Thema: Der Wald in all seinen Formen
Wälder und Bäume besiedeln in unterschiedlichsten Formen und Funktionen die Landschaften kinder- und jugendliterarischer Texte: Mal sind sie Kulisse einer Geschichte und mal Akteur*innen, sie können das zentrale Thema eines Buchs sein oder nur schmückendes Beiwerk, wir lesen sie wörtlich – in ihrer Existenz als pflanzliche Organismen – oder metaphorisch. Und wie außerliterarische Wälder laden auch die verschriftlichten zum Entspannen, Spazieren, Nachdenken, Herumtoben oder sogar Gruseln ein; einen ersten Eindruck von dieser Vielseitigkeit vermitteln die Texte der hier zusammengestellten Liste.
Geleitetes Lesen im Buch der Natur
Linda Wolfsgruber: Die kleine Waldfibel
Um uns das notwendige Rüstzeug für den literarischen Waldspaziergang anzueignen, beginnen wir am besten bei den Grundlagen – eine Fibel kommt da natürlich ganz recht. Was Linda Wolfsgruber mit ihrer„Waldfibel“ gestaltet hat, ist aber keine gewöhnliche thematische Einführung, sondern eine assoziative Hinleitung, die alle Sinne anspricht. Schon die Baumrinde nachempfundene Haptik und Optik des Einbands lassen ahnen, dass mit dem Aufschlagen direkt der erste Schritt hinein in die Waldlandschaft getan ist. Zwischen den Deckeln finden die Leser*innen eine Collage von Illustrationen und unterschiedlichen Textsorten vor, die durch eine dem Jahreskreis folgende chronologische Ordnung zusammengehalten wird. Lyrische Texte stehen neben informativen Passagen, Rezepte zum Nachkochen schalten sich zwischen Referenzseiten zur Baumbestimmung. Flächige Aquarelle ganzer Baumlandschaften finden ebenso Platz wie Zeichnungen, die mit feinen schwarzen Linien und detailreicher Ausgestaltung die optischen Besonderheiten einzelner Arten herausarbeiten. Eine behutsame Annäherung an die mitteleuropäischen Wälder, die Kopf, Magen und Herz gleichermaßen anspricht, und auf vielen Ebenen zur Auseinandersetzung einlädt.
Kunstanstifter 2020.
144 S.
Piotr Socha/ Wojciech Grajkowski: Bäume
Wie schon Linda Wolfsgruber in ihrer eben vorgestellten „Waldfibel“ setzen auch Illustrator Piotr Socha und Autor Wojciech Grajkowski auf ein traditionelles Medium aus dem Umfeld der Didaktik und Pädagogik: Die Bildtafel. Das großformatige Sachbuch „Bäume“ widmet sich den Besonderheiten unterschiedlicher Arten ebenso wie ihren Symbolwerten und Verwendungsweisen durch den Menschen. Jede Doppelseite stellt dabei eine von 34 großen Bildtafeln dar, die sich optisch zunächst an traditionellen zoologischen und botanischen Darstellungen orientieren. Neben der Illustrationsfläche ist jeweils eine Textspalte eingefügt, in der die einzelnen nummerierten Bildelemente ganz schlicht, immer informativ, kurzweilig und unterhaltsam kommentiert werden. Thematisch handeln die Tafeln grundlegende Aspekte ab (wie unterschiedliche Blattformen oder Wurzelwüchse), schreiben jedoch auch eine kleine Kulturgeschichte des Baums – wie etwa die Nutzung von Holz als Baustoff für Architektur und Mobilität oder die Herstellung kultischer Gegenstände – ein. Deutlich im Zentrum stehen aber die eindrucksvollen Illustrationen, die je nach Thema mit mikroskopisch genauem Blick arbeiten oder aus der Weite bunt und flächig ganze Lebensräume inszenieren; durch sie wird neben dem Lesen auch zum genauen Hinsehen und Staunen eingeladen.
Aus dem Poln. von Thomas Weiler.
Gerstenberg 2018.
