Fernkurs-Tagung: Buch & Bühne
„Hereinspaziert, hereinspaziert!“, hieß es von 30. August bis 01. September 2024 am Katholisch-Sozialen Institut in Siegburg bei Bonn. Doch weder Operette noch Zirkus standen auf dem Programm, sondern die Spielarten des Theaters in ihrem Bezug zum Buch.
Das Motto Buch & Bühne umfasste sowohl das Buch als Bühne wie im Bilderbuch, das Theater thematisiert und gleichsam auf eine Metaebene hebt, ebenso wie das Buch auf der Bühne, also das Buch außer sich, unterwegs in der freien Wildbahn des Zugriffs durch andere Kunstschaffende.
Vorspiel auf dem Nightjet
Apropos „hereinspaziert“: Das mit dem Spazieren dürfen Sie nicht wörtlich nehmen, manche Teilnehmerinnen holten sich Frostbeulen (bei der aktuellen Hitze aka guilty pleasures) im desolaten Nachtzug, aber was nimmt man nicht alles in Kauf, um ganz olympisch denkend bei einer Tagung von STUBE und Borromäusverein an einem derart schönen Ort dabei zu sein. Und schließlich waren ganz in Kasperls Sinne auch wirklich alle da. Hurra! Vorhang auf!
1. Akt
Theater für junges Publikum: Einblicke in eine soziale Kunst für alle
Nach Begrüßung und Einführung in die Tagung durch Bettina Kraemer leitete Johannes Mayer einen Streifzug durch die Geschichte des Kinder- und Jugendtheaters an.
Dass Theater erst auf der Grundlage A > X < S (A spielt X und S schaut dabei zu) stattfinden kann, bleibt die Konstante durch die Jahrhunderte. Als (unterschiedlich gewichtete) Zielsetzung von Theater für Kinder und Jugendliche lässt sich dabei leicht ein pädagogisch-didaktischer Ansatz erkennen, der von der Redeübung in den Rhetorikschulen der Antike über das Einüben bürgerlicher Tugenden in der Aufklärung bis hin zu einem sozialkritischen modernen Kindertheater reicht. Formal enthält das Repertoire auch heute noch das klassische Weihnachtsmärchen an den großen Stadt- und Staatstheatern, aber auch Oper, Tanz, experimentelles und Puppentheater. Theater für Kinder wird sowohl von professionellen Darsteller*innen an professionellen Bühnen gespielt als auch von Kindern im Schul- und Freizeitbereich. Johannes Mayer beleuchtet die Spielarten und Handlungsräume des Kinder- und Jugendtheaters und ihre Verknüpfung mit der Konfliktgeschichte zwischen Literatur und Theater. Literatur bleibt am Theater Vorlage, Material, Ausgangspunkt. Umgekehrt ist Theater in der Literatur immer wieder Gegenstand.
1. Zwischenspiel
Balladen, Bilder und Bewegung
Am ersten Abend führte Heidi Lexe ein Werkstattgespräch mit Illustratorin Sabine Wilharm über ihr vielfältiges Schaffen, das vom deutschsprachigen „HarryPotter“ über Susan Krellers Lyrik-Anthologie „Der beste Tag aller Zeiten“ bis hin zu Klassikern des Kindermann Verlags wie dem „Erlkönig“ oder dem „Zauberlehrling“reicht und mit „Die Affenpfote“ auch den Bereich Comic nicht ausspart. Sabine Wilharm erklärte dazu, dass jedes Gedicht, jeder Text seine eigene Stimme besitzt, dass aber die persönliche Stimme der Illustratorin immer mitschwingt. Während sie früher vielleicht gelegentlich neue Stile ausprobiert hätte, sieht sie heute, dass sich die eigene Handschrift entwickelt und festigt, aber nicht grundlegend verändert. In Bezug auf allzu niedliche Tierdarstellungen, die es bei ihr nicht gibt, gesteht sie zu, dass sich das Widerborstige um jeden Preis im Lauf der Zeit gelegt habe und dass man Rührung durchaus zulassen dürfe. Es wäre eine Frage der Balance. Während Ablauf und Rhythmus durch den Text vorgegeben sind, kann sie mit der Illustration das Setting, das wer und wo, bestimmen und durch kommentierende Nebenfiguren kleine Parallelgeschichten einbauen, die mitunter vor dem Text beginnen und über ihn hinausweisen können wie zum Beispiel beim Zauberlehrling, der über ein versöhnliches Ende verfügt oder beim Erlkönig, der traumhaft in eine Rahmenhandlung eingebettet ist. Sabine Wilharm arbeitet sowohl analog als auch digital und kann beiden Techniken viel Nützliches abgewinnen. Am Ende steht immer ein Original.
