Thema: Girlspower – starke Mädchen und Frauen in der KJL
Mythen und Märchen:

Sophokles und Olivia Vieweg: Antigone
Sophokles antikes Drama um Antigone, die ihren toten Bruder trotz königlichen Verbotes beerdigt und diesen Ungehorsam mit ihrem Leben bezahlt, motivierte Künstler*innen unterschiedlicher Epochen und Kunstformen zu Neubearbeitungen und Interpretationen. Comic-Künstlerin Olivia Vieweg legt hier ihre Lesart vor und setzt in ihrer Bildsprache auf die Tradition des Horrors. Mit einem Tweet stellt sie einen zeitgemäßen Paratext voran, der die Gratwanderung zwischen Legalität und Moral als zentrales Thema radikal auf den Punkt bringt. Ebenso radikal sind Viewegs Bilder, ihre zwischen weiße Gutter gestellten Figuren in antiker Kleidung sind in Schwarz, Weiß und Grautönen gestaltet, einziger Farbakzent ist die Farbe Rot: Eine blutrote Sonne nimmt bereits das Blut vorweg, das in den Bildern immer mehr Raum bekommt, je dramatischer sich die Situation zuspitzt. Höchst gelungen verknappt Vieweg die fünf Akte des ursprünglichen Dramas auf wenige Dialoge, ohne dabei Schlüssigkeit oder Spannung zu verlieren.
Carlsen 2019.
64 S.
Johan Egerkrans: Nordische Wesen
Nicht nur Geschichte und Weltliteratur, auch die Welt der Mythen und Märchen ist reich an starken weiblichen Figuren. So finden sich in dieser bibliophil aufgemachten und hinreißend illustrierten Zusammenstellung Wesen wie die Bergfrau (auch Gruben-Maja genannt), die Meerjungfrau oder die Quellennymphe (Besucher*innen der STUBE-Freitage in Schönbrunn auch als Najade bekannt). In ihrem Aussehen changieren diese Wesen oft zwischen abstoßender Hässlichkeit und betörender Schönheit: Die Waldfrau etwa zeigt sich in menschlicher Gestalt als alte Hexe mit hängenden Brüsten, die sie sich über die Schultern wirft, meistens jedoch als sehr schöne Frau. Sowohl in dieser Fixierung auf das Aussehen als auch in den Geschichten, die über sie erzählt werden, reflektieren viele dieser mythischen Figuren die gesellschaftliche Position von Frauen in der Realität: So wird über die Mahre berichtet, sie wären die Seelen verstorbener, unverheirateter Frauen, die vergeblich die Nähe und Wärme der Lebenden suchen.
Aus d. Schwed. v. Maike Dörries.
Woow Books 2019.
128 S

Rapunzel. Neu verföhnt (Tangled)
Mit dem hilflosen Mädchen, das in einem Turm gefangen ist, hat die Protagonistin in dieser Neuinszenierung und den Medienwechsel des grimm’schen Märchen „Rapunzel“ nur wenig gemein. Freilich wird sie gefangen gehalten, hat sie langes wallendes Haar und natürlich ist auch ein Mann im Spiel – damit enden die Gemeinsamkeiten aber auch schon. Mit unglaublicher Situationskomik und einer deutlich feministischeren und selbstbestimmten Hauptfigur gelingt so eine Neuinterpretation ohne auf die Eckpfeiler des Originals zu vergessen. Angereichert mit zeitgenössischen gesellschaftskritischen Elementen, wie etwa dem Schönheitsideal, dem die böse Hexe nacheifert und das Einstehen für die eigenen Wünsche überzeugt, wenn von einem Rapunzel erzählt wird, dass keineswegs hilf- und wehrlos ist: Mit einer Bratpfanne bewaffnet trotzt sie – wenn auch zu Beginn etwas ängstlich – den Gefahren, die in der Welt außerhalb ihren Turms lauern. Und lüftet dabei nicht nur das Geheimnis um die schwebenden Lichter, die jedes Jahr an einem bestimmten Tag den Himmel erleuchten, sondern auch um ihre eigene Herkunft.
Animationsfilm v. Nathan Greno und Byron Howard.
USA 2010. 100 min.