80 S.
Emilia Dziubak: Ein Jahr im Wald
Was sich von den Baumwipfeln bis ins Erdreich tagtäglich an Leben abspielt, bleibt Menschenaugen ja zu einem großen Teil verborgen; einen Eindruck vom Alltag unterschiedlicher Waldbewohner*innen, ihrem Zusammenleben sowie der Anpassung an Wetterphänomene und Temperatur-schwankungen vermittelt aber dieses Wimmelbuch. Zwölf große Wimmelbilder zeigen jeweils denselben Waldabschnitt mit Forsthütte, Bach und einem Längsschnitt ins Erdreich. Jede Doppelseite wird mit einem Monatsnamen überschrieben und zeigt, chronologisch dem Jahreslauf folgend, die Geschäftigkeit der Pflanzen- und Tierwelt im zeitlichen Verhältnis. Obwohl (bis auf die Bezeichnung der Monate und den Druck des Vorsatzpapiers) textlos gearbeitet wird, ergeben sich durch das Umblättern kleine Geschichten, die bei aufmerksamem Hinschauen verfolgt werden können und dazu einladen, immer wieder vor- und zurückzublättern. Hier wird den Lebensweisen unterschiedlichster Tierarten, von Braunbär und Wildschwein bis hin zu Würmern und Insekten, ausgiebig Raum gegeben, und am Ende ist klar: In keinem der zwölf Monate herrscht im Wald Ruhe, es regt und tummelt sich immerzu auf allen Ebenen.
arsedition 2016.
32 S.
Von Bäumen und Menschen
Annegret Ritter: Im Wald wird’s eng
Wo Menschen und Wildtiere aufeinandertreffen, ergeben sich bekanntlich auch manchmal Konflikte; in jedem Fall aber zeigen diese Begegnungen, dass keine klare Grenze zwischen Natur und Stadt gezogen werden kann, dem Lebensraum der Tiere und dem der Menschen. Diesem kontinuierlich auszuverhandelnden Verhältnis widmet sich Annegret Ritter in ihrem Bilderbuch „Im Wald wird’s eng“. Förster Bruno erzählt den Leser*innen darin, was er über die letzten Jahre hinweg beobachtet hat. Wo früher noch große Waldflächen für die Tiere vorhanden waren, hat sich langsam die Stadt ausgebreitet, alles wurde geschäftiger, lauter und schneller: Für die Tiere wurde es eng. Zahlreiche Tücken ergaben sich, so etwa schlecht verdauliches Futter, dicht befahrene Straßen, Lärm und Licht. Zum Glück setzen jedoch Gewöhnungs- und Anpassungsprozesse ein: Es gibt viele Probleme. Aber die Tiere sind pfiffig. Die teilweise zu Panoramabildern ausklappbaren Illustrationen zeigen, wie zwischen Hochhäusern kleine Grünoasen entstehen können, wo Vögel an Gebäudefassaden Nistplätze finden und welche Verstecke der Stadtraum für Wildtiere bereithält. Natur und Stadt greifen eben ineinander – Lebensraum wird immer auch geteilt und entsprechend muss aufeinander Rücksicht genommen werden.
Kunstanstifter 2020.
36 S.
Mein Nachbar Totoro. Film von Hayao Miyazaki
Das gleichberechtigte Gegenüber von Menschen, Tier- und Pflanzenwelt steht im Zentrum vieler von Hayao Miyazakis Filmen. Manche seiner Produktionen bearbeiten dieses Thema mit deutlichem Appellcharakter, so etwa „Prinzessin Mononoke“ oder „Nausicaä aus dem Tal der Winde“, der vielleicht bekannteste Film des Regisseurs nähert sich dem genannten Verhältnis aber behutsamer: In „Mein Nachbar Totoro“ begleiten die Zuschauer*innen den unaufgeregten Alltag der Schwestern Satsuki und Mei. Die Mädchen ziehen mit ihrem Vater in ein verlassenes Häuschen am Land, um näher an dem Krankenhaus zu wohnen, in dem ihre Mutter nach schwerer Krankheit untergebracht ist. Schon bald wird deutlich, dass die dichten Wälder des Umlands auch eine Fülle an Naturgeistern beheimaten. Unter dem Wurzelwerk eines stattlichen Baums trifft Mei den schläfrigen Waldgeist Totoro, mit dem sich die Mädchen zu zahlreichen Abenteuern aufmachen. Die Animations- und Erzählkunst Miyazakis macht den Film zu einer ruhigen, beschaulichen und fast schon meditativen Geschichte über die Möglichkeit eines ebenbürtigen Zusammenlebens; allein die wunderschönen Landschaftsbilder und Lichtstimmungen lohnen aber schon das Anschauen.
Japan 1988.
