Tulipan 2023.
200 S.

Nikola Huppertz: Fürs Leben zu lang

Schneller, höher, weiter – das bekannte Motto der olympischen Spiele könnte durchaus um „größer“ ergänzt werden, wenn es um die Selbstwahrnehmung von Kindern geht: Ob bei der Kinderärztin penibel abgemessen oder daheim in die Kastentüre eingekratzt, jeder Zentimeter Körpergröße mehr ist toll und sozusagen ein Schritt näher hin zum ersehnten „Groß sein“. Doch wenn man sich wie die dreizehnjährige Ich-Erzählerin Magali viel zu groß fühlt, ist das weniger angenehm. Und wenn die „Zielgröße“ sogar zwischen 1,89 und 1,92 geschätzt wird, ist das noch weniger ein gutes Gefühl. Zumal sie überzeugt davon ist, dass niemand ein so großes Mädchen küssen wird wollen – vor allem Joël Hummel nicht, von dem sie wiederum gerne geküsst werden würde. Ihre schwärmerischen Beobachtungen des gleichaltrigen Burschen (der noch dazu französisch spricht!) motivieren sie, etwas aufzuschreiben:

Und zum ersten Mal erschien es mir nicht mehr unsinnig, etwas in dieses überteuerte Notizbuch mit Goldschnitt und Lesebändchen zu schreiben, das ich (ohne dass ich es mir gewünscht hätte) zu meinem dreizehnten Geburtstag bekommen hab. Ich gehe davon aus, dass Mama und Papa es mir als Tagebuch andrehen wollten.

Magali interessiert sich also nicht fürs Tagebuch schreiben – denn anders als ihre große Schwester Malve beschäftigt sie sich nicht den ganzen Tag mit sich selbst (vom Hadern mit ihren gefühlt zu langen Beinen abgesehen). Diese Themen rücken deutlich in den Hintergrund, als einer der Nachbar*innenn, der 98-jährige Herr Krekeler, seiner Familie verkündet, dass sein Tod unmittelbar bevorsteht. Die Familie reist notgedrungen an, inklusive Enkel Kieran (1,53 maximal und überaus wuselig), der behauptet, Magali von einem gemeinsamen Abenteuer in der frühen Kindheit zu kennen. Kieran taucht immer öfter auf, interessiert sich für Magali und konfrontiert sie mit interessant-skurrilen Fakten wie die historische Figur des Wakanohana Kanji I., Begründer einer berühmten Ringer-Dynastie – Magali prüft all diese Fakten und baut sie auf kleinen Info-Kästchen in ihr Nicht-Tagebuch ein. Die Einträge des Notizbuches sind wie in einem Tagebuch datiert (sie reichen vom 29.3. bis zum 11.4.), zusätzlich strukturiert wird das Buch aber durch drei Teile mit Überschriften, die ein zentrales Grundthema des Textes auf den Punkt bringen:

Das ganze Haus lebt und Herr Krekeler will sterben
Herr Krekeler stirbt
Wir leben weiter

Denn das Sterben eines Menschen, den man von klein auf kennt, so aus der Nähe mitzuerleben, ist natürlich für Magali eine prägende Erfahrung. Unaufgeregt und dennoch sehr eindringlich beschreibt sie, was geschieht und welche Fragen sich daraus für sie ergeben. Darunter ist auch ihre Begegnung mit dem toten Körper von Herrn Krekeler (ein Moment, der in der Kinder- und Jugendliteratur bei aller scheinbaren Tabulosigkeit meist ausgespart wird). Eine Begegnung, die auch erschüttert: Wenn einer tot ist und man hat die Leiche gesehen, geht alles, was sonst peinlich ist.

All die Themen rund um Leben und Sterben und was der Tod für unser Leben bedeutet, werden in sehr poetischer Form verdichtet, als Kieran ausgerechnet Magali bittet, bei der Verabschiedung eine Ansprache zu halten, und sie dafür eine höchst kreative Form findet.

Religion und Transzendenz kommen dabei nicht in einem expliziten Sinn zur Sprache, die Ernsthaftigkeit und Intensität, in der die Autorin Nikola Huppertz die Auseinandersetzung ihrer Hauptfigur mit all diesen existenziellen Themen nachzeichnet und dennoch nie überfrachtet, ist dennoch spirituell in einem weiteren Sinne. Und dass die erzählte Zeit rund um Ostern arrangiert ist, ist wohl auch kein Zufall: Auch wenn die Auferstehung nicht zur Sprache kommt, wird nichts weniger als die Frage nach dem gelungenen Leben verhandelt, die Magali und Kieran sogar per Mail an einen (real existierenden) Philosophen richten:

Wir kennen jemanden, der uns zeigt, wie Sterben geht. Es ist nicht so schlimm, wie man denkt. Es wird alles weniger, jeden Tag ein bisschen. Bis zuletzt nichts mehr übrig bleibt. Wir kennen aber niemanden, der uns zeigt, wie Leben geht.

Als dann schließlich Herr Krekeler eingeäschert und ein Großteil seiner Besitztümer verteilt sind, sind in Magalis Notizbuch nur noch fünf Seiten frei – und es wird Zeit, sich wieder anderen Lebensthemen zuzuwenden. Zum Beispiel der Frage nach dem ersten Kuss – und ob es wirklich so wichtig ist, welche Körpergröße die beiden Menschen haben, die ihn austauschen. Spoiler: Nein. Spoiler 2: Auch Joël Hummel spielt bei diesem wichtigen Ereignis keine wichtige Rolle mehr.

Kathrin Wexberg

Das Thema Tod, Sterben und Trauer ist zentraler Gegenstand einer Broschüre der STUBE, die 2015 aktualisiert wurde. Wennauch nicht mehr alle darin enthaltenen Titel lieferbar sind, gibt sie einen guten Überblick von Bilderbuch bis zum Jugendroman, die Hilfestellungen geben, um Fragen nach dem Tod zu verbalisieren und Möglichkeiten der Trauerarbeit auszuloten. Nähere Informationen dazu finden Sie >>> hier

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