2. Akt
lyrik vor den vorhang! sprechen, slammen, rezitieren
Iris Gassenbauer ging in ihrem Vortrag der Frage nach, ob Lyrik immer dafür geschrieben wird, um vor den Vorhang geholt zu werden. Zu diesem Zweck erläuterte sie verschiedenste Lyrikformen, in denen Text und Ausdruck untrennbar verbunden sind.
Das Gedicht als Bestandteil kindlichen Heranwachsens bedarf des Ausdrucks und steht so ganz im Dienst des Spracherwerbs, des Sprachspiels und des Zugangs zu Humor. Lehrhafte Sprüche werden bis ins Erwachsenenalter erinnert. Das flüchtige ästhetische Erleben steht dabei im Gegensatz zur genauen Betrachtung, die fragmentierte Sprache zur Alltagssprache. Traumatische Erfahrungen mit Lyrik wurzeln oft in der Schulzeit, als vor versammelter Klasse auswendig vorgetragen werden musste. An historischen Beispielen angewandter Lyrik hebt Iris Gassenbauer den Panegyrikus, die bezahlte Lobrede hervor, aber auch Schmähgedichte, die bis in unsere Zeit das Potential haben, gesellschaftspolitische Wirkung zu entfalten. Aktuellste Formen vorgetragener Lyrik sind poetry slam und battle rap, die sich vor allem darin unterscheiden, dass erstere für die Aufführung geprobt ist („staged and rehearsed for performance“), während zweitere auf Spontaneität und Schlagfertigkeit beruht. Im Gegensatz zum schulischen Lyriktrauma jener Generationen, die noch Balladen auswendig lernen mussten, hat spoken word die große Chance auf Aktualität und Relevanz - und damit vielleicht auch auf freiwilliges Auswendiglernen. Mit Erich Kästners Sachlicher Romanze durfte sich das Publikum partizipativ im Rezitieren üben. Zum Glück blieb die battle der beiden Gruppen friedlich.
3. Akt
Jugendliterarische Kammerspiele? Formen und Funktionen begrenzter Handlungssettings
Anna Stemmann befasste sich in ihrem Vortrag mit dem Zusammenhang von räumlicher Beengtheit und innerer Entfaltung.
Während Kammerspiel im eigentlichen Sinn ein Theaterstück mit wenigen Figuren auf kleinem Raum bezeichnet, das den Dialog in den Vordergrund stellt, meint es hier im Jugendroman einen Prosatext mit begrenztem Handlungssetting und wenig Bewegung, dessen Funktion darin besteht, den Fokus auf das Miteinander bzw. sich selbst zu richten. In den Comics „Schöne Töchter“ und „Fun House“ wird die Seitenarchitektur aus Panels, Gutter und Sequenzen zur Bühne für die Positionierung der Figuren in ihren Beziehungen. In „Naphtalin“ erhält darüber hinaus das zu klein geratene Haus die Funktion einer Schwelle zur Abhandlung von Erinnerungen an das Heranwachsen in eben diesem Haus und an familienhistorische Zusammenhänge. Anhand der Romane „Und die Welt, sie fliegt hoch“ und „Nicht so das Bilderbuchmädchen“ wird verdeutlicht, wie die Abgeschiedenheit in den jeweils eigenen Zimmern der Protagonisten und der Fokus auf den Dialog mittels Textnachrichten am Handy oder per Zettel am Fenster zum Brennglas für gesellschaftliche Konflikte wird. Mit „Kai zieht in den Krieg und kommt mit Opa zurück" zeigt Anna Stemmann schließlich, wie das Kammerspiel zur Zeitreise wird und dabei die Grenzen von Erinnerung, Wahrheit und Trauma auslotet.