86 Min.
Rudyard Kipling/ Gabriel Pacheco: Die Dschungelbücher
Rudyard Kiplings „Dschungelbücher“ wurden sowohl literarisch als auch filmisch vielfach interpretiert. Die Begegnung vermeintlich zivilisierter Menschen mit der Tierwelt ist in den Erzählungen und Gedichten ein mehrfach behandeltes Thema – die bekannteste Bearbeitung erfährt es wohl in der Auserzählung der Geschichte Mowglis, der als wildes Kind im Wolfsrudel aufwächst. Gabriel Pacheco nähert sich den mutmaßlich so bekannten Texten noch einmal an: Er stellt in dieser großformatigen Buchproduktion einzeln herausgenommene Textpassagen mit aufwendig illustrierten Bildern zusammen und eröffnet so – trotz gängiger Vorstellungen im kollektiven (pop-)kulturellen Gedächtnis – neue Assoziationsräume. Durch die realitätsnahen und farblich doch entfremdeten Illustrationen kann auch Mowgli noch einmal alternativ gelesen werden; inmitten der überwuchernden floralen Umgebung und der farblich markant herausgearbeiteten tierischen Protagonist*innen scheint er – mit seinen schwarzen Augenhöhlen, schmächtig und farblos – beinahe zu verschwinden. Das STUBE-Team hat Pachecos „Dschungelbücher“-Interpretation übrigens schon einmal ausführlich in einer kollektiven Analyse beschrieben. Der Text findet sich >>> hier.
Bohem 2019.
18 S.
Wald und Klima schützen
Katapult: Wie man illegal einen Wald pflanzt
Ganz plakativ heißt es hier gleich zu Beginn: Wald zu pflanzen ist super, machen schließlich alle. Und in der Tat hat das kollektive Aufforsten in den letzten Jahren recht exzessive Züge angenommen; ob als Kompensation für Fernreisen mit dem Flugzeug, als Bonus beim Einkaufen oder bei der Verwendung bestimmter Suchmaschinen, das Pflanzen von Bäumen ist mittlerweile so etwas wie der Freifahrtsschein für ein gutes Konsument*innengewissen geworden. Aber was bringt das wirklich, und ist diese Vorgehensweise tatsächlich immer nachhaltig? Das Team von Katapult war bisher für sein mit witzigen Infografiken gespicktes soziologisches Magazin bekannt, hat sich 2020 aber an die eigene Verlagsgründung gewagt. Eine der ersten hauseigenen Publikationen ist dieser Band zum Thema Wald, der den Prinzipien der vorangegangenen Veröffentlichungen treu bleibt: Die versammelten Artikel bereiten wissenschaftliche Studien kreativ und zugänglich auf, übersichtliche Diagramme und Karten ergänzen die Texte. Thematisch reichen die Kapitel von der Frage, wann Aufforstung der Umwelt schaden kann, bis zu einer Begründung dafür, warum die Stilisierung der Eiche unter den Nationalsozialist*innen nichts als realitätsferne Propaganda bleiben konnte. Ein unterhaltsames und informatives Buch, ergänzt durch viele praktische Tipps zum legalen oder illegalen Wald-Pflanzen.
Katapult 2021.
174 S.
Michael Roher: Nicht egal! Die Geschichte von Flora der Klimapiratin
Am Beginn dieses Bilderbuchs sehen die Leser*innen Flora allein am Boden des dunklen Wohnzimmers vor dem Fernseher kauern. Von diesem kommt ihr nicht nur eine flimmernde Lichtsäule entgegen, sondern vor allem ein Schwall an entmutigenden Nachrichten über den Zustand unserer Erde: Die Klimaerwärmung führt zu Dürrekatastrophen, die Abholzung der Wälder nimmt kontinuierlich zu und die Koalas sterben aus. Die Koalas sterben aus! sagt Flora zu ihrem Papa, aber die Erwachsenen scheinen sich gar nicht wirklich zu kümmern. Das wird schon alles nicht so schlimm sein, oder? Flora sieht das anders – sie möchte, dass sich etwas ändert, und wird zur Klimapiratin. In der Schule findet sie Mitstreiter*innen (mit klingenden Namen von Panda Lilly bis Moritz Mohnnudel), die alle auf ihre eigene Art einen Beitrag zum Schutz der Umwelt leisten möchten. Die farbenfrohen und kontrastreichen Illustrationen zeichnen ein lebhaftes Bild von Flora und ihrer Bande, das von der Trostlosigkeit der Eingangsszene keine Spur mehr übriglässt. Als Ergänzung zum Buch bietet der Verlag übrigens die Website klimapiratinnen.at an, auf der es weitere Anregungen zum Thema Umweltschutz, ein Klimaquiz und vieles mehr zu entdecken gibt.
Luftschacht 2020.