Gabrielle-Suzanne Barbot de Villeneuve und MinaLima: Die Schöne und das Biest
Das Londoner Grafik-Duo MinaLima zeichnet sich für alle grafischen Requisiten der Harry-Potter-Filme verantwortlich. Ihrem Wunsch, Bücher in „faszinierender Ausstattung“ zu präsentieren, werden sie mit der Neugestaltung von Klassikern gerecht: Neben dem in voller Länge abgedruckten Text, finden sich in dieser Prunkausgabe ornamental gestalteten Buchseiten, die mit haptischen Elementen angereichert werden. Ausfaltbare Karten finden sich neben filigranen Scherenschnitt-Leporellos, die die Räumlichkeit des Schlosses, in dem das Biest wohnt, visuell erfahrbar machen. Und inmitten dieses bibliophilen Werkes findet sich natürlich die Schöne, die sich eine Rose von ihrem Vater wünscht. Und das Biest, aus dessen Garten der Vater die Rose stiehlt. Um den Diebstahl zu begleichen, begibt sich die Schöne selbstlos ins Schloss des Biestes, um dort die Frage nach innerer Schönheit (neu) zu ergründen. Innere Schönheit birgt sich auch zwischen den Buchdeckeln, wenn Erzählraum und erzählter Raum künstlerisch miteinander verknüpft werden.Aus d. Amerikan. v. Sonja Häussler.
Coppenrath 2017.
208 S.

Brüder Grimm und Julie Völk: Zur Zeit, wo das Wünschen noch geholfen hat
Märchen: Weibliche Figuren in hübschen Prinzessinnenkleidchen, die von ihren männlichen Brüdern, Vätern, Geliebten gerettet werden müssen. Es geht auch anders – zum Beispiel in dem Grimmschen Märchen „Der Eisenofen“, das in der von Julie Völk neu illustrierten Märchenausgabe zu finden ist: Anders als in vielen anderen Märchen, in denen der Prinz auszieht, um seine Geliebte zu erobern, ist es hier die Königstochter, die sich in einer Initiationsreise auf die Suche nach dem Geliebten begibt. Drei schwere Prüfungen hat sie zu bestehen, die sie durch Klugheit und Hartnäckigkeit meistert. Julie Völk weiß diese Reise auf ganz wunderbare Art und Weise zu illustrieren, wenn etwa die Königstochter in ihren Illustrationen auf der Spitze eines Berges steht, den sie aus eigener Kraft erklommen hat. Auch wenn am Ende ganz klassisch eine Hochzeit mit dem Prinzen steht, so ist es hier doch keine passive Frauenfigur, die aus dem Tiefschlaf wachgeküsst wird, sondern eine aktive Protagonistin, die für ihre Sehnsüchte einzustehen weiß.
Gerstenberg 2021.
393S.
Benjamin Lacombe: Undine
In blau-grünen Schattierungen entführt dieses Bilderbuch in die Sage der Undine. Nur des Ritters Liebe vermag sie aus dem mythischen Wasserreich zu entheben und ihr den sehnlichsten Wunsch zu erfüllen: eine menschliche Seele. Verebbt aber die Liebe, so ist ihr Schicksal im kühlen Nass besiegelt. Der Text wechselt sich mit großformatigen Bildern ab, die den Fokus auf die sehnsüchtigen Blicke der Figuren richten. Die verführerische Macht der Wassernymphe mal künstlerisch-dramatisch, mal ungestüm-entfesselt, dann magisch-unheimliche in Szene. Ihr endlos langes, kräftig rotes Haar wird dabei zu einem dynamischen, morphenden Element, dem eine eigene, geheimnisvolle Handlungsmacht innezuwohnen scheint. Durch Transparentseiten entsteht eine Tiefenstruktur, die den Blick zurück und auf zukünftige Ereignisse zulässt: Ein Spiel zwischen schäumend-kaschierenden Wellen und zunehmender Figurenkonturierung, das die Gestalt der Undine im Schwebezustand der Verschleierung und Aufdeckung hält.
Aus d. Franz. v. Edmund Jacoby
Jacoby & Stuart: 2013.
46 S.
Neubeginn und Paradigmenwechsel

Astrid Lindgren: Pippi Langstrumpf
Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf. 1945 erstmals erschienen, hat Astrid Lindgrens Roman die Kinderliteratur verändert wie kein Buch davor: Ein autonom lebendes, selbstbestimmtes Mädchen rückt ins Zentrum einer mehrfach ver-rückten Geschichte. Sie lebt am Rande einer geordneten kleinen Stadt in einem verwilderten Garten und bewohnt ihr aus allen architektonischen Rahmen fallende Villa Kunterbunt gemeinsam mit einem Pferd und einem Äffchen. Die Mutter ein Engel, der Vater ein Seefahrer und Südseekönig: Die abwesenden Eltern ermöglichen Pippi ein Leben, das Konformitäten ad absurdum führt – egal, ob es sich um ihr Aussehen oder das Lernen handelt. Pippi ist eine geniale Performerin, liebt das Spiel und scheut nicht davor zurück, sich in ein brennendes Haus zu stürzen, um Menschen zu retten. Tommy und Annika dringen mit ihr gemeinsam in eine wortwörtlich kraftvoll aufgeladene Kinderwelt vor, in das kreative, eigenverantwortete Dasein jeden Tag aufs Neue gefeiert wird.
