Religiöses Buch im Oktober 2024
Fischer SAUERLÄNDER 2024.
64 S.
Christine Laube und Mehrdad Zaeri: Anna. Was die Zeit nicht heilt
Als sei es gestern gewesen.
Dies sind die ersten Worte, die in „Anna. Was die Zeit nicht heilt“ zu lesen sind. In ihnen manifestiert sich bereits die empfundene zeitliche Nähe, mit welcher die namenlose Protagonistin der Graphic Novel auf ihre Kindheit während des Zweiten Weltkrieges zurückblickt. Mit den groben Strichen eines Kohlestiftes wird auf sepiafarbenem Papier und Leinen die Geschichte eines Mädchens erzählt, für welches es in den Wirren des Krieges emotional keinen Platz gibt und deren Erinnerungen an damals sie bis heute nicht losgelassen haben.
Das Mädchen lebt nach dem Einzug des Vaters an die Front mit der Mutter allein. Nachdem die Heimatstadt der beiden zerbombt wird, müssen sie fliehen. Auf einem alten Bauernhof kommen sie unter, doch das Gefühl der Entwurzelung bleibt: sie sind hier nicht willkommen, sondern nur geduldet.
Auf einer Schaukel, einem wiederkehrenden Motiv der Erzählung, findet das Mädchen etwas Trost, doch auch in diesem kindlichen Spiel ist der Krieg atmosphärisch spürbar.
Wenn meine Füße die Pappel berühren,
dann wird Papa zurückkommen.
Ich muss nur hoch genug schaukeln.
Er wird mich ganz fest in den Arm nehmen.
Auch optisch erinnert das Hin und Her der Schaukel an eine Standuhr und damit an das omnipräsente Gefühl des Wartens auf Veränderungen in Zeiten des Krieges. Dieses Gefühl ist, wie vieles andere im Buch, zeitlos - nur durch einen Verweis im Klappentext wird klar, dass die Graphic Novel in der Zeit des Zweiten Weltkrieges zu verorten ist.
Auf dem Bauernhof leben neben der Mutter und dem Mädchen auch ukrainische Zwangsarbeiter*innen, unter ihnen Anna, ein junges Mädchen. Obwohl die beiden nicht miteinander sprechen können, entspinnt sich zwischen den beiden eine zarte Freundschaft. Doch auch die Freundschaft der Mädchen schafft es nicht, das Näherrücken des Krieges aufzuhalten. Nach und nach werden die Vögel der Landschaften mit Flugzeugen ausgetauscht, die immer näherkommen. Schließlich sind sie da und Anna wird von einer Bombe getötet.
Was nun folgt, ist nicht nur Trauer, sondern auch Hoffnungslosigkeit und Ernüchterung. Die Schaukel, einst Symbol des Wartens auf bessere Zeiten, steht still und die Protagonistin mit ihr. Für ihre Trauer gibt es keine Worte: die schon vor Annas Tod wortkarge Graphic Novel verstummt nun vollends, aber die ausdrucksstarken Bilder sprechen für sich. Das Mädchen, das mit hängenden Schultern auf der Schaukel sitzt, versinkt im Blättermeer des sie umgebenden Herbstwaldes.
Die Graphic Novel basiert auf den wahren Erlebnissen von Helga Neumeyer. Nachdem sie im hohen Alter den alten Bauernhof und seine Umgebung zum ersten Mal wieder besuchte, stellte sie fest, dass Anna kein Grab hat. Davon erschüttert pflanzte sie einen Baum und schrieb ihre Erinnerungen an den Krieg und an Anna für ihre Kinder auf. Dieses Buch ist somit nicht nur ein pazifistisches Kunstwerk, sondern vor allem auch ein Raum der Würdigung und Erinnerung an Anna.
Auf den letzten Seiten des Buches spricht Helga Neumeyer selbst zu den Leser*innen. Sie formuliert eindrücklich:
Anna war vom Erdboden verschwunden.
Das hat mich im Innersten erschüttert.
Und so entstand in mir der Wunsch, diesem Mädchen,
der einzigen freundlichen und doch so schmerzenden
Erinnerung aus diesen dunklen Jahren, ein Denkmal zu setzen.
Und ich bitte euch, die ihr diese Geschichte lest,
sie nicht zu vergessen.
Marie Lechner
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