28 S.
Jess French: So viel Müll! Wie du die Umwelt schützen kannst
Auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit und einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft ist der Schutz des Waldes natürlich nur ein Aspekt von vielen; es gibt unzählige Schrauben, an denen gedreht werden muss, und ein entsprechendes Panorama bietet dieses Sachbuch von Jess French. Auf je ein bis zwei Doppelseiten wird in unterschiedliche Themen von Ressourcen-verbrauch und Naturschutz bis Lebensmittelverschwendung und Weltraumschrott eingeführt. Die Seiten sind als Collagen aus Fotografien und Illustrationen gestaltet, die Textpassagen nicht als zusammenhängender Fließtext formuliert, sondern in Form vieler kleiner Informationsboxen und Anmerkungen über die Buchseiten verteilt. Durch diese thematische Vielseitigkeit ist „So viel Müll!“ weniger eine tiefgehende Auseinandersetzung, sondern mehr eine Ideensammlung und Heranführung an die Zusammenhänge. Mithilfe des Überblicks werden auch die Verhältnisse deutlicher: Mülltrennung und -vermeidung in Privathaushalten ist selbstverständlich wichtig, 90% des Mülls werden aber anderswo produziert. Es braucht also umfassende Maßnahmen, um in großem Stil Veränderungen herbeiführen zu können. Neben Fakten und Zahlen werden auch Vorschläge gemacht, wie ein Anfang im Kleinen gelingen kann, und Organisationen vorgestellt, unter deren Dach sich interessierte Umweltschützer*innen zusammentun können.Dorling Kindersley 2019.
72 S.
Rückzug in die Wildnis
Enne Koens: Ich bin Vincent und ich habe keine Angst
Vincent ist elf und interessiert sich für Survival-Strategien, für das Überleben in der Wildnis. Er hat liebevolle Eltern und wenn er nach Hause kommt, ist Charlotte da, die sozusagen seine große Schwester gegen Bezahlung ist – für eine Babysitterin ist er ja wohl zu alt. Vincent hat es gut; wären da nicht die Magenschmerzen, die ihm schon der kleinste Gedanke an die Schule bereitet. Denn in der Schule ist Dilan: Jeden Tag sieht sich der Ich-Erzähler den Schikanen Dilans ausgesetzt, die von Beleidigungen bis hin zu körperlichen Verletzungen und ständigem psychischem Druck reichen. Einen kleinen Lichtblick bietet die Schule für Vincent aber doch, nämlich Die Jacke (eigentlich Jacqueline); sie freundet sich trotz allem mit ihm an und gibt Hoffnung darauf, dass es besser wird. Dann aber muss Vincent bei einer Klassenfahrt das Bett neben Dilan belegen. Nachdem eine Situation aus dem Ruder läuft, schnappt er sich sein Survival-Kit und schlägt sich in die Wälder um das Camp. Hier kann ihm niemand das Wasser reichen, denn er kennt sein Buch zum Überleben in der Wildnis in- und auswendig; jetzt nur keine Angst! Umsichtig und ohne Vereinfachungen stellt Enne Koens die Hilflosigkeit dar, mit der Vincent der Willkür seiner Mitschüler*innen ausgesetzt ist. In einem abschließenden Kraftakt des Sich-Mitteilens wird aber doch noch eine Wende eingeleitet – und das ist auch gut so.
Aus dem Niederländ. von Andrea Kluitmann.
Mit Ill. v. Maartje Kuiper.
Gerstenberg 2019.
192 S.
Verena Hochleitner: Die 3 Räuberinnen
Nicht weit von hier. Gleich um die Ecke. Falls man das so sagen kann, weil der Wald genau genommen immer wo anders ist. Der Wald, den Verena Hochleitners titelgebende Räuberinnen behausen und durchstreifen, folgt ihnen auf Schritt und Tritt. Bruno, Maja und Kaspar (besser bekannt unter ihren Räuberinnen-Namen Bronski, Wanda und – naja – Kaspar) schaffen sich die Abenteuer in ihrer beschaulichen Nachbarschaft selbst. Mit der notwendigen Kreativität wird das Hochbett zur Räuberinnen-Höhle und die umliegenden Häuser verwandeln sich in zu erkundendes Revier. In der Gestaltung des Erzählraums lässt die Autorin die kindliche Vorstellungskraft hochleben, die durch unvorhersehbare Einfälle des Alltags immer wieder humorvoll gebrochen wird: Soll beispielsweise Edith ausgeraubt werden, kann es schon passieren, dass zuerst eine Runde Monopoly gespielt werden muss, der Putzteufel Stubenrein verursacht im Stiegenhaus sintflutartige Zustände und ein Gespenst mit eisbonbonfarbenen Augen (bewaffnet mit einem Nagelknipser) hat verblüffende Ähnlichkeit mit Wandas Mama. Collagenartig übereinandergelegte Bildelemente spiegeln auch in der bildnerischen Gestaltung das Miteinander der unterschiedlichen Ebenen, zwischen denen die Protagonist*innen nach Lust und Laune wechseln können.
Tyrolia 2019.