Aus d. Schwed. v. Cäcilie Heinig.
Oetinger 1987.
400 S.
Kurt Held: Die rote Zora und ihre Bande
Die über Generationen hinweg bewunderte Anführerin der Uskoken, einer Bande von Waisenkindern, beruht auf einer realen Person: Als der kommunistische Schriftsteller Kurt Kläber 1940 eine Reise nach Jugoslawien unternahm, lernte er dort jenes Mädchen kennen, das ihn zu seinem 1941 unter Pseudonym veröffentlichten Jugendroman inspirierte. Zora und die ihren stehen am Rande der Gesellschaft, sie stehlen, um zu überleben, in ihrem Miteinander aber gelten fixe Regeln und vor allem – ganz im Sinne der politischen Haltung Kläbers – Solidarität als oberstes Prinzip. Als das Schicksal der Gruppe auf der Kippe steht, ist es wiederum ein mutiges Mädchen, Zlata, die Tochter des Bürgermeisters, die durch ihr Eingreifen eine Integration der Kinder in die Dorfgemeinschaft erwirkt. Auch wenn man Sprache und Pathos des Textes seine Entstehungszeit anmerkt, allein der Klappentext ist in Zeiten der Pinkifizierung bemerkenswert: Es ist weder ein Buben- noch ein Mädchenbuch, sondern ein Buch der guten Kameradschaft zwischen Burschen und Mädchen und darüber hinaus zwischen Jugendlichen und Erwachsenen.
FISCHER 2015 [EA 1941].
416 S.

Christine Nöstlinger: Die feuerrote Friederike
Auf den ersten Blick wirkt Friederike wie die Wiener Variante von Pippi Langstrumpf: Die Sommersprossen, das rote Haar, die energiegeladene und körperliche Präsenz, die beide Figuren ausstrahlen; dazu die ungewöhnliche Wohnsituation unter dem Dach – gemeinsam mit der Katze Kater und der Annatant. Friederike katapultiert sich jedoch nicht durch ihren Ideenreichtum ins Zentrum der Aufmerksamkeit der anderen Kinder – sondern wird von ihnen an den Rand gedrängt. Das feuerrote Haar wird zum Stigma einer unkonventionellen Präsenz, die in Friederikes Fall mit einer sozial bedingten (literarische) Absage an die Bürgerlichkeit verknüpft ist. Die Direktheit in Sprache und Tonfall lenken die Aufmerksamkeit auf ein Mädchen, das sich der eigenen Ausgegrenztheit widersetzt: Weinen bringt nichts, du musst was tun. Kraft schöpft sie dabei aus dem eigenen Fremdheitsgefühl und lernt von der Annatant, wie die vermaledeiten roten Haare zum Booster der eigenen Ich-Verortung werden können.
dtv 2009 [EA 1970].
104 S.
Renate Welsh: Johanna
Geschichte wird oft aus einer männlichen Perspektive erzählt. Das ist hier anders: In ihrem gut 40 Jahren nach dem Erscheinen immer noch höchst lesenswerten Roman nimmt Renate Welsh nicht nur mit den 1930er-Jahren eine wenig beleuchtete Zeit der österreichischen Historie in den Blick, sondern erzählt eine marginalisierte weibliche Lebensgeschichte. Hauptfigur Johanna wird unehelich geboren und steht damit am Rande der Gesellschaft. In einem niederösterreichischen Dorf hofft sie auf eine Berufsausbildung, wird jedoch auf einem Bauernhof als billige Arbeitskraft ausgebeutet. Die Atmosphäre ist geprägt von ökonomischem Druck, gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, aber auch dem immer populärer werdenden Nationalsozialismus. Johanna trotzt allen Widrigkeiten. Und als sie am Ende des Buches selbst unverheiratet schwanger wird, trifft sie eine mutige Entscheidung. Eine zeitlose Geschichte, die mit ihrer präzisen Gesellschaftsanalyse Mut macht: Wenn mehrere gleichzeitig mit dem Schädel gegen die Wand rennen, muß dann die Wand immer noch stärker sein?
