Coppenrath 2024.
48 S.

Marlene Droop: Echt das Leben…und ich

Am Anfang ist alles klar. Am Anfang hat man Hunger und Durst und Bauchdrücken und im besten aller Fälle gibt es andere, die sich um den kleinen Kosmos an Bedürfnissen kümmern; trockene Tücher und alles.

Am Anfang gibt es Essen und Schlafen und Spielen und keinen Zweifel daran, dass man selbst und sonst niemand die Sonne ist, um die sich die Welt dreht.

Am Anfang zählt nur die Gegenwart und die ist ewig.
Und später? Zwischen dem Zähnekriegen (dem zweiten Set!) und dem Moment, da zum ersten Mal Wohnungsanzeigen durchgeklickt werden, verschiebt sich etwas. Nicht nur stoßen die großen Zehen an die Schuhinnenseite, auch stoßen die eigenen Gedanken an die Wände, die die Familie bis dahin wohlig und unhinterfragt umgeben haben.
Ich finde, Eltern sind bei der ganzen „ICH-WERDE-ERWACHSEN!“-Nummer nicht immer hilfreich, Im Gegenteil!  GEBT MIR FREI RAUM!,
heißt es zu diesem ersten Anstoßmoment in Marlene Droops „Echt das Leben…und ich“. Verbildlicht wird das Dilemma des bis dahin geschätzten elterlichen Behütens durch die handgezeichnet Grafik eines Kindes, das sich unter dem freundlichen Blick der Eltern mehr und mehr ins Kreuz fallen lässt, bis der befreiende Sprung in den Luftraum einen neuen Lebensabschnitt markiert. Nicht mehr Kind und noch nicht ganz im Erwachsenenleben angekommen (Schnittemenge: ICH BIN TOTAL ERWACHSEN I Mamaaaa, wo ist mein Legoo??) – genau dort ist die Erzählung verankert.

Wer nun zu einem sarkastischem: „Pubertät im Jugendbuch, ganz was Neues!“ ansetzen möchte, gedulde sich noch kurz. Ja, Marlene Droops Protagonistin ist ein Mädchen dazwischen. Zwischen Kind- und Nichtmehrkindsein, zwischen dem Wunsch, in die Welt zu brüllen und dem Wunsch, mäuschenklein zu verschwinden, zwischen dem Bewusstsein für die eigenen Privilege und dem Frust der Generation Klimakatastrophe. Das macht sie aber nicht zur belehrenden Boomer-Verachterin und neunmalklugen Rebellin mit konstant erhobenem Zeigefinger. Im Gegenteil: Marlene Droops namenslose Protagonistin stellt die großen Fragen, ohne dafür Antworten zu haben und eröffnet so den Raum für Reflexionen auf Leser*innenseite.
DA GIBT ES EINEN GEDANKEN; DER MICH NICHT LOSLÄSST. Es ist ja so: ich werde geboren, werde erwachsen, lebe, werde alt, sterbe. Der nächste Mensch wird geboren, lebt, wird alt, stirbt […]

Aber wenn wir unendlich leben würden, wie könnte sich das auf unsere Leben auswirken? Öde Wiederholungen? Kein Carpe Diem mehr? Und ist irgendwann einfach alles vorbei?
So spielen die Überlegungen zwischen Ewigkeit(en) und dem Glück des Augenblickes Pingpong, hüpfen an der Geborgenheit der Freundschaft entlang und an dem Gedanken, dass vielleicht doch alles vom Schicksal gelenkt sein könnte.

Kennst du das, wenn du etwas tust und denkst: Puh, was wäre gewesen, wenn…? Aber hätte, hätte, Fahrradkette – ob es Schicksal ist oder das Glück (oder vielleicht doch etwas ganz Anderes…), das uns auf unserem Lebensweg mal hierhin, mal dorthin treibt, bleibt offen in dieser Erzählung über das Leben zwischen Zweifel und Gewissheit, zwischen Legoburg und Eigentumswohnung. Das macht die Gedankenschubser für große und Schritte und kleine Sprünge des Untertitels umso geeigneter, als Leser*in selbst die Sprunggelenke zu testen – und das in allen Altersklassen (empfohlen: ab 12). Das Nachdenken über große Brocken wie Bestimmung, Sinn und Dasein wird so zum sanften Gedankenexperiment, das immer wieder zurückgeholt wird in das durch Grafik und Handlettering bestimmte Erzählen. Weiß auf Nachthimmelplanetenblau lies sich so:

Da komme ich gedanklich wieder zum Anfang, als ich gesagt habe, dass ich mich so klein fühle auf dieser Welt…und erst recht in diesem riesigen Universum, in dem ich von weitem gesehen nur einen winzig kurzen Zeitraum existiere …
Dennoch soll dieser winzig kurze Zeitraum nicht verstreichen, ohne genutzt zu werden; ohne sich darin zu strecken und groß zu machen. Viel Raum für Identifikation bieten die Figuren, die im konsequenten Blau-Rot-Grau-(Mintgrün)-Schema Entsprechung im lachsfarbenen Bändchen der Fadenbindung finden. Generell betrachtet kommt das Buch in hübscher Aufmachung: beinahe quadratisch und bequem für Manteltaschen (14,4, x 17,6 cm) und mit Vorder- und Rückseite aus Pappe, liegt sein Rücken offen und gibt den Blick auf die Bindung frei. Parallel dazu eröffnet die Erzählung den Blick auf das Verwirrspiel des Übergangs vom kindlichen Gestern auf das jugendliche Morgen.
Verankerung findet Protagonistin schließlich in der Überzeugung, dass es eine bessere Welt geben kann. Und dass es sich lohnt, sich dafür zu engagieren.

Iris Gassenbauer


 

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