136 S.

Taltal Levi: Wo ihr mich findet
Zurückgenommen, mit wenig Text und warmen, weichen Illustrationen gestaltet Taltal Levi ein Bilderbuch über das tägliche Ausreißen und Ankommen. Zu Hause bei ihren Eltern fühlt sich die kindliche Protagonistin oft nicht gesehen, aber sie hat eine Gegenstrategie: Wann immer ihr das Daheim-Sein zu viel wird, packt sie ihren Rucksack, setzt ihre rote Haube auf und macht sich auf in die Natur. Im Wald verflüchtigt sich das Engegefühl des Alltags nach und nach: Ich kenne hier jeden Baum und jeden Strauch, und mit jedem Schritt werden meine Füße leichter. Ein scheuer Fuchs schleicht vorbei, bleibt nachts als Beobachter nahe und folgt der Protagonistin am nächsten Morgen auf ihrer Wanderung. Im Austausch mit dem zurückhaltenden Begleiter kann sie wieder zu sich selber kommen und sich sicherer sein: Du bist schüchtern, aber neugierig – genau wie ich. Bin ich vielleicht doch nicht unsichtbar? Bei zarter Farbgebung und Strichführung gibt die Hinwendung der Bildinhalte in eine Richtung – beispielsweise durch die Darstellung von Wind und Wasserlauf – den Aquarellen doch eine kraftvolle Dynamik, die die leise Stärke der Protagonistin auch bildlich festhält. Am Ende wird zusammen mit den Eltern wieder der Heimweg angetreten, mit leichteren Füßen und freierem Kopf.
NordSüd 2020.
32 S.
Über die Schwelle und durch das Geäst
Pans Labyrinth. Film von Guillermo del Toro
Nordspanien, 1944: Die Faschist*innen unter der Führung Francos haben den Spanischen Bürgerkrieg für sich entschieden, im umliegenden bewaldeten Gebirge verschanzen sich aber nach wie vor Partisan*innen, um Widerstand zu leisten. Gegen ihren Willen in die Mitte dieses Konflikts gestellt wird das Mädchen Ofélia, das mit ihrer hochschwangeren Mutter deren neuem Ehemann nachziehen muss. In einer verlassenen Mühle haben dessen Truppen Quartier bezogen. Die Geschehnisse sind für Ofélia nicht greifbar, sie zieht sich ganz in die Lektüre ihrer Feengeschichten zurück; doch dann entdeckt sie im an das Grundstück angrenzenden Wald ein verwildertes Labyrinth. Dort offenbart sich ihr ein Faun, der ihre Identität in ein völlig anderes Verhältnis stellt: Sie sei die lang verschollene Prinzessin eines fantastischen Königreichs und müsse drei Aufgaben lösen, um dort ihren Platz als Thronfolgerin einnehmen zu können. In den Wirren der grausamen Kämpfe entschließt sie sich, dem zwielichtigen Faun zu folgen und sich seinen Bewährungsproben zu stellen. Ofélias Hilflosigkeit und ihr verzweifelter Kampf um Autonomie werden getragen von einem Soundtrack, der sich leitmotivisch ein Wiegenlied zum Ausgangspunkt macht; schön und schauderhaft zugleich inszeniert del Toro sein Märchen über Selbstbestimmung und Widerstand inmitten der Brutalität einer unkontrollierbar gewordenen Umgebung.
ESP/MEX 2006.
119 Min.
Jacob und Wilhelm Grimm/Sybille Schenker: Rotkäppchen
Dass der Wald auch im Märchen oft eine Schwelle darstellt, wird besonders am Beispiel von „Rotkäppchen“ fassbar. Wie die Geschichte kulturgeschichtlich zu deuten sei – ob als Warnerzählung oder narrative Tradierung von Initiationsriten –, ist wohl nicht uneingeschränkt aufzuklären. In jedem Fall aber spielen der Übertritt in den Wald als Raum, der anderen Gesetzlichkeiten folgt, und das Abkommen von den vorgezeichneten Wegen dabei eine zentrale Rolle. Sybille Schenker hat für ihre bei minedition erschienene Ausgabe den von Jacob und Wilhelm Grimm aufgezeichneten Text in ein Stück Buchkunst verwandelt. Die Gestalterin arbeitet mit Scherenschnitten, Stempeldrucken sowie Stanzungen und macht damit das schrittweise Vordringen in den Wald optisch wie haptisch greifbar. So ergibt sich durch die Freiräume der ausgestanzten Seiten ein Tiefenverhältnis, herannahende Figuren werden schon vor ihrem Auftreten angekündigt und das bloße Umblättern bewirkt, dass das verschreckt sein Gesicht verbergende Rotkäppchen im Maul des gefräßigen Wolfs landet. Die starken farblichen Kontraste und markanten Ränder verstärken zusätzlich das ohnehin Schablonenhafte des Märchens und verleihen ihm gerade dadurch neuen Tiefgang.minedition 2016.
