, sich ergebend hebt ein kleines Lichtmännchen die Hände – hinter sich das Gewächs-haus, das Zentrum von Rondos blühendem Leben.
Das Glühbirnenmännchen Danko ist eine von drei anthropo-morphisierten Figuren, deren Handeln beispielhaft durch die Geschichte führt. Zu ihm gesellen sich Fabian, pinker Pudel und Schatzsucher, und Sirka, die reiselustige PapierVogel-Lady. Sie verzweigen sich in der Welt von Rondo, auf die zu Beginn des Bilderbuches der Blick wie durch die Lupe des roten Google-Maps Markers fällt. Als städtisches Rund, als Rondeau, wird die Stadt in einer stilisierten, landkartenähnlichen Aufsicht präsentiert. Die Ästhetik erinnert an Peter Sís – auch wenn die beiden Künstler*innen nicht zeichnen, sondern einen Stilmix nutzen, in den immer wieder auch fotorealistische Elemente einfließen. Alles erscheint hier grazil und kleinteilig; Details werden aufgegriffen und stilistisch hauchzart verdoppelt. Die floralen Elemente erhalten dabei niemals einen nach Harmonie heischenden Charakter. Vielmehr präsentiert jedes Detail für sich die Würde jener, die in Rondo leben und sich um Rondo bemühen; sie repräsentieren die Integrität von Rondo selbst.
Doch: Der Krieg verschonte niemanden.
Alles gerät in sichtbare Schieflage, „denn der Krieg hatte kein Herz“. Er kriecht wortwörtlich aus allen Löchern und in alle Winkel und lässt die schwarzen Blumen der Vernichtung wachsen. Die unterschiedlichen Symbole werden damit gespiegelt genutzt: Die vielgestaltigen Blüten im Gewächshaus werden den kantigen Stängeln des Krieges gegenübergestellt; das ineinander verschlungene Rund Rondos wird ins Eckige und Unüberwind-bare überführt. Die erneut ins Bild gesetzte landkartenähnliche Aufsicht ist nun an den Rändern angekokelt, die zarten Details gebrochen, rauchend und rußgeschwärzt, wenn überhaupt noch vorhanden.
Auch die märchenhafte Befreiung aus der Bedrohung hat spiegelbildlichen Charakter: Dem Dunkel wird das Licht ent-gegengesetzt. Dem Kantigen das Runde in vielgestaltiger Form. Den Ausgang nimmt dieses Licht in Danko, dem Glühbirnen-männchen. Er alleine jedoch kann mit seiner Fahrradlampe nur für einen Überraschungseffekt sorgen. Für ein kurzes Innehalten. Der Versuch, die Dunkelheit nachhaltig zu zerstören bedarf der Anstrengung Vieler, um nicht zu sagen Aller:
Die unterschiedlichsten kleinen Rädchen werden herangerollt, die Kräfte versammelt, um eine einzige große Lichtmaschine in Stellung zu bringen und damit den personifizierten Krieg erstarren zu lassen. Die Dunkelheit schrumpfen zu lassen.
Gemeint kann damit eine zivilgesellschaftliche Eigenverant-wortung gleichermaßen sein wie die gemeinsame Kampf-Anstrengung; gemeint kann der Glaube an die Kräfte des/der Einzelnen sein, die zu einem Kollektiv zusammenwachsen. Oder aber Fiktion bleibt einfach Fiktion. Denn letztlich bedarf es der Utopie: Danko, Sirka und Fabian und alle anderen Bewohner sangen mit den Blumen zusammen die Hymne von Rondo.
Man könnte es Glauben (an sich selbst) nennen. Man könnte es die Kraft des Kindlich-Naiven einer neuen Generation nennen. Sichtbar wird auch und gerade an der wunderschönen, künstlerisch durchkomponierten Gestaltung des Bilderbuches, dass es sich nicht um den Entwurf realpolitischer Möglichkeiten handelt. Sondern um einen literarischen Versuch, (Kindern) den Krieg zu erklären; dabei den eigenen Emotionen Gültigkeit zu verleihen und die eigenen Widerstandskräfte zu aktivieren. Um einen Gegenpart zur Gleichgültigkeit zu schaffen – symbolisiert in den Mohnblumen, die den Wiederaufbau Rondos begleiten und als Erinnerungssymbol an die Kriegsgefallenen ausgewiesen werden. Denn:
Die Bewohner waren nicht mehr dieselben. Jeder hatte traurige Erinnerungen an die Zeit, als der Krieg nach Rondo kam und die Stadt für immer veränderte.
Heidi Lexe
Die dazu passende Themenliste >>> Konflikte und Krieg wurde außerdem um Titel der aktuellen Herbstproduktion ergänzt.
Und: im passwortgeschützten >>> STUBE-Card-Bereich wurden die ebenfalls thematisch passenden >>> Videos-on-demand vom STUBE-Freitag "Literarische Erinnerungskultur“ wieder online zur Verfügung gestellt.
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