Booklet im Oktober

Heinz Janisch und Michaela Weiß: Gazelle. Bibliothek der Provinz 2024.
Alexandra Holmes und Judith Vrba: Und wenn ich dann ankomme ... Tyrolia 2024.
Emotionale Suchbewegungen
Zwei Bilderbücher, die den Raum für kindliche Gefühlswelten schaffen
„Wenn Lioba traurig ist, verwandelt sie sich manchmal in eine Gazelle.“
Diesen scheinbar so schlichten Satz setzt Heinz Janisch an den Beginn eines poetischen Textes, der in knappen, versartigen Passagen dem Gefühlsleben eines Kindes folgt. Natürlich hätte dieser Satz auch der Beginn eines phantastischen Romans sein können. Doch wer den heuer mit dem (als Nobelpreis der Kinder- und Jugendliteratur geltenden) Hans Christian Andersen-Preis ausgezeichneten Autor kennt, weiß, dass sein Metier die kleinen Formen sind. Dafür aber lässt Heinz Janisch das Phantastische zum Fantastischen werden – zu einem Spiel mit der kindlichen Vorstellungskraft; zu einem literarischen Ausloten kindlicher Erfahrungshorizonte, die vom magischen Denken mit-bestimmt werden. Und wer die stets lyrisch beeinflussten Text-Miniaturen von Heinz Janisch kennt weiß auch, dass hier ein Autor die Kraft seiner Texte stets intensiviert, indem er sie in Korrespondenz mit den Illustrationen namhafter (österreichischer) Künstler:innen treten lässt.
Im Fall von „Gazelle“ (erschienen im Verlag Bibliothek der Provinz) sind es die hauchzarten Radierungen der Buchkünstlerin Michaela Weiss, in denen Mädchen und Gazelle zu Beginn des Bilderbuches übereinander geschoben werden. Das Mädchen bleibt zurück; die zartgliedrige Gazelle hingegen übernimmt in ihrer „katzenstillen“ Art und mittels eleganter Sprünge das nächste Stück Weg ins Leben. Zurück bleibt damit auch die Traurigkeit, sodass die handkolorierten Farbakzente schmetterlingsartig aufgefaltet werden, denn: „Lioba, die Gazelle, liebt das Leben.“
Erst dieses Vexierbild, mit dem die kindliche Gefühlswelt an- und ausgesprochen wird, ermöglicht es Lioba, wieder zu sich selbst zu finden: „ Aus der Gazelle wird wieder Lioba. / Einfach so. / So einfach. / Mit einem Gedanken.“ Michael Weiss holt das Bild des Mädchens wieder hinter jenem der Gazelle hervor und zeigt Lioba still und selbstversunken in jener Lese-Situation, in der sich Liobas eigene Geschichte spiegelt. Kinderliteratur, so wird im Miteinander von Bild und Text deutlich, vermag mehr als nur mimetisches Abbild kindlicher Realität zu sein. Sie vermag mehr als evasorische Welten zu etablieren. Sie vermag innere und äußere Wirklichkeiten in Schwebe zu halten.
Liobas wortwörtliches Ankommen bei sich selbst zeigt die Bedeutung des künstlerisch ausgestalteten Bilderbuch-Raumes – insbesondere dort, wo kindlichen Emotionen nach-gegangen wird. Ein avanciertes Moment der Buchgestaltung vermag die Komplexität von Gefühlswelten zu spiegeln – wie auch im Fall des Bilderbuches „Und wenn ich dann ankomme“ (erschienen im Verlag Tyrolia) von Alexandra Holmes und Judith Vrba. Die beiden Künstlerinnen nutzen den gesamten Buch-Körper, um den gleichen Plot zweimal zu erzählen: Einmal unterlegt mit Vorfreude, einmal mit Ungewissheit. In beiden Fällen macht ein kindliches Ich sich bereit, um aufzubrechen. In einem Fall ist damit eine Urlaubsreise gemeint. Dreht man das Buch um, ist damit ein Wegziehen gemeint (das als Umziehen gleichermaßen gelesen werden kann wie als Flucht). Von den zwei Seiten des Wendebuches aus erzählt, werden die Geschichten gegenläufig angeordnet und dabei so ineinandergeschoben, dass einzelne Motive des Gedankenspiels der beiden (illustratorisch ausgesparten) Ich-Erzähler:innen auf je einer Doppelseite aufeinandertreffen.
Um die beiden Geschichten auch wirklich ineinander verzahnt „lesen“ zu können, sollte das Buch in die Waagrechte gekippt werden. (Man lege es auf den Tisch, den Boden, das Sofa, die Bettdecke …) Damit eröffnet sich eine drehscheibenartige Anordnung der Bildwelt, in der die Gruppierung der zahlreichen Bildelemente und Requisiten durch einen Blick-Wechsel um 180 Grad jeweils eine veränderte Wahrnehmung der scheinbar gleichen Situation ergibt. Wie eine Kompassnadel schlagen die zahlreich zu entdeckenden, illustratorischen Details aus – ein leerer Koffer in einem angeräumten Zimmer wird zu einem überfüllten Koffer in einem leeren Raum; ein hoffnungsvoll gespitzter Bleistift wird zu einem zerbrochenen. „ … dann lass ich die Tauben daheim im Schlag. Sie drehen ihre Runden auch ohne mich.“ / „ … dann hätte ich gern meine Tauben mit, zur Sicherheit, man weiß ja nie.“
Auch hier sorgen Monotypien, die durch Farb- und Buntstiftelemente angereichert werden, für den Eindruck, dass Wahrnehmungsebenen einander überlagern. Dass dieselben Bilddetails je nach emotionaler Befindlichkeit anders gelesen werden können. Auch hier wird ein kindlicher Erfahrungshorizont durch die Bewegung im (Buch-) Raum erforscht – und den Figuren mit dem Ankommen eine Neu-Verortung im eigenen Leben ermöglicht.
Heidi Lexe
>>> hier geht es zum Lektorix-Archiv