Czernin 2021 [EA 1979].
256 S.

Roald Dahl: Matilda
Matilda ist eine Leserin. Das mag für eine Protagonistin der Kinderliteratur nicht ungewöhnlich sein. Matilda jedoch widersetzt sich mit ihrer Fähigkeit vom frühen Kindesalter an ihrer uninspirierten, clownesk übersteigerten Vorstadtfamilie. Sie spricht mit eineinhalb Jahren fehlerlos, bringt sich mit drei Jahren das Lesen bei und entdeckt alsbald ihr eigenes Paradies: die Bücherei. Das Lesen wird dieserart zum Mittel der Selbstermächtigung – ja mehr noch: Es ermöglicht Matildas schwarzhumorig ins Feld geführte Unabhängigkeit und wird mit phantastischen Mitteln zu einer inneren Kraft gesteigert, als Matilda in die Schule kommt. Ihre Fähigkeit, Dinge Kraft ihrer Gedanken zu bewegen macht Matilda zur Gegenspielerin der brutalen Direktorin Miss Thrunchbull (Frau Knüppelkuh), ehemalige Olympiateilnehmerin im Hammerwurf, die nunmehr mit Kindern, nicht mit Eisenkugeln übt. Mit bitterbösen Witz macht Roald Dahl dem verschulten Lernen in seinem 1988 erstmals erschienenen Roman kurzen Prozess und lässt den Willen zur Gerechtigkeit süß erscheinen wie Miss Honey, Matildas Lehrerin.
Ill. v. Quentin Blake.
Aus dem Eng. v. Sybil Gräfin Schönfeldt.
Rowohlt 2001 [EA 1988].
248 S.
Michael Ende: Momo
Ein fantasiebegabtes Mädchen von unbekannter Herkunft, das alleine einem Amphitheater lebt. Mysteriöse grauen Herren, die den Menschen ihre eingesparte Zeit stehlen. Eine geheimnisvolle Schildkröte, die die Protagonistin aus der Stadt und bis an den Rand der Zeit führt. Michael Endes Klassiker ist fest in der Kindheitslektüre mehrerer Generationen verankert. Seine Kritik einer modernen Zivilisation, die den Blick für das Wesentliche verloren hat, ist heute aktueller denn je. In der „seltsamen Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte“, wie der erstmals 1973 erschienene phantastische Kinderroman im Untertitel heißt, wird Momo zum fremden ebenso wie zum erlösenden Kind: Ihre besondere Gabe der Aufmerksamkeit bringt nicht nur das Beste in jenen hervor, die sich ihr anvertrauen, sondern macht sie, gemeinsam mit ihrer Widerständigkeit und Entschlossenheit, auch zu jener Figur, die es letztlich vermag, die Macht der grauen Herren zu brechen.
Thienemann 2021 [EA 1973]
304 S.
Heute und Morgen

Annette Pehnt (Hg.): Book Rebels
Seit dem Erfolg von „Good Night Stories for Rebel Girls“ 2016 erscheinen auf dem deutschsprachigen Buchmarkt die unterschiedlichsten Biografiesammlungen, wie etwa „Unerschrocken“ von Pénèlope Bagieu, die weiter unten besprochen wird. Zu diesen, die sich stets mit realen Persönlichkeiten aus unterschiedlichsten Umfeldern beschäftigen, gesellt sich nun die erste, die starke Mädchen- und Frauenfiguren aus der Literatur ins Zentrum stellt. Die eine oder andere hat auch in dieser Themenliste Einzug gefunden: Zora, Matilda, Hermine, Antigone … Die Auswahl umfasst dabei kinder- und jugendliterarische Figuren ebenso wie jene aus der Allgemeinliteratur wie Cecilie aus „Die Farbe Lila“. So vereinen sich 75 fiktive Biografien zu einem Literaturführer der etwas anderen Art, der eine große Bandbreite der Genres und literarischen Epochen abdeckt. Je Doppelseite finden Text und Illustration zu einer Figur zueinander. Die Bilder stammen hier alle aus der Feder von Felicitas Horstschäfer, setzen die Mädchen und Frauen gekonnt in Szene und rufen Assoziationen zu den Texten hervor.
Ill. v. Felicitas Horstschäfer.
Hanser 2021.
