Hanser 2016. 256 Seiten, € 15,40 / 368 Seiten, € 17,40 / 464 Seiten, € 18,50

Mats Wahl: Sturmland. Band 1 bis 3

Dystopie ≠ Altruismus
„What’s altruism?” Eine abstruse Frage, die in der TV-Serie „Gotham” (Folge 1.5 Viper) mit einem gehörigen Maß an Situationskomik von einem erwachsenen Mann, von keinem Geringeren als Lieutenant Harvey Bullock gestellt wird. Ein hartgesottener, mit allen Mitteln gewaschener Polizist, der neben James Gordon (in diversen Batmanadaptionen als Commissioner Jim Gordon bekannt) eine zentrale Rolle spielt, hat keine Ahnung von dem maßgeblichen, menschlichen Konzept namens Altruismus. Die titelgebende Stadt des DC-Helden Batmans, die während des >>>Superheld*innen-STUBE-Freitags eine wesentliche Rolle spielte, wird selbst zum Hauptakteur, versinkt in Kriminalität, Korruption sowie Gewalt und wird dadurch zu einem durch und durch dystopischen Raum. Mit Bullocks Frage nach Altruismus sowie dem Verweis auf dessen Nicht-Existenz ist ein zentrales Kriterium der Dystopie genannt.

Sturmland = Familie
Mats Wahls Sturmland-Reihe wird als Dystopie rezipiert beziehungsweise vermarktet und Altruismus spielt auch hier (k)eine wesentliche Rolle. Die Romanheldin Elin ist 16 Jahre alt, kämpft in einer lebensfeindlichen, regimegeführten, technologisierten Zukunftsvariante Schwedens, sie wird von Polizei, Clans und Banden bedroht und hat in Band 3 bereits drei Menschen getötet, womit sich jener Bereich, in dem Mitmenschlichkeit praktiziert werden kann, auf die engste Gesellschaftseinheit reduziert: die Familie. Altruistische Handlungen außerhalb des Familienkreises werden auf diese Weise auch in der Sturmland-Saga kategorisch ausgeschlossen. Das Gefühl, dass Rückhalt und Schutz nur noch im nahen Familienkreis zu finden sind und so alle anderen Entitäten zu Feinden macht, resultiert in einer perfiden Welt, die den Figuren durch naturbedingte Umstände zusätzlich lebensfeindlich entgegentritt: „Was für eine Zukunft bleibt, wenn selbst die Natur gegen dich ist?” lautet eine Frage auf dem Folder des Hanserverlags, der die Pentalogie mit auffallenden, neonfarbenen und dennoch minimalistischen Cover bewirbt und im Herbst 2017 mit dem Band „Die Liebenden” finalisieren wird.

Themen ≠ Spoiler-Alarm!
Im Mittelpunkt der dystopischen Romanreihe stehen das Leben sowie die Entwicklung Elins und die Wechselwirkung zwischen der antiutopischen Welt und der starken Mädchen- beziehungsweise Frauenfigur. Ohne viel verraten zu müssen, kommt es zu einem radikalen Prozess, dem sich Elin teils freiwillig, teils unfreiwillig aussetzt. Während Band 1 von einem archaischen Überlebenskampf zwischen Familien berichtet, Band 2 ein ordentliches Mehr an Technologie(-kritik) samt Überwachungsstaat und Robotisierung einbringt, wird in Band 3 die politische Domäne strukturgebend. Neben diesen universellen und zugleich aktuellen Themen, arbeitet Mats Wahl eine Vielzahl an weiteren Problematiken der Gegenwart ein, die sich Elin und den Leser*innen jedoch nicht belehrend oder tendenziös in den Weg stell(t)en. Wie es sich für Abenteuernarrationen gehört, denn das sind die Romane auch, legt die Protagonistin viele Meter zurück und trifft dabei auf ein ausdifferenziertes Figurenarsenal. Teaser: im dritten Band spielt Schwedens fiktionalisierte Königin eine nicht unwesentliche Rolle.

Form = Kritik
Die beiden ersten Bände sind in Gesa Kunters deutscher Übersetzung im Februar 2016 erschienen, Band 3 im August. Das Feuilleton, Blogger*innen, Autor*innen und Leser*innen hatten somit schon ausreichend Zeit, um zur Halbzeit der Reihe Stellung zu beziehen. Die Bandbreite der Einschätzungen ist groß und reicht von „Der Stil hat mir das Leben schwer gemach.” (Zitat einer Userin auf lovelybooks.de) bis zu Ursula Poznanskis Klappentext-Zweizeiler „Eine starke Heldin in einer düsteren Zukunft – Mats Wahls Dystopie ist ebenso spannend wie realitätsnah.” Kritik wird vor allem an drei Aspekten geübt: Ob der schwachen Figurencharakterisierung, der Aussparung von Informationen zur dystopischen Welt und der „gewöhnungsbedürftigen” Sprache scheint sich social media und das Feuilleton einig zu sein. Doch genau diese Kritikpunkte verweisen auf das Novum und die Stärken der Wahl’schen Dystopie-Form. Einerseits ist es die Erzählweise, die den Suspense generiert: Mats Wahl überlässt es den Leser*innen, Bilder für die zugleich sozial verrohte und technisch dominierte Welt zu finden. Andererseits ist es die implizite Einbettung gegenwärtiger Themen, die im Kontext von Politik, Überwachung, Robotisierung etc., das Genre neu definiert: detailverliebte Schilderungen, die in dystopischen Texten oft bis zur exakten Funktionsweise kleiner leuchtender Buttons reicht, weichen zugunsten einer Dystopie der Leerstelle, die uns eine angenehm unbeteiligte Erzählerstimme, in 3. Person Präsens vorsetzt. Daher ist wohl auch eine Referenz zur Bühne herzustellen. Mats Wahl lässt Innensichten und somit Psychologisierungen außen vor und charakterisiert eine in der Zukunft liegende Gesellschaftsform sowie deren soziale Prozesse über die Figurenhandlung, über den Dialog und über das dystopische Setting. Diese Lebenswelt gleicht einem minimalistischen Bühnenbild, das den Leser*innen ein hohes Maß an Imaginationsspielraum anbietet und unweigerlich zu einer unangenehmen Frage führt: „What’s altruism?”

Wie es Mats Wahl mit Altruismus hält, welche Zukunftsbilder er imaginiert, ob er Ursula Poznanski kennt, was es mit der schwedischen Königin auf sich hat und viele andere Fragen, wird Mats Wahl im Rahmen eines STUBE-Freitags „Außer der Reihe” am Mittwoch, 9. November 2016, ab 19 Uhr im Lesesaal der Fachbereichsbibliothek Germanistik, Nederlandistik und Skandinavistik an der Hauptuniversität Wien beantworten. Lesen wird er auch! Aus „Sturmland” natürlich!

Peter Rinnerthaler

>>> hier geht es zu den Kröten 2016