44 S.
Bedrohliches Dickicht
Ruth Rahlff: Eulennacht. In den Bäumen von Redmoor
Dass ein spannender Plot auch mit ausführlichem literarischen Waldbaden verbunden werden kann, führt dieser Roman vor: Nach laufenden Streitereien zu Hause, Umzügen und Schulwechseln braucht die eigenwillige Protagonistin Ruby endlich eine Auszeit von ihren Eltern, weshalb sie den Sommer bei ihrem Onkel Leo in Cornwall verbringt. Dessen Arbeitsplatz entpuppt sich als kleines Paradies; der verfallene Redmoor Garden, mit seinen verwinkelten Wegen, Waldstücken und kleinen Attraktionen, soll von Erbin Nicola, Leo und anderen Helfer*innen als Begegnungsort wieder in Stand gesetzt werden. Auch wenn sie anfangs noch fürchtet, der etwa gleichaltrige Paul könne ihr die Zeit mit Leo streitig machen, lebt sich Ruby rasch ein und engagiert sich begeistert beim Wiederaufbau. Dann beginnen sich mysteriöse Dinge zuzutragen; die um die Gartenanlage ansässigen Eulen attackieren Besucher*innen und die nachfolgenden Schlagzeilen drohen alle Bemühungen nichtig zu machen. Paul und Ruby beschließen, das Rätsel um die Eulen von Redmoor zu lösen; eine aufregende Suche nimmt ihren Anfang. Trotz der spannenden Handlungsführung nimmt sich Ruth Rahlff ausreichend Zeit, die Umgebung auszuerzählen, wodurch die Leser*innen in eine atmosphärisch verdichtete Gartenwelt mitgenommen werden, die zum Entspannen und Verweilen einlädt.
Magellan 2020.
320 S.
Ella Blix: Wild. Sie hören dich denken
Die Teenager*innen Noomi, Olympe, Flix und Ryan verbindet auf den ersten Blick nur eins: Sie alle haben eine Straftat begangen und wurden als Resozialisierungsmaßnahme dem Camp „Feel Nature“ in der Sächsischen Schweiz zugewiesen. Kein Strom in den Schlafhütten, keine elektronischen Endgeräte, bloß Gruppentherapie, Natur und körperliche Arbeit. Da hilft nur geduldiges Absitzen, aber im von dichtem Wald umgebenen Camp häufen sich bald schon verdächtige Ereignisse: Wichtige Gegenstände verschwinden, Noomi verhält sich zunehmend merkwürdig und ständig beschleicht die vier das Gefühl, von etwas oder jemandem beobachtet zu werden. Was verbirgt sich in den undurchsichtigen Wäldern? Haben die Aufseher*innen etwas damit zu tun? Und welchen Plan verfolgt Noomi? In kurzen Passagen lässt das Autorinnenduo Antje Wagner und Tania Witte ihre charismatischen Protagonist*innen aus der je eigenen Sicht die Vorkommnisse im Camp kommentieren. Das multiperspektivische Spiel mit Informationen, die sich wie Puzzlesteine zusammenfügen, entwickelt sich zunehmend zu einem spannenden, mit Science-Fiction-Elementen durchsetzten Thriller, der allein schon wegen der liebevoll ausgearbeiteten Charaktere und ihrer individuellen Geschichten lesenswert ist.
Arena 2020.
376 S.
Antje Wagner: Hyde
Auf einen Satz scheint Antje Wagner ihre Erzählung über Entwurzelung und den Versuch, ein kontinuierlich zerfallendes Leben wieder zusammenzuflicken, herunterzubrechen: Man glaubt dem Leben, das man führt. Und die Lesenden glauben dem Leben, das ihnen erzählt wird, sind sie doch auf die Verlässlichkeit der Erzählinstanz angewiesen. Die 18-jährige Katrina ist Tischlergesellin auf der Walz. Sie ist auf der Suche nach Unterkunft und Verpflegung, die sie mit Arbeit begleichen kann, bei sich trägt sie eine rätselhafte Liste mit Namen, einer davon durchgestrichen
Die Perspektive wechselt zu Sequenzen aus Katrinas Kindheit, wo sie zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Zoe und ihrem Vater ein glückliches, ungestörtes Leben in Hyde, einer verborgenen Hütte im dichten Wald führt.
