STUBE-Freitag: TR.21.3.19. Literarische Erinnerungskultur
Zu Gast: Zeithistoriker Tobias Röck
19. März
Den letzten "echten" STUBE-Freitag gab's im Oktober. Dass man seitdem nicht gänzlich verhungert ist, liegt daran, dass das STUBE-Team unermüdlich Bücherlisten erstellt und dass es über unbegrenzten Einfallsreichtum verfügt, wenn es darum geht, flexibel auf das dynamische Pandemiegeschehen zu reagieren und die STUBE-Community verlässlich mit KJL-Content zu versorgen. Das verdient - jetzt, hier, sofort! - einen heftigen Applaus.
Danke!
Der wieder digitale STUBE-Freitag im März widmet sich der literarischen Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte und Erinnerungskultur sowie dem Miteinander von Fakt und Fiktion im historischen Jugendroman. Fokussiert wird dabei auf das Ende des Zweiten Weltkriegs und die unmittelbare Zeit danach. Den zeithistorischen Blick auf die Lektüre steuert Tobias Röck bei, Zeithistoriker mit Stationen am Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands, an der Hebrew University Jerusalem und bei ORF3-Zeitgeschichte.
Heidi Lexe bespricht mit ihm zunächst Grundsätzliches zum Begriff Zeitgeschichte, der wenig präzise definiert ist, sich aber vor allem an der Zeitgenossenschaft orientiert und entsprechend in Bewegung ist. Erinnerungskultur lebt vor allem von der Zeitzeugenschaft und erfragt, wie Ereignisse erinnert werden und wie sie sich im kollektiven Gedächtnis niederschlagen. Sie ist aber auch geprägt vom Verdrängten und Vergessenen, also vom nicht-erinnern-wollen.
Literatur als Medium kulturellen Wissens leistet hier einen Beitrag, der anders als die Geschichtsschreibung mit dem Umweg über das Fiktionale erhellend wirken kann. Jede Autor*innen-Generation geht dabei spezifische Wege der Annäherung und Recherche.
Kathrin Wexberg spricht mit Tobias Röck über Leonora Leitls „Held Hermann. Als ich Hitler im Garten vergrub", das den Zeitraum von etwa einem Jahr rund um das Kriegsende im oberösterreichischen Freistadt beleuchtet. Mit der Leichtigkeit einer Lausbubengeschichte und einem feinen Gespür für Situationskomik beginnt die Geschichte und wird immer ernster und bedrohlicher. Leonora Leitl hat Alltagsgeschichtliches wie das Wäschewaschen am Fluss penibel recherchiert und an der eigenen Familiengeschichte Maß genommen - fiktionalisierende Anpassungen inklusive. Tobias Röck schmälert nur den optimistischen Blick auf die kindliche Widerstandskraft gegenüber der Indoktrination und persuasiven Macht der HJ.
Claudia Sackl stellt Verena Kesslers „Die Gespenster von Demmin" vor, das den kollektiven Selbstmord eines Dorfes aus der Perspektive einer Zeitzeugin und der heute jungen Generation schildert. Tobias Röck erörtert dazu, wie die politisch-militärische Niederlage des Dritten Reichs massenpsychologischen Impact generierte und Suizide keine Seltenheit waren. Auch hier ist es die Literatur, die sich anders als die Geschichtsschreibung Leerstellen erlauben kann, die durchaus zum Trigger eigener Recherche werden können.
Alexandra Hofer präsentiert Kirsten Boies „Dunkelnacht", das die Ereignisse einer historischen Nacht erzählt, in der kurz vor Kriegsende die Vorbereitungen zu einer kommenden Nachkriegsordnung auf die Durchhalteparolen fanatischer Ideologen prallen. Tobias Röck erklärt den Begriff der Endphaseverbrechen und die diffuse Lage zu Kriegsende, die viele Gräueltaten begünstigte.
Heidi Lexe bringt mit Monica Hesses „Sie mussten nach links gehen" ein weiteres Beispiel für die diffuse Lage zu Kriegsende und die chaotischen Zustände nach dem Krieg in den „displaced persons"-Lagern. Damit verdeutlicht sie auch noch einmal die unterschiedlichen Recherchebedingungen der Autorinnen, angefangen von Käthe Recheis („Das Schattennetz"), die als Zeitzeugin aus eigenem Erleben erzählen konnte, über Leonora Leitl, die ihren Großvater befragen konnte, bis hin zu Verena Kessler und – noch weiter weg – Monica Hesse, denen kein persönlicher Bezug abrufbar zur Verfügung stand, sondern reine historische Recherche.
Die eigene Geschichte und das Erinnern in Einklang mit der Gesellschaft zu bringen, ist die Herausforderung, vor der Zeitgeschichte steht. Sie ist demnach auch ständig bemüht, Quellen zu generieren, solange dies möglich ist. Gleichzeitig bedarf Geschichte auch einer gewissen Distanz, die einen sachlichen Blick auf die Akteure ermöglicht. Literatur verfügt hier über die Freiheit, Fakt und Fiktion auszubalancieren, und tut dies bestenfalls im Dienste der Wahrhaftigkeit.
In diesem Sinne darf man gespannt sein, was unsere Zeitzeugenschaft einst zutage bringen wird.
Ein Bericht von Alexandra Holmes
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