Religiöses Buch im November 2023
Nilpferd 2023.
32 S.
Melanie Laibl und Stella Dreis: Wie ich die Welt mir träume
„Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, daß sie bleibt.“ Diesen eindringlichen Satz formulierte der österreichische Lyriker Erich Fried Anfang der 1980er Jahre in seinem Gedicht „Status quo (zur Zeit des Wettrüstens)“. In Zeiten der Klimakrise, deren konkrete Folgen immer dramatischer merkbar sind, hat er eine neue Relevanz bekommen – und wirft die Frage auf, wie die Welt denn sein müsste, damit sie bleibt. Eine Frage, die natürlich aus unterschiedlichen Perspektiven mit ganz unterschiedlichen Handlungsoptionen beantwortet werden kann und auch in der Kinder- und Jugendliteratur mittlerweile breit verhandelt wird: Allein in der aktuellen Herbstproduktion reicht die Bandbreite der Befassung vom dystopischen Roman, in dem die Mehrheit der Menschheit auf den Mars auswandern musste („Boy from Mars“ von Christian Linker, dtv 2023) bis zu realen Geschichten von jugendlichen Klimaktivist*innen („Let´s save the world“ von Bella Lack, Carlsen 2023). Die österreichische Autorin Melanie Laibl hat sich in ihrem Mutmachbuch „WErde wieder wunderbar“ und dem mittlerweile dazu ergänzend erschienenen Mitmachbuch „Unsere wunderbare Werkstatt der Zukünfte“ (beide mit Illustrationen von Corinna Jegelka ebenfalls bei Edition Nilpferd im G&G Verlag) schon umfassend und höchst fundiert damit auseinandergesetzt, was alles getan werden kann, um das Zeitalter des Anthropozäns gut mitzugestalten. In diesem gemeinsam mit Stella Dreis gestalteten Bilderbuch nähert sie sich dem Themenkomplex von einer völlig anderen Seite – und vor allem in einer völlig anderen Tonalität.
Ein kleines Mädchen schaut nachdenklich aus dem Fenster und stellt sich die Frage, was wäre, wenn die Erde ganz und gar menschenleer wäre. Was würde das für die eigene Existenz bedeuten? Das Kind imaginiert sich als Baum, und bereits auf der nächsten Doppelseite verändert sich in der eindrücklichen Bildsprache von Stella Dreis die Atmosphäre total: Das eben noch kühle, entleerte Zimmer wird in unterschiedlichste Grünschattierungen getaucht und damit die Themen der nächsten Seiten vorweggenommen. Denn die neue Existenzform wirft neue Fragen auf: Hat Baum-Sein ein Wort? Fast fotorealistisch bildet die Illustratorin unterschiedliche Blattarten ab, das Kind als solches ist nicht mehr zu sehen. Dafür kommt dann ein du und nach Mensch und Pflanze eine weitere Existenzform ins Spiel: Der Fuchs, der auf den ersten beiden Doppelseiten als Spielzeug oder Deko-Objekt zu sehen war, wird nun zum Gegenüber jener Frage, die dann in philosophisch-poetischem Duktus weitergesponnen wird:
Wie die Erde ist ohne Menschengedachtes,
wie es weitergeht ohne Menschengemachtes.
Eine Frage, die aus einer christlichen Perspektive betrachtet durchaus irritierend ist: Ist nicht der Mensch die Krone der Schöpfung? Und wäre nicht eine vom Menschen und seinen Machwerken entleerte Welt die alttestamentarische Radikalität der Sintflut, die von Gott als Strafe und gleichermaßen Vernichtung (fast) aller Menschen geschickt wird? Der Text spart diese Irritation zunächst aus und skizziert weiter, wie wunderbar der Planet wäre, würde er sich selbst ordnen: Vögel statt Flugzeugen, Paradies wie noch nie. Utopie oder Dystopie? Während beim Lesen und Betrachten die Irritation bestehen bleibt, ob jetzt eine Welt ganz ohne Menschen erstrebenswert ist, bringt schließlich die Erzählstimme ein, was fehlen würde: Denken nämlich. Der Anspruch aber, den diese hier kunstvoll beschriebene Schöpfung an die Menschen stellt, bleibt hoch: ein Bilderbuchmensch, bescheiden und respektvoll der Natur gegenüber. Mit diesem gleichermaßen schwer realisierbaren wie erstrebenswerten Menschenbild wird der Bogen wieder zurückgespannt zum erzählerischen wie visuellen Ausgangspunkt des Kindes vom Beginn. Es hat sich verändert, ist in Bewegung gekommen. Und die farbstarken Blätter, die durch das vormals so sterile Zimmer schweben, verweisen auf jene Idee, jenen Wunsch, das Mensch sein auch anders möglich sein könnte.
Kathrin Wexberg
>>> hier geht es zu den Religiösen Büchern 2023
Die gesammelten Religiösen Bücher des Monats finden Sie im
>>> Archiv