In kurzen Sequenzen werden beide Erzählungen parallelgeführt, Katrinas Leben fügt sich für die Leser*innen nach und nach zu einer kohärenten Geschichte zusammen. Die Einordnung des Erzählten wird durch neue Informationen kontinuierlich auf den Kopf gestellt, geschickt gesetzte Cliffhanger strukturieren den unvorhersehbaren Handlungsverlauf. Dabei handelt es sich aber auch um einen feinfühligen Text über emotionale Heimatlosigkeit, der sich ohne Klischees der Selbstfindung einer Jugendlichen annimmt, deren Wahrheiten ständig in sich zusammenzufallen scheinen.
Beltz & Gelberg 2018.
408 S.
Sprießende Knospen, fallendes Laub
Greg Howard: Ein Flüstern im Wind
Seit nunmehr vier Monaten dominiert ein unaufgeklärtes Ver-brechen den Alltag des Jungen Riley: Seine Mutter ist ver-schwunden und während er als Einziger nach wie vor die Aufklärung des Falls forciert (der verantwortliche Kommissar Frank ist dabei nur beschränkt eine Hilfe), versinkt der verblieb-ene Teil seiner Familie in Schweigen und Kummer. Wenn sich jetzt noch etwas tun soll – das weiß Riley –, muss er die Sache selbst in die Hand nehmen. Er erinnert sich an die Geschichte von den Flüsterern, die ihm seine Mutter jeden Abend vor dem Einschlafen erzählt hat; allwissende fantastische Wesen, die Menschen gegen Vorlage einer angemessenen Opfergabe Wünsche erfüllen. Obwohl Rileys Alltag noch zahlreiche andere Hürden birgt (seit der mutmaßlichen Entführung wird er das Bettnässen nicht mehr los und dann ist da noch dieses Problem mit Dylan Mathews, den er weit interessanter findet als die Mädchen in seinem Alter), macht er sich auf die Suche nach ihnen. „Ein Flüstern im Wind“ erzählt aus der Ich-Perspektive vom Verlust eines geliebten Menschen, von Routinen, die mit Bezugspersonen auf einmal verlorengehen und einem erbarm-ungslos weiterlaufenden Alltag. Berührend werden Trauer, Freundschaft und die Fatalität des Aneinander-Vorbei-Schweig-ens in einem abenteuerlichen Roman zusammengeführt.
Aus dem Amerikan. von Beate Schäfer.
dtv 2020.
304 S.
Lena Raubaum/Clara Frühwirth: Es gibt eine Zeit …
Die Zeit, in ihrer allumfassenden Ganzheit ebenso wie als ganz konkreter Zeitpunkt, markiert den assoziativen Mittelpunkt dieses bildlich und sprachlich gleichermaßen poetischen Bands. Angelehnt an einen biblischen Ausgangstext (in der Formulier-ung Alles hat seine Zeit) setzen sich Autorin Lena Raubaum und Illustratorin Clara Frühwirth aus kindlicher Sicht mit einer Vielzahl von Alltagssituationen, Stimmungslagen und Emotionen auseinander. Es gibt eine Zeit… lautet der wiederkehrende Satzanfang, der weiterführt zu Morgenklängen und Sternen-träumen, zu purzelnden Bäumen und neuem Land. Alltagssprachlich schwer fassbaren Empfindungen nähern sich die Leser*innen entlang von Wortneuschöpfungen und teils fantastischen Illustrationen an, die immer wieder Neues ent-decken lassen. In alle vorgestellten Settings fügt sich als wiederkehrendes Element die Baumscheibe; der Verlauf der Zeit erfährt durch die Jahresringe eine zusätzliche Verbildlichung, die als Leitmotiv durch die unterschiedlichen Situationen hindurch-lotst. Traurigkeit, Unwohlsein, Freude, Übermut und Zufrieden-heit stehen als gleichwertige Bestandteile eines Lebens neben-einander und ihre poetische Inszenierung lädt die Leser*innen zum mehrmaligen Hinschauen und Nachdenken ein.
Tyrolia 2020.
26 S.
Immergrüne Klassiker
Maurice Sendak: Wo die wilden Kerle wohnen
Fast alle der bisher vorgestellten Bücher wurden erstmals in den letzten paar Jahren veröffentlicht; selbstverständlich waren Wälder und Bäume in spezifischen Darstellungsformen aber schon immer fixe Bestandteile kinder- und jugendliterarischer Texte. Als eines der bekanntesten Beispiele kann wohl Maurice Sendaks „Wo die wilden Kerle wohnen“ gelten: Max hat seinen Wolfspelz angezogen – und das heißt, er ist wild. Er hüpft und tobt so ungestüm durch die Wohnung, dass seine Mutter ihn ohne Abendessen auf sein Zimmer schickt. Das Abenteuer wird dort aber nicht unterbrochen, denn schon verwandelt sich der Raum in einen undurchsichtigen Dschungel. Auf einem Segelboot gelangt er zu der Insel, auf der die wilden Kerle wohnen; riesige Monster, die gefährlich aussehen, mit denen es Max aber ohne Mühe aufnehmen kann. Er wird sogar zu ihrem König gekrönt und danach wird getobt, getanzt und vor allem Krach gemacht. Bei der Verwandlung des Kinderzimmers in den Dschungel greift das Farbige in den Weißraum der Bilderbuchseiten über, die Ranken und Blätter nehmen immer mehr Platz in Max’ Zimmer ein, bis der Übergang in die kindliche Welt der Fantasie und Autonomie ganz vollzogen ist. Zurück in die Wohnung seiner Eltern kann den König verständlicherweise nur eines locken: Die Verheißung eines warmen Abendessens.