192 S.
Pénélope Bagieu: Unerschrocken: Fünfzehn Porträts außergewöhnlicher Frauen
Hedy Lamarr, die in Wien geborene Schauspielerin, die oft auf ihre verführerischen Rollen reduziert wird, obwohl sie als Erfinderin für ein Patent verantwortlich war, das später für die Entwicklung von Technologien wie GPS, W-LAN oder Bluetooth aufgegriffen wurde. Sonita Alizadeh, die junge afghanische Rapperin, die das Schicksal zwangsverheirateter Mädchen in ihren Songtexten thematisiert. Penelope Bagieu hat sich in den zwei Bänden ihrer komplexen Comic-Porträts zum Ziel gesetzt, relativ unbekannte Frauen wie diese beiden zu würdigen – oder wenig bekannte Aspekte aus deren Leben hervorzuheben. Denn wer weiß schon, dass Josephine Baker nicht nur die schwarze Schönheit im Bananenröckchen, sondern auch Widerstands-kämpferin war? Mit frechem Strich werden die Biografien in klassischen Comic-Panels chronologisch nacherzählt, basierend auf umfangreichen Recherchen sehr eng an den historischen Fakten orientiert. Auf einer abschließenden Doppelseite nimmt Bagieu dann jeweils einen Aspekt des Lebens heraus, der in einer ganz spezifischen Bild- und Farbgebung dargestellt wird.
Aus dem Franz. von Claudia Sandberg und Heike Drescher.
Lettering: Olav Korth.
Reprodukt 2017.
141 S.

Joanne K. Rowling: Harry Potter
Bist du geschwind im Denken, gelehrsam und auch weise, / Dann machst du dich nach Ravenclaw, so wett ich, auf die Reise. So singt der Sprechende Hut, der die neuen Schüler*innen im ersten Schuljahr in Hogwarts einem der vier Häuser zuteilt, über Ravenclaw. All diese besungenen Attribute scheinen eins zu eins auf eine ganz besondere Hexe in der Kinder- und Jugendliteratur zuzutreffen: Hermine Granger. Mit ihrer überaus klugen Art und kreativen Problemlösungsfähigkeit ist sie es, die die beiden männlichen Parts des berühmten Trios aus brenzligen Situationen herauszumanövrieren weiß. Trotz alledem teilt der Sprechende Hut Hermine nicht Ravenclaw, sondern dem für die Tapferkeit seiner Schüler*innen bekannten Haus Gryffindor zu. Warum? Weil das, was Hermine über ihre Klugheit hinaus auszeichnet, ihre Tapferkeit und unbeschränkte Loyalität ist: Bücher! Schlauheit! Es gibt wichtigere Dinge – Freundschaft und Mut[.] Und so könnte man die Frage, was Harry und Ron ohne Hermine wären, wohl sehr einfach beantworten: Aufgeschmissen.
Aus d. Engl. v. Klaus Fritz.
Carlsen 1998–2007.
7 Bände, insg. 4192 S.
Suzanne Collins: Tribute von Panem
Katniss – ein sprechender Name, der seinen Ursprung in den unscheinbar klingenden Katniss-Knollen, einem Pfeilkrautgewächs, hat. Damit verweist der Name der Heldin aus Suzanne Collins Welterfolgs-Trilogie bereits auf jenes Symbol, das beinahe ikonografisch mit Katniss in Verbindung steht: Pfeil und Bogen. In der Heraldik stehen diese beiden Symbole für Wachsamkeit, Wehrhaftigkeit und die Bereitschaft zum Kampf – alles Attribute, die Katniss Everdeen im Laufe der Trilogie verkörpert. Ihre Rollen sind dabei wandelnd: Sie ist Tributin in den 64. und 65. Hungersspielen – einem tödlich-blutigem Fernsehevent im postapokalyptischen Amerika –, Rebellionsfigur gegen das unterdrückerische Kapitol, liebevolle Schwester und verlässliche Freundin. Auch wenn sie immer wieder zum Spielball der männlich-patriarchalen Kräfte degradiert wird, sind es ihre Wachsamkeit und Authentizität, mit der sie sich gegen jede Instrumentalisierung ihrer selbst wehrt und die sie zu einer jugendliterarischen Heldin machen.
Aus d. Engl. v. Syle Hachmeister und Peter Klöss.
Oetinger 2009 / 2010 / 2011.
