STUBE-Freitag: Zeitgeschichte
ZU Gast: Alexandra Holmes und Stephan Roth
Nein, es ist nicht alles anders, an diesem STUBE-Freitag. Aber doch so einiges. Wie Heidi Lexe in ihrer Eröffnung der Buchpräsentation von Alexandra Holmes‘ „Einfach mehr Luft“ (Jungbrunnen, 2023) ankündigt, wurden diesmal Plätze gerückt: der Star des Abends vorne am Autor*innentisch, kommt nämlich aus den eigenen Reihen. Als langjährige Fernkursteilnehmerin, freie Mitarbeiterin und nicht zuletzt Verfasserin der Veranstaltungstagebücher, ist Alexandra Holmes mit der Geschichte der STUBE eng verwoben. Dass die Theaterwissenschaftlerin und Germanistin jetzt selbst einen STUBE-Freitag bespielt, hat Heimspielcharakter. Gelungen ist ihr dies mit einem Jugendbuch, das sich die aberwitzige Aufgabe gestellt hat, ein hundertjähriges Menschenleben gleichzeitig in den Nachmittag einer Familienfeier und den großen Kontext der Zeitgeschichte zu betten. Drehpunkt zwischen den Narrationssträngen, die sich wie geschmeidige Oktopusarme um die Kernerzählung winden, ist der 15-jährige Ben, der als Vertreter der jüngsten Generation das andere Ende des Altersspektrums besetzt (eine Rolle also, die die meisten Leser*innen auch einnehmen werden).
Champagnerglaslesung
Alexandra Holmes kommt nicht allein. Mit der Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreisträgerin Lena Raubaum macht sie sich und dem Publikum eine besondere Freude: zum Einstimmen auf den Text und auf den Abend, dem in Anlehnung an „Einfach mehr Luft“ eine Menüfolge eingeschrieben ist, wird als Aperitif mit einer Lesung gestartet. Aber nicht, dass Sie denken: Wasserglaslesung. Nein, Alexandra Holmes und Lena Raubaum verschmelzen vor den Augen des Publikums in den szenisch vorgetragenen Textpassagen mit den erlesenen Charakteren des Romans. Da kommt Alexandra Holmes/Ben herangeradelt, atemlos und mit roten Wangen, während Lena Raubaum als leicht entnervte Mutter versucht, Krawatte, Hemdsärmel und diese eine widerspenstige Haarsträhne in Ordnung zu bringen. Dann steht Lena als Großvater Moritz mit Hut und Köfferchen fluchtgetrieben im Dunkel der Kriegsjahre, oder verrät als energiegeladener kleiner Cousin das ultimative Zauberwort gegen das Angstgaben (natürlich ist es: „Vera Ferra-Mikura“). Die Stimmgebung der Lesung hat Burgreife, abgelöscht wird sie schließlich mit einem Gläschen Sekt; das hätte auch der 100-jährigen Urgrußmutter und Jubilarin des Romans ein zufriedenes Lächeln entlockt.
Derart vom Zauber der szenischen Lesung und den Sektbläschen erwärmt, sind die Zuhörer*innen auch beim anschließenden Werkstattgespräch mit Alexandra Holmes und Stephan Roth vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW) ganz Ohr. Und wieder ist nicht alles, aber doch einiges anders. Denn nicht nur wird das Gespräch diesmal von Simone Weiss (ebenfalls STUBE-Fernkursabsolventin und Leiterin der Städtischen Bücherei Philadelphia Brücke) moderiert, auch trudeln die Diskurse über den Bücherrand hinaus und direkt in das historische Geflecht hinein, das den Roman zusammenhält. Dabei offenbart sich schnell, welches Potential „Einfach mehr Luft“ bereithält: die Möglichkeit, direkt in einen zeitgeschichtlich motivierten Erfahrungsaustausch zu treten, der sich an der Frage entzündet: „Was hat das alles mit mir zu tun?“
Simone Weiss moderiert und Lena Raubaum
lauscht gebannt.
