Fernkurstagung: faktual | fiktional
faktual | fiktional.
Tagung im Rahmen des Fernkurs Kinder- und Jugendliteratur der STUBE
18. – 19. Februar 2022 | Wien
Das Highlight in jedem STUBE-Fernkurs war, ist und wird immer sein die Tagung, die seit STUBE-Gedenken im Bundesinstitut für Erwachsenenbildung (Bifeb) am Wolfgangsee stattfindet.
Stattfinden sollte.
Heuer nicht stattgefunden hat.
Fakt.
Sondern in Wien, denn wie der Veranstaltungsseite der STUBE zu entnehmen ist, versteht es das STUBE-Team seit geraumer Zeit ganz ausgezeichnet, dem „dynamischen Pandemiegeschehen" Paroli zu bieten. Die Tagung wurde also nach Wien verlegt in den mittlerweile allseits bekannten Stefanisaal. Es wird gemunkelt, dass genau deshalb das Standbild des Heiligen Wolfgang auf der Brücke zum Bifeb etwas düpiert in die Landschaft blickt, doch bei dieser Überlieferung handelt es sich möglicherweise um
Fiktion.
Für den Eröffnungsvortrag konnte niemand Geringerer als DIE Expertin für historisches Erzählen und Erinnerungskultur in der Kinder- und Jugendliteratur gewonnen werden: „Alles genau so in Echt passiert" betitelte Gabriele von Glasenapp ihren Vortrag und fragte nach der Fiktion des Realistischen. Kann, so lautete eine der Eingangsfragen, eine unsichtbare Figur als Erzähler eines realistischen Krimis etabliert werden? Gabriele von Glasenapp gab einen historischen Überblick zur Frage nach der literarischen Authentizität und zeigte die Herausforderungen des Miteinanders von Fakt und Fiktion an ausgewählten literarische Beispielen wie John Boynes "Der Junge im gestreiften Pyjama" oder Robert Domes "Waggon vierter Klasse".
Am Abend begrüßte Heidi Lexe Alois Prinz, der aus seiner Biographie über Simone de Beauvoir vorlas, bevor er im Gespräch Einblick in sein Schaffen gewährte. Stimmungsvoll begleitet wurden Lesung und Werkstattgespräch von Double-C aka. Christof Trimmel am Klavier und Christoph Braunstein am Cello.
Aus einem „bücherlosen Haushalt" stammend wollte Alois Prinz einen schreibenden Beruf ergreifen, und um den Schock im Elternhaus möglichst gering zu halten, wandte er sich zunächst dem Journalismus zu, hegte aber bald den Wunsch, sich ausführlicher einem Thema widmen zu können.
Das Schreiben von Biographien vereint den wissenschaftlichen Bereich der Recherche mit dem künstlerischen des fiktionalen Schreibens. Dabei beginnt der kreative Akt bereits in der Recherche, in der eine erste Wertung und Auswahl getroffen wird: „Die Geschichte tut uns nicht den Gefallen, sich zu ordnen." Schon im Tagebuch selektiert man die eigene Lebensrealität. Somit bedeutet eine neue Biographie nicht unbedingt neue Erkenntnisse zu einer Person, sondern eher eine neue Lesart der Figur.
Alois Prinz wählt die Person, über deren Leben er schreibt, nach zwei Hauptkriterien aus: Es muss ausreichend Material vorhanden sein (im Fall von Simone de Beauvoir Briefe und Tagebücher), und es muss eine gewisse Irritation geben, durch die ihn die Figur in ihren Bann zieht. Allen von ihm beschriebenen Menschen ist dabei gemein, dass Leben und Werk ineinander verwoben sind und einander bedingen.
Er betonte die Wichtigkeit, ein Leben nicht vom Ende her zu erzählen mit dem Wissen und der Wertung das Rückschauenden, sondern die Wendepunkte herauszuarbeiten, an denen ein Mensch die Freiheit hatte, auch einen anderen Weg einzuschlagen. "Ein Biograph ist ein Bilderzerstörer." Das Bild zertrümmern, um das Werden zu zeigen.
Der Samstag stand ganz im Zeichen von MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) Büchern.