Es wurde gelacht, geklatscht, gelauscht und natürlich gelesen
4. Akt
Workshops: 1 Prosatext – 3 Transformationen
In manchen Büchern bestimmt man den Verlauf der Handlung durch die Wahl der Seite, auf der man weiterliest. In manchen Theaterproduktionen hängt die Dramaturgie des Stückes davon ab, welchen Raum man als nächstes betritt. So ähnlich war es hier auch. Zur Wahl standen:
Workshop 1: Drehbuch mit Nils Mohl (Autor): Nichts weniger als der Kunst, beim Sprechen über sich hinauszuwachsen, widmete sich Nils Mohls Workshop rund um die Sternstunden des Dialogs. Dabei wurde praktisch eingeübt, welche Bauteile eines vermeintlich simplen Gesprächs den mehrstufigen Prozess der Veränderung von Charakteren und Handlung vorantreiben oder wie man kleine Feinde groß werden lässt. Dass der Unterschied zwischen Sagen und Meinen die Dramaturgie bestimmt und dass geschriebene Dialoge immer in einer Kunstsprache geführt werden, wurde dabei deutlich.
Workshop 2: Kulisse mit Peter Rinnerthaler (Fotograf): Hier wurden die Teilnehmer*innen ausgestattet mit Zitaten aus „Henny und Ponger“ auf Fotosafari geschickt. Das Umfeld des KSI entpuppte sich dabei als ergiebige Location. Das Ergebnis war eine faszinierende Foto-Bühnen-Sprech-Performance in Videoumsetzung, die vieles zum Vorschein brachte: zum Beispiel was alles mit einer simplen Handy-Kamera machbar ist, welche Kreativität und Teamfähigkeit die Teilnehmer*innen mitbrachten und wie viel Spaß die Arbeit an nichts weniger als Kunst machen kann.
Workshop 3: Inszenierung mit Kristina Stang (Theaterpädagogin): Das Mysterium des Theaterspielens, der Zauber der Verwandlung, der Einsatz einfachster Mittel, um größtmögliche Magie zu entfalten und Spaß, Spaß, Spaß waren die Zutaten dieses Workshops. Wer nicht dabei war, kann sich nur schwer ein Bild davon machen, aber wer dabei war, hatte dieses gewisse Funkeln in den Augen …
2. Zwischenspiel
Vorhang auf: Ein Abend mit Katharina Greve und Nils Mohl
Am zweiten Abend sprach Heidi Lexe mit Katharina Greve und Nils Mohl über deren langjährige Zusammenarbeit, die – belegt durch ein Klassenfoto aus dem Zeitalter verhaltensauffälliger Haartrachten und mittlerweile wieder moderner Brillenfassungen – bereits in der Redaktion ihrer Schülerzeitung begann. Jüngstes Gemeinschaftsprojekt ist „Tierische Außenseiter“, in dem wenig attraktive Tiere allein durch ihre körperliche Erscheinung vor Verniedlichung sicher sind (einzige Ausnahme: das Axolotl) und durch den Reim unerwartete Zusammenhänge hergestellt werden.
Nils Mohl erzählt von seiner Zusammenarbeit mit Max Reinhold und ihrem neu aufgelegten Bühnenschaffen, das sich von Lesungen bis zu partizipativem Jugendtheater erstreckt. Die Materialität von Büchern, die Gestalt des Textes und die Möglichkeit auch in Film und Theater in formale Entscheidungen bis zum Schluss eingebunden zu sein, sind ihm wichtig.
Katharina Greve präsentiert als eines ihrer spannendsten Projekte „Das Hochhaus“. Ursprünglich in einem zweijährigen Projekt (jede Woche ein Stockwerk) als Web-Comic veröffentlicht begleiteten die Buchveröffentlichung interessante formale Fragestellungen zum Beispiel hinsichtlich der Druck- und Bindetechnik. Die architektonisch eher fragwürdigen Wohnungen erfüllen Bühnenfunktion und sozialkritische bis satirische Familiengeschichten erstrecken sich über mehrere Stockwerke. So gibt es auch eine Ausgabe als sieben Meter lange Buchrolle. Die Frage nach den Grenzen von Satire ist auch in Katharina Greves Schaffen allgegenwärtige, und sie wird nicht müde, diese Grenzen immer wieder neu auszuloten. Abschließend wird es wieder performativ und intergalaktisch: Mit einem kurzen Blick auf „Henny und Ponger“ und einer Lesung aus „Prinzessin Petronia“, die allen Antifans des „Kleinen Prinzen“ aus tiefster Seele spricht.