416 S.

Elizabeth Acevedo: Poet X
Xiomara ist kein braves Mädchen, das still in Blumenkleidchen lächelt. Sie ist Babyspeck, der sich in D-Körbchen und geschwungene Hüften verwuchs, sie ist dunkel und kurvig und wütend. Wütend über die alltäglichen sexualisierten Mikroaggressionen einer Gesellschaft, die Xiomara gelehrt hat, ihren Körper als Unannehmlichkeit zu begreifen. Diesen versteckt sie hinter zu großen Klamotten, während sie ihre ungestüme, aufbegehrende Stimme zunächst nur in jenen Versen äußert, die sie in ihrem Notizheft niederschreibt. Nur schrittweise bricht sie aus dieser Selbstzensur aus: zuerst alleine vor dem Spiegel, dann auch unter Vertrauten, und schließlich in einem Spoken Word Poetry Club. Für Xiomara birgt ihr Schreiben und Performen eine Widerstandsform, mithilfe derer sie zu ihrer Stimme und ihrem Körper (zurück-)finden kann. Dabei wird der Poetry Slam für sie zu jenem „Boxring“, in dem sie Konflikte diskursiv aushandeln kann und nicht mehr verbergen muss, was ohnehin unversteckbar ist.
Aus dem Amerikan. v. Leticia Wahl.
Rowohlt Rotfuchs 2019.
352 S.
Elisabeth Steinkellner und Anna Gusella: Papierklavier
Eine 16-jährige Protagonistin namens Maia und ein Tagebuch. Als das präsentiert sich „Papierklavier“ auf den ersten Blick. Auf den zweiten ist es ein fein illustriertes Skizzenbuch, mithilfe dessen Maia ihr turbulentes, adoleszentes Leben zu ordnen und festzuhalten versucht, in dem Geldnöte, Queer- und Body-Positivity-Bewegungen und Selbstfindung eingeschrieben werden, wenn gesellschaftliche Normierungen, herkömmliche Schönheitsideale und rollenspezifisches Verhalten aufgebrochen wird. Maias Mutter versucht ihre drei Töchter von unterschiedlichen Vätern über Wasser zu halten, als die geliebte Nachbarin „Oma Sieglinde“ stirbt. Zu dem individuellen Selbstfindungs- gesellt sich so ein Trauerprozess, den es zu bewältigen gilt. Die Komposition aus Text und den wild anmutenden schwarz-türkisen Kreideillustrationen ergeben ein Plädoyer für Freundschaft, Selbstbestimmtheit und das Wohlfühlen in Körper und Seele, auch wenn man nicht der Norm entspricht denn Wo wenn nicht hier, wer wenn nicht wir.
Beltz&Gelberg 2020.
o. S.

Nancy Springer: Enola Holmes
Das Leben im späten 19. Jahrhundert als bücherliebende und kombinationsfähige 14-Jährige ist schon nicht leicht, wenn man nicht von einem Freigeist und einer Verfechterin des Frauenwahlrechts erzogen wurde. Erst recht nicht, wenn die Mutter verschwindet und die Brüder mäßig begeistert von einer selbstständigen jungen Frau sind, denn Mädchen haben mit Puppen zu spielen. In der Kinderkrimi-Reihe rund um die kleine Schwester von Detektiv Sherlock Holmes wird das Gegenteil bewiesen, wenn Enola Holmes selbstbestimmt nach London zieht und auf eigen Faust Verbrechen aufklärt, und dabei die Vorzüge des Frauseins und der ausladenden Gewänder in einer Welt, in der dank der vorherrschenden Genderrollen Frauen nicht allzu ernst genommen werden, zunutze macht.
Je Band wird ein Kriminalfall verhandelt; übergeordnet wird das Rätsel um das Verschwinden von Enolas Mutter und die Annäherung zwischen Enola und Sherlock verhandelt, was dieser Reihe einen zusätzlichen Reiz verleiht.
Ergänzend empfohlen: Die charmante Filmadaption von Enolas erstem Fall auf Netflix.
Aus d. Engl. v. Nadine Mannchen
Knesbeck Seit 2019.
Rose Lagercrantz Rose: Glücklich ist, wer Dunne kriegt
Sieben gilt als Zahl des Glücks. Daher erscheint es naheliegend, dass die seriell erzählten Erlebnisse von Dunne sieben Bände umfassen – denn Dunne ist ein glücksbegabtes Kind. Ihre Erlebnisse setzen ein, als Dunne in die Schule kommt, Ella-Frida kennen lernt und sich rasch wieder von der neuen Freundin trennen muss. Von da an durchlebt Dunne intensive Momente der Freude und Verwirrung, der Traurigkeit und Verzweiflung – und immer wird stilsicher und liebenswert davon erzählt, die kindliche Lebenswelt gewitzt eingefangen. Stets sorgt Dunne – für sich selbst und ihren Papa – dafür, dass das Leben wieder ins Lot gerät. Denn jemanden zu verlieren, kann einem das Herz zerreißen. Das haben Dunne und ihr Vater mehrfach erfahren. Doch im wechselweisen Miteinander des klug für Erstler*innen gestalteten Textes und der Schwarzweißzeichnungen wird Dunnes Fähigkeit in den Blick genommen, nach kreativen Lösungen für verzwickte Situationen zu suchen. Sie geht dabei ungewöhnliche Wege; gelangt aber immer ans Ziel, sprich: Dorthin, wo das Glück auf sie wartet.Aus dem Schwed. von Angelika Kutsch.
