Aus d. Kanad. v. Kathrin Bögelsack.
Bohem 2023.
56 S.

Julie Morstad: Zeit ist eine Blume

Es gibt eine Zeit … heißt es schon in Kohelet 3. Zeit für ganz viele Dinge im Leben. Zugleich ist Zeit aber auch jener Faktor, der alles bestimmt: Es braucht sie, um zu messen, zu wachsen, zu werden. Damit wird auf Vergangenes verwiesen und in die Zukunft gedeutet: Schwere Zeiten liegen hinter uns und eine aufregende Zeit liegt vor uns. Und alles was dazwischenliegt. Der Moment, der gerade da und auch schon wieder vergangen ist, nennt sich also Zeit.

Zeit ist das TICK TICK TACK
und das KLACK
und das KUCKUCK

Zeit, das sind Ziffern,
sind Zahlen
und Worte im Wandkalender

heißt es zu Beginn von Julie Morstads Bilderbuch, dass Zeit in all ihren Farben und Formen ins Zentrum rückt. Die Wanduhr, der Uhrzeiger, der Kuckuck werden als innere Bilder aufgerufen, die für so manche der Innbegriff von Zeit sind. Bald darauf wird mit diesen konkreten Bildern aber gebrochen:

Zeit ist ein Samen.
Schlafend
und wartend
in der Dunkelheit.

Weiße Schrift auf schwarzem Untergrund eröffnet Raum für eigene Interpretationen und Denkansätze: Wer ist der Samen? Wo will er hin? Was ist der Nährboden, in dem er schlummert? Erst mit dem Umblättern wird gezeigt, dass sich (zumindest hier) eine Blume oder ein Baum daraus entwickelt, was keineswegs die eigenen Leseassoziationen beschneidet. Vielmehr gelingt es der Kanadierin mit wenig, teils gereimtem Text unterschiedliche (Handlungs-)Räume zu eröffnen, in denen Zeit auf die eine oder andere Weise von Bedeutung ist. Sei es das Spinnennetz, das gesponnen werden muss oder der Schmetterling, der vor der Zeit eine Raupe war. Aber auch weniger konkret sichtbar werdende Transformationen finden Einzug.

Zeit ist eine Erinnerung.
vor Ewigkeiten festgehalten,
im Bruchteil einer Sekunde.

Sie kann rasen und schleichen, manchmal wie Tanz und im Gesicht mit sich ändernden Falten und Formen abzulesen sein. Ebenso vielfältig wie dargestellte Zeit ist auch das Figurenrepertoire, das sich durch die Seiten bewegt, sich immer wieder variiert. Waren es zu Beginn noch Blume und Baum, verknüpft Morstad im weiteren Verlauf die Zeit mit kindlichen Lebenswelten und -realitäten vom Kuchenbacken, spielen bis hin zum Urlaubsmoment am Meer, wodurch für (kindliche) Leser*innen Identifikationspotential geschaffen wird; in unterschiedlichen Szenen kann man sich selbst entdecken und Momente aufspüren, in denen man sich selbst vielleicht wiederfindet. Die Seitenarchitektur ist dabei recht unterschiedlich: mal große Flächen in der Signalfarbe pink mit feinen schwarzen Strichen, mal eine Doppelseite im Comicstil mit Panels und mal gänzlich geschwärzten Seiten, auf der beispielsweise nur ein Mädchen im pinken Pyjama platziert wird. Die Textblöcke, die wohldurchdacht im Bildraum platziert werden, fungieren als Impuls und bilden im Zusammenspiel mit den unterschiedlichen Gestaltungselementen eine gelungene Gesamtkomposition, die einlädt auf den Doppelseiten zu verweilen.

Durch die zahlreichen eingeschriebenen Metaphern eröffnet sich zudem eine philosophische wie theologische Dimension, die dazu einlädt, inne zu halten und einem Moment nachzuspüren. Bei all dieser Fülle verliert das Bilderbuch aber niemals seine Leichtigkeit, wechselt zwischen übertragenem Sinn und konkreter Benennung und ermöglicht in seiner Gesamtheit eine mehrfache Lesart, die zu einer Gedankenreise gleichermaßen einlädt, wie zum Sinnieren, was denn Zeit für einen ganz persönlich bedeuten kann. So wird der unfassbare Faktor Zeit ein Stück weit fassbar gemacht, Möglichkeiten eröffnet, um in Dialog zu treten und sich bewusst zu machen:

Es gibt eine Zeit, fürden Wackelzahn, für eine Geschichte – oder drei!, das Erinnern und Wachsen.

Alexandra Hofer

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