Alexandra und Michael Ritter begannen ihren Vortrag „Klimaretter:innen gesucht" mit einem Überblick zur Entwicklung des Themas Naturschutz in der Kinder- und Jugendliteratur und analysierten anhand von vier Beispielen, wie das (Sach-)Bilderbuch Klimawandel und Umweltschutz thematisiert. Standen zunächst Aufklärung und Wissensvermittlung im Vordergrund, so griff eine immer stärkere Politisierung und Emotionalisierung um sich, die das Kind nicht nur informiert und aufklärt, sondern zum Handeln aufruft. Dabei wird durch das Ausblenden der Erwachsenen ein Kindheitsmythos inszeniert, der Kindern Entscheidungs- und Handlungskompetenz zugesteht, die sie zumindest in der dargestellten Reichweite kaum haben. Zukunftsängste werden geschürt, denen man sich nur heldenhaft wie Greta entgegenwerfen kann, und neben all der Sachinformation bleibt ein katechistisch erhobener Zeigefinger zurück, der befreienden Humor vermissen lässt. Die vier präsentierten Titel waren Beispiele für Bücher, die als didaktische Instrumente eines Vermittlungskontextes bedürfen.
Sonja Loidl betitelte ihre Spurensuche nach Autor*innenbildern im Kontext aktueller Jugendliteratur mit „Als Master of Arts verfügt er über keine nennenswerte Bildung". Das Zitat ist der Kurzbiographie von Fantasy-Autor Jay Kristoff auf der Website des Rowohlt-Verlags entnommen, wo die Parodie einer Biographie auch den Zeitpunkt des zu erwartenden Ablebens des Autors immer wieder aktualisiert. Ausgehend von einer Genie-Ästhetik, die das Autorenbild der bildungsbürgerlichen Leserschaft bestimmte, bis hin zur theoretischen Dekonstruktion und Entsakralisierung des Autors durch Roland Barthes ging der Streifzug. Als Beispiele aus der gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur dienten Andreas Steinhöfel mit "Der mechanische Prinz" und Holly-Jane Rahlens mit "Das Rätsel von Ainsley Castle". Beide schreiben sich und ihre Autorschaft in das Werk ein, und beide inszenieren sich auf unterschiedliche Weise in ihren Internet- und Social Media-Auftritten. Clichéüberfrachtet und deshalb für Erheiterung sorgend war schließlich das Beispiel von Neil Gaiman in der Reihe Masterclass. Abschließend wurde auch das signierte Buch als Erinnerungsstück an eine persönliche Begegnung, aber auch als vermeintliche persönliche Verbindung, wo tatsächlich Distanz herrscht, präsentiert.
Am Nachmittag ging es hinaus in die Stadt. Zur Wahl standen vier verschiedene MINT-Spaziergänge, die – begleitet von Expert*innen – die Gegenüberstellung von fiktionalen und Sachbuch-Texten mit ausgewählten Orten verknüpften.
So führte Heidi Lexe mit Kulturtechniker Christoph Braunstein zum Thema Wasser von der historischen Jugendstil-Toilette am Graben über die Feuerwache am Hof bis zum Donaukanal. Claudia Sackl machte sich mit Ärztin Elisabeth Riedler unter dem Motto Gesundheit vom Schottentor zum Alten AKH, zur Pathologie und zum Narrenturm auf. Alexandra Hofer erkundete mit Restauratorin Magdalena Schindler sakrale Architektur, was in unmittelbarer Nachbarschaft zum Stephansdom nicht all zu lange Wege mit sich brachte. Sarah Auer und Julia Lückl erforschten mit Roboterbauer David Gerhard zum Thema Robotik unter anderem die Anker-Uhr am Hohen Markt.
Wer lieber im windgeschützten Stefanisaal bleiben wollte, konnte sich in einem Workshop mit Andrea Kromoser unter dem Titel „Kinderliteratur für MINT-Momente" Anregungen zur Lektüre und Vermittlung von faktualer und fiktionaler Kinderliteratur holen.
Zum Ende der Tagung gab es Blumen für das Team und Sekt für alle Teilnehmer*innen. Auch im „dynamischen Pandemiegeschehen" sollte man die Feste feiern, wie sie fallen, selbst wenn man den Babysekt am Platz aus der Flasche trinken muss. Der Heilige Wolfgang hat sich dem Vernehmen nach wieder eingekriegt. Wir kommen auch sicher wieder ans Bifeb.
Irgendwann.
Fakt.
Tagungsbericht von Alexandra Holmes.
Fotos von Peter Rinnerthaler © ptr.foto und STUBE.