Aus dem Amerikan. von Claudia Schmölders.
Diogenes 2013 (1963).
40 S.
Roald Dahl: Der fantastische Mr. Fox
Von den manchmal konfliktreichen Begegnungen zwischen Menschen und Waldtieren erzählt auch Roald Dahl. Und eins vorweg: Der menschliche Teil der Besetzung kommt dabei nicht ganz so gut davon. Die drei Bauern Boggis, Bunce und Bean sind sogar so unangenehme Gesellen, dass die Kinder aus dem Umland ihrer Höfe ihnen eigens angedichtete Reime nach-singen; sie verbringen ihre Zeit damit, zu trinken, zu essen und griesgrämig zu sein, etwas anderes als ihre Geflügelhöfe interessiert sie dabei kaum. Bis ein schlauer Fuchs ihren Weg kreuzt: Mr. Fox lebt (gemeinsam mit Mrs. Fox und ihren vier kleinen Füchslein) im an die Höfe grenzenden Waldgebiet und bedient sich zur Verpflegung täglich in den Ställen der Bauern. Als die regelmäßigen Diebstähle auffliegen, schwören sich die drei auf einen Rachefeldzug ein und rücken erst mit Gewehren, dann mit Schaufeln und schlussendlich mit Baggern an, um den Bau des Fuchses auszuheben. Es kommt zu einer Art Belager-ung, was natürlich auch für die anderen Waldtiere fatal ist, aber Mr. Fox – fantastisch wie er eben ist – heckt einen Plan aus, der die Bauern mit ihren eigenen Waffen schlägt. Empfohlen sei neben diesem kurzweiligen Lesespaß auch die filmische Bearbeitung durch Wes Anderson, der die Geschichte in einem hinreißend detailreichen Stop-Motion-Film lustvoll weiter ausfabuliert.
Aus dem Engl. von Charles Schüddekopf.
Rowohlt 2010 [EA 1970].
112 S.
Otfried Preußler: Krabat
Der Wald in Otfried Preußlers „Krabat“ markiert für den Protagonisten den Übertritt in ein Leben außerhalb denkbarer Regelhaftigkeiten und in eine gänzlich neue Identität. Zugrunde liegt dem fantastischen Roman eine sorbische Sage um einen Waisenjungen: Der 14-jährige Krabat schlägt sich mit einigen Mitstreitern als Sternsinger durch, bis ein wundersamer Traum immer wiederkehrt. Eine Stimme ruft ihn auf, die Mühle im Koselbruch bei Schwarzkollm aufzusuchen, und als jemand, der nicht viel zu verlieren hat, macht er sich kurzentschlossen auf den Weg. Dort, inmitten eines Waldes, den die Bewohner*innen der angrenzenden Orte meiden, wird er zunächst als zwölfter Müllerbursche angeheuert, merkt aber bald, dass es nicht das Müllern ist, das er hier lernen soll; er ist in eine Schwarze Schule geraten und sein eigentliches Lehrhandwerk wird die Zauberei. Krabat lernt gut und eifrig, aber in der Osternacht verliebt er sich in die Vorsängerin einer Dorfprozession, die Kantorka. Er weiß, dass sein einziger Weg zu ihr der heraus aus der Mühle ist. Wird Krabat den Meister im Kampf überwinden und seine Freiheit zurückerobern können? Wir wissen es mit 2021 seit nunmehr 50 Jahren (in diesem Sinne ein Hoch dem Jubilaren!) – es kann aber durchaus nicht schaden, sicherheitshalber noch einmal nachzulesen.
Thienemann 2017 [EA 1971].
256 S.
Eine Ausgabe der Fachzeitschrift "1001 Buch" hat sich ebenfalls dem Wald gewidmet. Kathrin Wexberg warf dabei einen Blick auf den Biblischen Wald, während Claudia Sackl den Regenwald beleuchtete. Zur Verfügung gestellt werden diese Artikel gemeinsam mit anderen ausgewählten Fachbeiträgen im internen STUBE-Card-Bereich.
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