STUBE-Freitag: die DDR erzählen
Zu Gast: Dorit Linke
Dorit Linke lebt und arbeitet in Berlin.
„Noch drei Stunden bis Stunde Null“, sagte der Grenzbeamte zu seinem Kollegen, als er unsere österreichischen Pässe kontrollierte. „Wieso? Gibt’s eine Revolution?“, war der kecke Kommentar meiner Mutter. Es war September 1989, ich war siebzehn, und wir waren am Heimweg nach Wien von einem Familientreffen in Ungarn. Zu Hause angekommen hörten und sahen wir in den Nachrichten, dass Ungarn die Grenze für DDR Flüchtlinge geöffnet hatte. (Erinnerung: Alexandra Holmes)
Am 9. November 2019 jährt sich der Fall der Berliner Mauer zum dreißigsten Mal. Die STUBE nahm dies am 11. Oktober 2019 zum Anlass, einen ganzen STUBE-Freitag der Darstellung der DDR in der Kinder- und Jugendliteratur zu widmen.
In Österreich erinnert man sich vielleicht an das paneuropäische Picknick und die Öffnung der ungarischen Grenze für DDR Flüchtlinge. Fernsehbilder von laufenden ostdeutschen Familien, von Österreicher*innen, die den Flüchtenden zurufen „ihr seid in Österreich, ihr seid frei!“, und von stehen gelassenen Trabis. Das ist die österreichische Außenansicht.
Wie es von innen ausgesehen hat, wie es war, in den 1980er-Jahren in der DDR zu leben, zur Schule zu gehen, aufzuwachsen und seinen Lebensentwurf zu finden, davon erzählt und darüber schreibt kaum jemand wie die 1971 in Rostock geborene Dorit Linke.
Heidi Lexe und Dorit Linke sprechen über Literatur und Leben.
Im ersten Teil des STUBE-Freitags sprach Dorit Linke in einem von Heidi Lexe geführten Werkstattgespräch über ihr literarisches Schaffen, das die von Unsicherheit, aber auch Aufbruch geprägte Stimmung in der DDR während ihrer Jugendjahre thematisiert.
Dorit Linke las aus ihrem 2015 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominierten Roman „Jenseits der blauen Grenze“ (Magellan), in dem zwei Jugendliche, Hanna und Andreas, im August 1989 schwimmend die Ostsee überqueren wollen, um in den Westen zu flüchten. Allein für dieses Setting hat die ehemalige Leistungsschwimmerin Dorit Linke nicht nur einen Selbstversuch unternommen, sondern auch gar nicht so seltene Fälle recherchiert, in denen diese Fluchtroute gewählt wurde. Während sich die nachlassenden Kräfte beim Schwimmen in einer immer fragmentarischer werdenden Sprache spiegeln, blickt Hanna auf ihr Leben in der Diktatur, auf Reglementierung, Dogmatismus und die Schlupflöcher im System zurück. Diese Rückblenden sind Atempausen, die (auch die Leser*innen) über Wasser halten. Popkulturelle Anleihen bei Nena oder Karat (der einzigen ostdeutschen Band, die jemals in „Wetten dass?“ aufgetreten ist) verleihen dem Text nicht nur Zeitkolorit, sondern stellen auch Formen des Widerstands dar, wie er zum Beispiel auch in der Lektüre alter, nicht der Zensur unterliegender Texte bestand. Anhand der Figur des Sachsen-Jensi wird die Stigmatisierung von Menschen, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten, dargestellt, und im Großvater begegnet man einer Figur, die nicht nur bereits die zweite Diktatur erlebt, sondern sich auch „als Rentner wieder daneben benehmen darf“.
Claudia Sackl, Heidi Lexe und Dorit Linke sowie die gesamte Veranstaltung wurden gefilmt. Die Veranstaltung ist somit wieder als >>>Video on Demand abrufbar.
Nach der Kaffeepause präsentierte das STUBE-Team ausgewählte Bücher und Filme der letzten Jahre zum Thema DDR und zu den Entwicklungen nach der Wende, zu denen Dorit Linke ebenfalls Stellung bezog.
Kathrin Wexberg stellte Ines Geipels „Umkämpfte Zone“ (Klett Cotta) vor, das sich „wie eine historische Psychoanalyse“ liest. Anhand der Entfremdung vom Bruder thematisiert sie nicht nur die im Nachkriegsosten nicht aufgearbeitete Nazi-Vergangenheit, sondern auch ihre persönliche Geschichte als Leistungssportlerin und Opfer von Zwangsdoping in der DDR.
Peter Rinnerthaler präsentierte die Graphic Novel „Kinderland“ von Mawil (Reprodukt), in der die Geschichte des Mauerfalls wie ein Witz erzählt wird. Neben zahlreichen Medienreferenzen, der Differenzierung von öffentlichem und privatem Leben und einigen autobiographischen Erinnerungen eines Autors, der selber dabei war, wird erzählt, wie der Held der Geschichte lieber sein Tischtennisturnier spielen möchte, anstatt zum Zeitzeugen eines historischen Ereignisses zu werden.
Claudia Sackl befasste sich mit dem Film „Das schweigende Klassenzimmer“, der auf Dietrich Garstkas gleichnamigem Sachbuch basiert. Eine Schulklasse erkennt, dass die Medienberichte und die Bewertung der Ereignisse in Ungarn 1956 in West und Ost sehr unterschiedlich ausfallen und beschließt, eine Schweigeminute für die Opfer des Aufstands abzuhalten. Was darauf folgt sind von DDR-Behörden angewandte Methoden, die die Jugendlichen an die nicht lange zurückliegenden Verbrechen der Gestapo erinnern.
Das DDR Nachkriegsnarrativ „Wir sind die Guten“ und „das Nazi-Erbe trägt alleine die BRD“ gehört zu den am tiefsten sitzenden, unaufgearbeiteten Fragen im Osten Deutschlands bis in die Gegenwart. Dass die Chance der Aufarbeitung nach der Wende nicht ausreichend genutzt wurde, beleuchtete Heidi Lexe anhand von Manja Präkels „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ (Verbrecher Verlag), worin geschildert wird, „wie aus den Jungs von nebenan Nazis wurden“. Der Begriff Neo-Nazi wird in diesem Diskurs bewusst vermieden, denn neu ist daran nichts.
Neu ist allerdings, zumindest aus österreichischer Sicht, dass Zeitzeugen, die von unaufgearbeiteter Nazi-Vergangenheit berichten, vom Terror einer Diktatur und von Flucht, nicht Greise, sondern Gleichaltrige sind. Dass Geschichte so spürbar nahe rücken kann, hat an diesem STUBE-Freitag wohl viele bewegt.
Alle STUBE-Freitage und alle Video-Angebote sind im Angebot der STUBE-Card enthalten, die >>>hier bestellt werden kann.
Ein Bericht von Alexandra Holmes