Mit Ill. von Eva Eriksson.
Moritz 2018.
185 S.

Nora Dasnes: Regenbogentage
Die Welt, in der sich Kinder und Jugendliche bewegen, scheint oft strikt durchkategorisiert zu sein: Blau oder Rosa, cool oder uncool, kindisch oder schon erwachsen. Wie aber sich verhalten, wenn die eigene Person in diese Kategorien nicht passen will? Die 12-jährige Tuva hat darauf zwar keine klare Antwort, arbeitet aber daran, eine zu finden. Während ihre Schulkolleg*innen sich immer mehr in zwei Lager teilen, sieht sie sich im Dazwischen und versucht tapfer, die Gräben zu überbrücken. Doch dann kommt Mariam an ihre Schule und stellt Tuvas Selbstbild endgültig von den Füßen auf den Kopf; könnte es wirklich sein, dass sie in ein Mädchen verliebt ist? Und wie soll sie das ihren Freundinnen erklären, die sich offensichtlich nur für Jungs interessieren? Schreibend und zeichnend nähert sich die Protagonistin in diesem Comic-Tagebuch der eigenen Gefühlswelt an und findet – auch mithilfe ihres Papas, der für jede Lebenslage die richtige Playlist parat hat – ihre eigene Stärke ganz abseits der Erwartungen, die an sie gerichtet sind.
Aus d. Norweg. V. Katharina Erben.
Klett Kinderbuch 2021.
256 S.
Tamara Bach: Was vom Sommer übrig ist
Viel ist es nicht, was vom Sommer noch für die 13-jährige Jana und die 17-jährige Louise übrig ist, denn beide leben im Schatten des Krankenhauses: Im wörtlichen Sinn die eine, die in der Abwesenheit der dort arbeitenden Eltern mit hohem Aufwand für Sommerbeschäftigung sorgen will; im übertragenen Sinn die andere, deren Bruder nach einem Suizidversuch im Koma liegt. All das lässt Tamara Bach jedoch nur anklingen; wie auch das Leben selbst hält sie erzählerisch alles ein wenig in Schwebe, lässt die Dinge viel eher nebeneinander als nacheinander passieren. Dieserart treffen die beiden Mädchenfiguren unvermittelt aufeinander und schnüren in einem Sommer, in dem das Wünschen nicht hilft, füreinander Care-Pakete. Sie stärken einander, utopieren, wie es sein könnte – und helfen einander, sich im eigenen Leben (neu) zu verorten. Nuancenreich und mit feinem Humor lässt Tamara Bach die beiden Erzählstimmen ineinanderfließen und zwei Mädchen dafür sorgen, dass das Leben der jeweils anderen um ein kleines Stück glücklicher wird.
Carlsen 2012.
137 S.

Pija Lindenbaum: Greta haut ab
Gretas Tag läuft so gar nicht, wie sie sich das vorgestellt hat. Der nervige Egon fährt schon wieder mit ihrem Fahrrad, sie muss auf eine doofe Feier und dafür soll sie sich auch noch (in einem ausgestellten rosa Rüschenkleidchen!!) fein herausputzen. Da streikt Greta kurzerhand und haut ab. Ihr Verschwinden und der zurückgelegte Weg werden dabei der Ebene der Realität entzogen, räumliche und zeitliche Dimensionen außer Kraft gesetzt, Perspektiven verzerrt und verfremdet. Gretas Protest und ihre Wut, die Verweigerung des Lieblich-Mädchenhaften und das Bestehen auf ihre Wildheit inszeniert Pija Lindenbaum ausdrucksstark durch Gretas immer länger und wilder werdende Haare, die auch nach ihrer Rückkehr nicht mehr verschwinden. Subversives Potential bergen dabei auch die vielschichtigen Nuancen in Text und Bild, wenn in den dargestellten Alltagsszenarien konventionelle Geschlechterrollen und Familienmodelle auf subtile Weise unterlaufen werden.