Heidi Lexe umreißt im abschließenden Vortrag die gesamte Tagung
5. Akt
Bilderbuch – Bühne – Puppentheater. Varianten des Puppenspiels in der Kinder- und Jugendliteratur
Mit einem gewohntermaßen eloquenten und humorvollen Intro-Video startete Heidi Lexe in ihren Vortrag, der das Motiv der Bühne im Bilderbuch umriss, mit multimedialen Bezügen weit darüber hinauswies und den Kosmos einzelner Figuren in ihren mannigfachen Transformationen ausleuchtete.
Den Beginn macht „Peter Pan“, an dessen Entstehungs- und Bearbeitungsgeschichte die gemeinsamen Anfänge von Kinderbuch und -theater ablesbar sind und der als Buch, Theaterstück, Musical und Film entwicklungspsychologische Landmarks immer wieder neu verhandelt. Die Lust am Abenteuerspiel, das Anhalten der Zeit, um das Kindsein nicht zu verlieren, aber auch die Verweigerung der eigenen Biographie und das Gefangensein der Lost Boys auf ihrer ewigen Spielinsel stellen zeitlose Topoi dar.
Nach einem Abstecher zum Kabarett geht es weiter zu Harry Potter und der lustigen Erklärung, warum es in Hogwarts kein Schultheater gibt. Dennoch ist die Darstellung der hybriden Figur Naghini, die vor ihrer Befreiung als Schlangenfrau in einer Freakshow zur Schau gestellt wird, mit theatralen Mitteln reichhaltig ausgestattet. Mit der Analyse von Transmedia Storytelling bei „Harry Potter“ und einer Stippvisite beim improvisierten Puppentheater der Potter Puppet Pals auf YouTube gelingt der Brückenschlag zum Puppentheater in all seinen Ausformungen und zu „Pinocchio“, dem Rolemodel aller beseelten Puppen. Von der Zeichentrick TV-Serie der 1970er Jahre, vielfältigen Buchillustrationen bis hin zu Verfilmungen des Stoffs mit Schauspielern oder Animationen spielt das Puppentheater eine große Rolle, erkennt es ihn doch als einen der ihren, stößt den Widerborstigen aber auch als Fremdkörper wieder ab, dessen Entwicklungsprozess über seine Körperlichkeit abgehandelt wird.
Über das Papiertheater kehrt Heidi Lexe in ihrem Vortrag zurück zum Buch und analysiert einerseits das Buch als Bühne und die Bühne im Buch bei „Der armen Peter“, andererseits die improvisierte Bühne auf dem Küchentisch bei „Prinzessin Rotznase“.
Heidi Lexe umriss mit ihrem Vortrag die Vielfalt der gesamten Tagung, die Verwandtschaft, aber auch die Reibepunkte zwischen Buch und Bühne.
Bettina Kraemer und Jörn Figura-Buchner vom Borromäusverein e. V.
Die Zusammenarbeit zwischen STUBE und Borromäusverein bot allen Teilnehmer*innen dieser Tagung mit dem KSI in Siegburg ein wunderschönes Umfeld, das in angenehmem Ambiente Begegnung, Austausch und Reflexion ermöglichte.
Nachspiel vor dem Nightjet
Bonustrack
Auf dem Weg von Siegburg nach Köln befindet sich das Bilderbuchmuseum in Troisdorf, sprich Trohsdorf, weil Dehnungs-i. Es gibt wohl keinen besseren Abstecher auf der Heimreise als diesen, zumal die Sonderausstellung zu Antje Damms Schaffen eine lebensgroße Schachtel-Bühne präsentiert. Die Tagungsteilnehmer*innen sind über alle Maßen froi.
Ein Bericht von Alexandra Holmes
Fotos von Peter Rinnerthaler © ptr.foto und STUBE
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