Religiösen Buch im Jänner 2023
Aus d. Engl. v. Britta Keil.
FISCHER Sauerländer 2022.
365 S.
C.G. Drews: The Boy Who Steals Houses. The Girl Who Steals His Heart ...
15 Jahre sollte ein Alter sein, in dem man sich ausprobiert, in dem man Grenzen auslotet, sich selbst kennenlernt. Nicht so Samy, der damit beschäftigt ist, einen Platz für sich und seinen Bruder in der Welt zu finden. Denn Samy und sein zwei Jahre älterer autistischer Bruder Avery sind aufgrund von familiären Verfehlungen obdachlos: Die Mutter spurlos verschwunden; der Vater mit einem immensen Aggressionsproblem; die Tante, bei der die Brüder vorübergehend untergekommen sind, hat Samy entnervt vor die Tür gesetzt.
In diesem Setting startet der neue Jugendroman von C. G. Drews, der personal erzählt auf den 15-jährigen Samy fokussiert, der Tag für Tag versucht, irgendwie zu überleben und dabei möglichst unsichtbar zu bleiben. Unsichtbar, wenn er Nacht für Nacht in fremde Häuser einsteigt, um darin zu übernachten, wenn niemand zu Hause ist. Unsichtbar, wenn er gemeinsam mit seinem Bruder versucht, Passant*innen auszurauben, um an das nötige Kleingeld für Essen und Kleidung zu gelangen. Und unsichtbar, als er eines Morgens in einem Haus aufwacht, das alles andere als leer ist. Unverhofft findet er sich an einem turbulenten Morgen inmitten einer Großfamilie wieder, in der er gar nicht unsichtbar werden muss. Denn wo viele Menschen unterwegs sind, ist es ein leichtes, unterzutauchen und so stiehlt er sich nicht nur das Haus für eine Nacht, sondern ebenso einen Morgen am Frühstückstisch inmitten jener Familie, die für Samy alles verkörpert, was er sich sehnlichst wünscht: Liebe, Wärme, Zusammenhalt und: einen gefüllten Frühstückstisch.
Dinge, die er im Verlauf des Textes auch selbst ein Stück weit erfahren darf: Er lernt in der Familie die gleichaltrige Moxie kennen. Ein Mädchen, das ihn fasziniert, zu der er sich hingezogen fühlt. Vorsichtig entspinnt sich zwischen den beiden Jugendlichen eine Freundschaft, später Beziehung, die stets vom Familienleben der beiden Figuren begleitet wird und immer von der Vergangenheit eingeholt zu werden droht. Anhand dieser Beziehung wird herausgearbeitet, dass nicht immer alles so sein muss, wie es auf den ersten Blick scheint. Denn auch Moxies Familie ist nicht intakt. Die Mutter verstorben, übernimmt sie selbst mehr unfreiwillig diese Rolle für die jüngeren Geschwister. Eine Rolle, mit der sie ebenso überfordert ist wie Samy, der sich für seinen großen Bruder verantwortlich fühlt. So stehen zwei jugendliche Figuren nebeneinander und einander gegenüber, die jede*r für sich ihren Platz finden müssen. Teils helfen sie einander dabei, teils fühlt sich Samy auf sich selbst zurückgeworfen, wenn seine Gedanken immer wieder um seinen Bruder kreisen, der mitunter an die falschen Freund*innen gerät und durchaus dubiose Geschäfte betreibt. Dieserart stellt sich die Frage nach Familie und Zusammenhalt aus zweifacher Sicht, was dem Roman in seiner Grundstimmung einen besonderen Reiz verleiht. Denn auch wenn auf Samy fokussiert wird, zeichnet Drews ein Gesamtbild, in dem die unterschiedlichsten (ethischen) Fragen verhandelt werden: Fragen nach Obdachlosigkeit, Jugendarmut und Mittellosigkeit. Fragen der Inklusion, nach dysfunktionalen Familiengefügen und von familiärer Gewalt und Wegen, um dieser zu entkommen. Aber auch die große Frage nach moralischen Entscheidungen in prekären Situationen schwingt mit: Wann ist es in Ordnung zu lügen, zu stehlen, zu betrügen, um damit das eigene Überleben zu sichern?
Ein Roman, der eine etwas andere jugendliche Lebensrealität in den Blick nimmt. Eine Realität, die von Gewalt und Wut dominiert wird. Gewalt, die man zurückgelassen glaubt und Wut, die in einem selbst weiterbrodelt. Immer mit der Gefahr, dass sie die Überhand gewinnt. Denn Samy hat selbst mit einem Aggressionsproblem zu kämpfen, das für die Lesenden in Rückblenden allmählich aufgedröselt wird. Und auch wenn Samy vor seiner eigenen Vergangenheit nicht davonlaufen kann, so gelingt es C. G. Drews eine jugendliche Figur zu zeichnen, die es ein Stück weit schafft, nicht mehr unsichtbar zu sein. Die Leser*innen werden mit der Schwere der angeschnittenen Themen aber nicht zurückgelassen: Ohne den Zeigefinger zu erheben und zu moralisieren, gelingt es, verschiedene Lebensrealitäten aufzuzeigen, mit denen sich Kinder und Jugendliche konfrontiert sehen – und wie es mit oder trotz dieser Gegebenheiten gelingen kann, über sich selbst hinauszuwachsen und Vertrauen (wieder) zu lernen.
Alexandra Hofer
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