Aus d. Schwed. v. Kerstin Behnken.
Oetinger 2017.
40 S.
Stian Hole: Annas Himmel
Mit ihren roten Haaren und den vielen Sommersprossen könnte man meinen, Stian Hole zeichnet in seinem Bilderbuch eine andere starke Mädchenfigur fort: Pippi Langstrumpf. Ebenfalls in der Tradition des wilden Kinds stehend entwirft der norwegische Künstler eine Mädchenfigur, die mit ihrer Fantasie eine eigene Welt zu schaffen vermag. Worum geht es aber? Nach dem Tod von Annas Mutter liegt es an Anna, verschiedene Vorstellungen des Jenseits für sich zu erproben und – zusammen mit ihrem wenig handlungsfreudigen Vater – über die Ort- und Zeitlosigkeit des Danach nachzudenken. Mit ihrer schier unendlich scheinenden Vorstellungskraft utopiert sie sich in diese jenseitige Welt, in der die Gesetze der Naturwissenschaft ausgesetzt sind. In kunstvoll collagierten Bildern mit starken Farben und impressiven Anordnungen wird der Raum des Unvorstellbaren bildlich greifbar. Als starke Mädchenfigur ist Anna dabei nicht Objekt ihrer Trauer, sondern wird aktiv und zeigt, wie ein Stück jenes Himmels, in dem ihre Mutter nun ist, auch auf Erden sicht- und spürbar wird.Aus d. Norweg. v. Ina Kronenberger
Hanser 2014.
48 S.
Kirsten Fuchs: Mädchenmeute
Ich-Erzählerin Charlotte soll zwei Sommerwochen in einem Mädchen-Survivalcamp verbringen, das auf der Fläche eines ehemaligen Pionierlagers in Ostdeutschland stattfindet. Rasch aber werden die Erwartungshaltungen an eine konventionelle Campdramaturgie durchbrochen: Die erwachsene Leiterin verschwindet und bietet den sieben teilnehmenden Mädchen die einmalige Möglichkeit auf: Einfach alles. So frei sind wir nie wieder. Nie wieder in unserem Leben. Mit dem gestohlenen Auto eines Hundefängers und sieben geretteten Hunden machen sie sich auf den Weg ins Erzgebirge und beginnen, sich das Leben im Wald auf eigene Faust anzueignen. Zunehmend zeigen sich die mit Witz ausgestalteten, individuellen und reichlich ungewöhnlichen Charaktere der Mädchen, die sich unvermutet jenseits von Zivilisation und gesellschaftlichen Regeln wiederfinden – und ihren Platz im Gruppengefüge aushandeln müssen. Dass sie dabei nicht un-beobachtet agieren wird erst nach und nach ruchbar; und steigert die Spannung des sprachlich versiert gestalteten Coming-of-Age-Romans der Slam Poetry Könnerin Kirsten Fuchs.
rororo 2015.
464 S.
Laura Zimmermann: Meine Augen sind hier oben
Die Reduktion auf das äußere Erscheinungsbild ist grundsätzlich ein gesellschaftliches Problem. Fatal wird es, wenn man sich – wie Greer – aufgrund einer üppigen Oberweite im eigenen Körper nicht wohlfühlt und sich in XXLPullover verkriecht. Sport ist für sie keine Option, der Schulball schon gar nicht. Wäre da nicht Jackson … Doch nicht die Liebesgeschichte steht im Vordergrund, vielmehr thematisiert die Autorin in ihrem Debüt leichtfüßig die Schwere einer jugendlichen Figur, die mit ihrem Körper, Fremd- und Selbstbild ebenso kämpft wie mit sexistischen Kommentaren. Erst als Greer wider Erwarten ins Volleyballteam aufgenommen wird, kann sie die Tatsache, dass sie von anderen Menschen tatsächlich wahrgenommen wird, ein Stück weit akzeptieren. Und damit den Blick auch befreiter auf Jackson richten – um festzustellen, dass er sich selbst als viel zu wenig, als ständig Vergessener empfindet. Erzählt wird das alles mit viel Sprachwitz, geschliffenen Dialogen und basierend auf der erfrischenden Selbstironie der Ich-Erzählerin.
Aus. d. Engl. v. Barbara König.
Atrium 2020.
336 S.
Weitere starke Frauen- und Mädchenfiguren finden sich in der individualisierten Medienliste zum Thema >>> FrauenPower im internen STUBE-Card-Bereich.
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