Doch kein Pferdebuch
Bevor an diesem gut besuchten Abend unter Stephan Roths Expertise historische Hintergrundinformationen greifbar werden, bietet die Autorin aber noch Einblicke in die Entstehungsprozesse des Romans. Auf einem Zeitstrahl von 1918 (Geburtsdatum der 100-Jährigen) bis 2018 (Geburtsstunde des Romanprojekts) sind die großen Landmarks vermerkt, an denen sich die Handlung festmachen lässt. Darunter etwa: das Frauenwahlrecht, der sogenannte „Anschluss“ an Nazi-Deutschland, der Taras Borodajkewycz-Skandal, die Waldheim-Affäre. Außerdem verrät Alexandra Holmes, dass 2018 kein willkürlich gesetztes Datum ist, denn 100 Jahre Republik bedeuteten auch eine breite mediale Beschäftigung mit Geschichtsbewältigung und dem Erinnern. Im Rundfunk ausgestrahlte Interviews mit damals 100-Jährigen schöpften das historisch-politische Potential in den Augen der Debütautorin allerdings nicht aus und gebaren in ihr den Wunsch, die Thematik historische griffiger aufzuarbeiten.
Die Spuren, die die Lektoratsarbeit hinterließ, finden sich in einer zweiten Liste der Präsentation, die allen Anhänger*innen künstlerischen Laissez-Fairs wohl Kopfschwirren bereitet: Kapitelgestaffelte Zeichenzahlen, Themenkreise, erste und letzte Sätze. Den Anwesenden offenbart sich, dass hier nichts dem Zufall überlassen wurde. Aber wer eine derart komplexe Narration zusammenhalten möchte, darf sich die Zügel nicht aus den Händen kauen lassen. Apropos Zügel: Zwar erweist sich Protagonist Ben schon im ersten Kapitel als Pferdeliebhaber, der sich um seinen lungenkranken Pflege-Wallach Levin sorgt, das Label als Pferdebuch lässt Alexandra Holmes aber nicht durchgehen, daran kann auch Lena Raubaums Zusicherung, sie hätte für Alexandra sogar gewiehert, nichts ändern.
Ahnenreflux, Widerstand und die Frage nach dem „Ich“
Unter den großen Themen, die in „Einfach mehr Luft“ greifbar werden, ist eines das Verhandeln von Geschichte in Geschichten, wie es eben bei großen Familienfeiern zustande kommt. Wieder und wieder bleibt der jugendliche Ben das Auge im Geschichtswirbel. Welche Brückenschläge lassen sich zwischen den Fraktionen der Verwandten (und ihren jeweils eigenen Geschichtsschreibungen und Narrativen) herstellen, wo bröckelt die Fiktionalisierung von Biografien, welcher Widerstand ist notwendig, um als Widerstandskämpfer*in anerkannt zu werden, wie viel Sodbrennen verursacht der ständige Ahnenreflux in Ben als fest verankerter Teil der Einschreibungen, und was geschieht, wenn in einer Familie – wie im Fall von Bens Freundin Toni als Gegenkonzept – kaum historisch-politische Festschreibungen existieren?
Schulbuch ja, Lehrbuch nein.
Vom Verlag ab 13 Jahren empfohlen, zeigten sich in bisherigen Lesungen vor jungem Publikum die vielen Optionen, Gegenwart und Zeitgeschichte zu verhandeln und auch für nachfolgende Generationen greifbar zu machen. Hier, wo distanzbedingt die Anknüpfungspunkte immer mehr davonbröckeln, kann der Roman installieren, was in der Schule mit schmerzhaft reduzierten Unterrichtseinheiten Mangelware ist: ein Gespräch, das auch aktuelle Flucht- und Kriegserfahrungen zulässt und separiert gedachte Ereignisse durch Brückenschläge in Beziehung zueinander setzt. Das gelänge trotz aller Komplexität, meint Alexandra Holmes und fügt (diabolisch) lächelnd an: „Man kann jugendliche Leser*innen gezielt überfordern. Und da bin ich sehr dafür.“
Nächste Geschichte(n) in Startposition
Dass Alexandra Holmes Blut geleckt hat und jetzt mehr will, haben wir natürlich schon vorab gehofft. Im Werkstattgespräch verrät sie dann konkrete Pläne, die Vorfreude auf das Kommende machen. In Arbeit sei ein Bilderbuch, in dem sie alles, was sie über Textbildinterdependenz gelernt hat, ausleben könne und ein weiterer Roman, der sich mit Kindertransporten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts befassen würde. Solcherart vorfreudig gestimmt, wird der nächste Gang aufgetragen und zum entspannten Menüpunkt im Clubraum geladen. Mit Käse, Tramezzini und Wein – hier ein Dank an den Jungbrunnen Verlag, der durch Anna Stacher-Gfall vertreten ist – klingt ein Abend der literarischen und historischen Brückenschläge aus, der Lust auf mehr macht.
Das Video on demand ist >>> hier für STUBE-Card-Abonnent*innen ab dem 19. Dezember 2023 zugänglich.
Iris Gassenbauer